Sahra Wagenknecht kritisiert in ihrem Buch »Die Selbstgerechten« die Linke. Doch ihr »Gegenprogramm« ist rückwärtsgewandt. Es ist der endgültig Abschied vom Marxismus. Von Yaak Pabst
Wäre es möglich, dass es homosexuelle Arbeiter gibt, die gegen Abschiebungen sind? Könnte es sein, dass es Arbeiterinnen mit Migrationsgeschichte gibt, die geschlechtergerechte Sprache benutzen? Wäre es denkbar, dass es transsexuelle Hartz-IV-Betroffene gibt, denen Klimaschutz wichtig ist? Und wäre es überhaupt denkbar, dass Arbeiterinnen und Arbeiter, unabhängig davon, welchen Pass, welche sexuelle Orientierung oder welche Hautfarbe sie haben, die Unterdrückung von sich und ihresgleichen erkennen, solidarisch zusammenstehen und gemeinsam kämpfen?
Skurrile Minderheiten vs. Arbeiterklasse
In den Ausführungen der LINKEN-Politikerin Sahra Wagenknecht gibt es das alles nicht oder höchstens als Randphänomen in der Arbeiterklasse – »skurrile Minderheiten« nennt sie sie. Für Sahra Wagenknecht existieren Arbeiterinnen und Arbeiter nur in der eindimensionalen Fiktion eines Werbefilms aus den 1950er Jahren: hängengeblieben in der Truman Show. Ein Reihenhaus, zwei Kinder, einmal im Jahr Urlaub, Fußballverein und Kegelclub, sonntags in der Kirche singen, danach den guten Bohnenkaffee mit Omas Kirschkuchen und dazu einen guten Tarifvertrag – dann ist der Lebenstraum erfüllt, dafür wählen wir brav die Sozen oder auch Wagenknecht. Klassenbewusstsein und Klassenkampf!? Zerstört den Frieden am Abendbrottisch. Nur was für Lifestyle-Linke-Looser.
Ist Wagenknecht eine Rassistin?
Um es vorneweg zu sagen: Ich halte Sahra Wagenknecht weder für eine Rassistin, noch für dumm, wie einige Linke es ihr vorwerfen. Sie ist aber keine konsequente Internationalistin und macht seit Jahren Zugeständnisse an rassistische Positionen – auch mal wieder in ihrem neuen Buch. Damit öffnet sie dem Rassismus eine Tür in die Linke. Und das ist tragisch und gefährlich. Linke die sie als Rassistin bezeichnen liegen aber falsch. Wagenknechts Linie entspringt keinem rassistischen Weltbild, sondern sie teilt konservative Theorien über die Entstehung von Rassismus. Das ist ein Unterschied.
National-sozialdemokratisch statt internationalistisch
Sie sieht als eine Ursache von Rassismus eine zu große Zahl von »Einwanderern« und angeblich begrenzte Kapazitäten des Sozialstaates. Rassismus entsteht aus ihrer Sicht als ein Reflex auf zu knappe soziale Ressourcen in Verbindung mit Armut und zu viel Einwanderung. In diesem Sinne ist Wagenknechts Blick auf die Welt borniert national-sozialdemokratisch. Das ist nicht neu.
»Arbeiterprotektionismus«
Wagenknecht knüpft bei den Themen Migration, Zuwanderung und offene Grenzen an die Position rechter Sozialdemokraten vor 1914 an. Damals haben sich bekannte Sozialistinnen und Sozialisten wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, August Bebel, Jean Jaurès oder Wladimir Iljitsch Lenin gegen ähnliche Argumente des »Arbeiterprotektionismus«, wie sie Wagenknecht heute hervorbringt, erfolgreich entgegengestellt.
Das Buch: »Die Selbstgerechten«
In ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten« will Sahra Wagenknecht die Identitätspolitik kritisieren und für eine Linke werben, welche die Interessen der Unterprivilegierten gegen die Raffgier der oberen Zehntausend verteidigt. Sie meint damit: Die Linke brauche einen Klassenstandpunkt.
Sahra Wagenknecht und die »kleinen Leute«
Allerdings hat sie eine sehr spezielle Vorstellung davon: »Die linken Parteien verlieren mehr und mehr aus den Augen, für wen sie eigentlich da sein müssen. Wir sind keine Interessenvertretung gutsituierter Großstadt-Akademiker, sondern müssen uns vor allem für die einsetzen, die sonst keine Stimme haben: die in schlecht bezahlten Service-Jobs arbeiten, oder auch für die klassische Mittelschicht, etwa Handwerker und Facharbeiter, die oft keinen akademischen Abschluss haben.«
Hier deutet sich schon an, dass der wagenknecht’sche Duktus über die »kleinen Leute«, die »einfachen Menschen« und die »hart Arbeitenden« kein Klassenstandpunkt im Sinne jener Universalität ist, die Marx und viele andere nach ihm der Arbeiterklasse zuschrieben.
Die Arbeiterklasse wird in Wagenknechts Weltsicht niemals zur Trägerin einer allumfassenden menschlichen Emanzipation
Bei Wagenknecht existiert das revolutionären Subjekt nur als Objekt ihrer Fantasie eines braven Wahlvolkes, dass durch Fleiß und Disziplin nach Wohlstand strebt und durch die allwissende Führung einer Person oder Partei vor allem darin bestärkt werden müsse. Die Linke aber bearbeite andere, für die Lohnabhängigen vermeintlich völlig uninteressante Politikfelder wie Klimaschutz, Frauenrechte oder Rassismus und verliere deshalb. Die Arbeiterklasse wird in Wagenknechts Weltsicht niemals zur Trägerin einer allumfassenden menschlichen Emanzipation.
Polemik gegen Bewegungen
Zudem verbindet sie diese recht dröge und eintönige Sicht auf die Lohnabhängigen mit einer scharfen Polemik gegen Bewegungen wie »unteilbar«, »Fridays for Futures« oder »Seebrücke«. So weit, so schlecht. Wagenknechts neues Buch »Die Selbstgerechten« ist als Gegenprogramm zu der angeblichen Lifestyle-Linken und ihrem beklagten Fokus auf Identitätspolitik gemeint.
Identitätspolitik a la Sahra Wagenknecht
Wagenknecht kommt aber selbst nicht heraus aus dem eng geschnürten sozialdemokratischen Korsett einer sozialstaatlichen, nationalen Form von Identitätspolitik. Sie schreibt: »Die meisten Menschen lieben ihre Heimat und identifizieren sich mit ihrem Land und wollen dafür auch nicht angefeindet oder moralisch abgewertet werden.« (Ja, wer will das schon!) Aber es geht weiter mit: »Jede Gemeinschaft – auch jede moderne Solidargemeinschaft – beruht darauf, zwischen denen, die dazu gehören, und jenen, für die das nicht gilt, zu unterscheiden. Denn Gemeinschaften sind Schutzräume, die ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, wenn sie für jeden geöffnet werden.« Und dann über mittelständische Weltmarktführer: »Die Hidden Champions sind eine wichtige Säule unserer Volkswirtschaft, sie sind innovativer als viele börsennotierte Konzerne und bieten gut bezahlte Arbeitsplätze.« Zusammengefasst in der Logik von Wagenknecht: Die Grenzen verlaufen durchaus zwischen den Völkern und nur ein bisschen zwischen Oben und Unten.
Wo Wagenknechts Klassenstandpunkt endet
Und sie verlaufen noch weniger zwischen Oben und Unten, wenn eine linke Regierung alle Großkonzerne in Hidden Champions verwandelt, die mit guten Tarifverträgen die Arbeiterinnen und Arbeiter fair behandeln. Dann entstünde eine dynamische, innovative Ökonomie, in der »harte Arbeit« und »Leistung« wieder belohnt wird, in der sozialer Ausgleich wieder möglich ist, die Finanzmärkte und Digitalwirtschaft reguliert und die entfesselten Marktkräfte durch eine auf den starken Mittelstand ausgerichtete Industriepolitik im Zaum gehalten werden. Dann könne die Linke auch wieder stolz sein auf das Land. Denn ein solches Projekt braucht ja bekanntlich ein »Wir-Gefühl«. Die Landesgrenzen werden hochgezogen und schützen dieses Biotop vor dem Überfall dunkler ausländischer Mächte. Erschreckend: Wagenknechts Klassenstandpunkt endet am Betriebstor von Herrenknecht (Die Maschinenbaufirma Herrenknecht mit 5000 Beschäftigten gilt als Vorzeigeunternehmen des »innovativen Mittelstands«, Anm. d. Red.) .
Mythos »Familienunternehmen«
Doch auch bei dem Hidden Champion Herrenknecht aus Baden-Württemberg bleibt der Klassenkampf nicht aus. Der Weltmarktführer für überdimensionale Bohrmaschinen hat Leiharbeiter und seit Jahrzehnten nur einen Haustarifvertrag mit niedrigeren Löhnen für die Beschäftigten. Kein Einzelfall unter den »Familienunternehmen« – es ist ein Mythos, dass die Kälte und Menschenfeindlichkeit der Gewinnmaximierung nur börsennotierten Konzernen vorbehalten ist.
Hart an der Grenze von Fake News
Doch davon lässt sich Sahra Wagenknecht nicht beirren. Ihr Buch bleibt extrem unkritisch gegenüber den »mittelständischen« Unternehmer:innen und scharf im Ton gegen jede Verbindung von Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Immer hart an der Grenze von Fake News, wenn es um Bewegungen wie »Unteilbar«, »Seebrücke« oder »Fridays for Future« geht. Wagenknecht bezeichnete sich früher einmal als Marxistin. Davon hat sie sich seit Jahren weit entfernt.
Marxismus, Ausbeutung und Unterdrückung
Welche Position haben internationalistische Marxistinnen und Marxisten zu den Fragen, die Sahra Wagenknecht anschneidet? Der klassische Marxismus kennt keine Trennung oder Wertung oder Hierarchisierung von Kämpfen gegen Unterdrückung (Rassismus, Sexismus, Homophobie usw.) und Kämpfen gegen Ausbeutung (Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen, sozialstaatliche Regelungen). Die Begriffe »Haupt- und Nebenwidersprüche« stammen aus Maos Aufsatz »Über den Widerspruch«. Manche Linke leiteten daraus ab, es sei sehr marxistisch, von einem »Hauptwiderspruch« zwischen Kapital und Arbeit sowie anderen »Nebenwidersprüchen«, (die »anderen« weniger »grundlegenden« Themen) wie Rassismus, Umweltverschmutzung oder sexuelle Unterdrückung zu sprechen.
Klischee des »Haupt- und Nebenwiderspruchs«
Dieses Klischee des »Haupt- und Nebenwiderspruchs« überlebte in unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, und teilweise knüpft Wagenknechts Buch an diese unselige Tradition an.
Solche Positionen haben aber mit dem klassischen Marxismus gar nichts zu tun: Weder bei Marx und Engels, noch bei Lenin, Liebknecht, Luxemburg, Gramsci oder anderen Marxist:innen findet sich diese Denkweise. Sie ist dem auf Selbstbefreiung setzenden Marxismus fremd; er steht für das Gegenteil: Die »Philosophie der Praxis« (Gramsci) geht davon aus, dass die ökonomische Ausbeutung immer mit verschiedenen Formen von Unterdrückung einhergeht. Nur so kann das System aufrechterhalten werden.
Selbstbefreiung statt Spaltung
Wer die Ausbeutung beseitigen möchte, muss konsequent alle Formen der Unterdrückung bekämpfen. Wer Unterdrückung beenden will, muss die Ausbeutung abschaffen. »Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird«, schreibt Karl Marx im Kapital. Das Werk von Marx und Engels ist ausgerichtet auf die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse, auf die »Leitlinie«: »Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.
Marxismus und Nationalismus
Was könnte diese Haltung für die politische Praxis von Linken heute bedeuten? Hat sich Wagenknecht hier irgendetwas abgeschaut? Leider nein. Für Marxistinnen und Marxisten kann es keine Zugeständnisse an den Nationalismus geben: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«, heißt es im Manifest der kommunistischen Partei, und »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«. Dort steht nicht, die Arbeiterinnen und Arbeiter haben schon ein bisschen ein Vaterland, wie Wagenknecht es gerne hätte.
Wir stehen auf den Schultern von Riesen
Linke sollten also entschieden gegen rassistische, nationalistische, religiöse, sexuelle oder sonst wie begründete Unterdrückung von Menschen kämpfen. Deswegen waren Marx und Engels für die Abschaffung der Sklaverei und verurteilten den Rassismus der Engländer gegenüber den Iren, deswegen traten Bebel und die frühe Sozialdemokratie für Frauenrechte und gegen die Unterdrückung der Katholiken ein und deswegen stellten sich Lenin und die Bolschewiki schützend sowohl vor Jüdinnen und Juden als auch Musliminnen und Muslime, die durch die Zarenherrschaft und den russischen Imperialismus unterdrückt und ausgegrenzt wurden.
Kämpfe gegen Ausbeutung und Kämpfe gegen Unterdrückung
Wir stehen auf den Schultern von Riesen. Die Linke hat Erfahrung, wie sich Kämpfe gegen Ausbeutung und Kämpfe gegen Unterdrückung gegenseitig befeuert haben, wie sich aus den verschiedenen Protesten Erfolge aber auch Niederlagen entwickelten. Wer nicht daraus lernen will – oder im Gegenteil, diese Kämpfe gar nicht als Bezugspunkt für linke Politik versteht – bleibt der dogmatischen Vorstellung einer Partei verhaftet, welche via kernige Führungsfigur, stellvertretend für die Massen, dieselben vor den Bedrohungen durch den Kapitalismus schützen möchte. Dass am Ende dieses Politikansatzes immer der Verrat genau jener Klasse stand, welcher die größten Versprechungen gemacht wurden, ist eine Geschichte, die Wagenknecht konsequent ausblendet.
Die Blase von Sahra Wagenknecht
Wagenknechts Welt ist eine Blase. Es ist eine Welt ohne Kämpfe. Im Buch selbst fehlen konkrete Beweise für ihre bissigen Angriffe, wie bei dem angeblichen Skandal der Umbenennung des Knorr-Klassikers »Zigeunersauce« in »Paprikasauce Ungarische Art« oder ihrer groben Grenzziehung zwischen Menschen mit Hochschulabschluss und solchen mit betrieblicher Ausbildung. Was Wagenknecht nicht akzeptieren kann, ist, dass die soziale Frage alles durchdringt. Sie auf »Armut« oder »Lohnfragen« zu reduzieren, wie Wagenknecht es tut, geht an der Realität vorbei.
Der Klimawandel trifft Arme überproportional stark, genauso wie Corona oder die Wirtschaftskrise. Ein relevanter Teil der Arbeiterklasse ist von Rassismus betroffen und nicht alle Angestellten sind heterosexuell. Ebenso sind auch Hartz-IV-Betroffene für Klimaschutz und verteidigen die Rechte von Trans-Menschen, auch VW-Arbeiter sind gegen Abschiebung und Polizeigewalt. Eine moderne sozialistische Partei muss denjenigen eine Stimme geben, die im parlamentarischen Raum und in den Medien nicht zu Wort kommen.
Das Aussortieren der »Stimmlosen«
Das sagt auch Sahra Wagenknecht. Nur sortiert sie diejenigen »Stimmlosen« aus, die nicht in ihr rückwärtsgewandtes Weltbild passen. Zum Glück haben all jene sehr wohl eine eigene Stimme und wehren sich. Denn es ist ganz klar: Der Kampf gegen Ausbeutung und der Kampf gegen Unterdrückung gehören zusammen. Eine Linke ist links, wenn sie konsequent die Interessen derjenigen vertritt, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um überleben zu können. Ob Jugendlicher ohne Ausbildung aus Ostdeutschland, ob die zwischen Praktika und Kurzzeit-Projekten hechelnde Akademikerin mit Migrationsgeschichte, ob Pflegekraft oder Leiharbeiterin am Fließband von BMW, Erwerbslose in der westdeutschen Provinz oder Geflüchteter, der um sein Bleiberecht kämpft – wenn ihre Kämpfe und ihre Interessen das Zentrum linker Politik darstellen, kann die Linke gewinnen.
Für immer Truman Show?
In der Linken, groß und klein geschrieben, verlieren Strömungen an Einfluss, die dies nicht erkennen. Sie sprechen die Lebensrealität vieler nicht mehr an, weil sie Gefangene ihrer eigenen Vorstellungswelt sind – für immer Truman Show, Frau Wagenknecht. Oder um es mit den Worten des amerikanischen Marxisten Hal Draper zu sagen: »Dieser Kampf von unten wurde noch nie durch die Theorien von oben aufgehalten und er hat immer wieder die Welt verändert. Irgendeine Form des Sozialismus von oben zu wählen heißt, auf die alte Welt, auf die »alte Scheiße« zurückzuschauen. Den Weg des Sozialismus von unten zu wählen heißt, den Beginn einer neuen Welt zu bejahen.«
Bild: Martin Heinlein / flickr.com / CC BY
Schlagwörter: Bücher, DIE LINKE, Marxismus, Sahra Wagenknecht, Unterdrückung