Vor 17 Jahren erschoss die italienische Polizei Carlo Giuliani. Ein Graphic Novel rekonstruiert die Geschehnisse aus Sicht des Demonstranten und beschreibt, wie der Staat versuchte, seine Verantwortung zu vertuschen. Von Lisa Hofmann
Genua im Juli 2001. Die Clique der mächtigsten Regierungschefs der Welt, die G8, tagt in der italienischen Hafenstadt. Seit Tagen herrscht der Ausnahmezustand. Die Staats- und Regierungschefs werden mit einem riesigen Polizeiaufgebot geschützt. Überall in der Stadt wurden Straßen mit meterhohen Zäunen und Panzersperren blockiert. Selbst die Kanaldeckel in der Innenstadt wurden verschweißt. Während des Treffens der G8 veranstaltet die gerade entstehende globalisierungskritische Bewegung durchgehend riesige Demonstrationen. Aus ganz Europa sind junge Menschen nach Genua gereist, um ihre Wut über die herrschenden Verhältnisse und die wachsende globale Ungerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Der Tod von Carlo
Die Polizei reagiert auf diesen Protest mit massiver Gewalt. Am Nachmittag des 20. Juli, es ist der dritte Tag der gewalttätigen Auseinandersetzungen, findet in der Via Tolomaide eine Straßenschlacht zwischen Polizei und Demonstrierenden statt. Die Polizisten beginnen, Tränengasgranaten in die Menschenmenge zu schießen, die Demonstrierenden vermummen sich und errichten eine Barrikade aus Altglascontainern. Die Polizei unternimmt den Versuch, die Demonstrierenden nicht nur frontal sondern auch seitlich zu attackieren. Dies gelingt nur bedingt. Daraufhin ziehen sich sowohl die Demonstrierenden als auch die Polizei zurück. Doch auf einmal werden aus einem Polizeiauto zwei Schüsse abgefeuert. Und der 21-jährige Familienvater Carlo Giuliani liegt mit zwei Kopfschüssen auf dem Asphalt der Piazza Gaetano Alimonda.
In »Carlo Vive – G8, Genua 2001« versuchen die Autoren Francesco Barilli und Manuel de Carli mit den Mitteln des Graphic Novel zu rekonstruieren, wie es zum Tod von Carlo Giuliani kommen konnte, was am späten Nachmittag des 20. Juli 2001 passiert ist – und warum der italienische Staat und die Polizei bis heute nicht für diese Tat verantwortlich gemacht wurden. Gleichzeitig ist es das Ziel der Autoren, Carlo Giuliani als Person und handelndes Subjekt und nicht nur als eine Chiffre für maßlose Polizeigewalt darzustellen.
Versuch einer Rekonstruktion
Der Graphic Novel beginnt und endet mit einem Gedicht von Carlo Giuliani. Seine Geschichte und die Ereignisse, die zu seinem Tod führten, werden abwechselnd von seiner Schwester Elena und seinen Eltern, Haidi und Giuliano, erzählt und bewertet. Als Symbole der engen Verbindung zu Carlo wurden sie mit jeweils einem Gegenstand gezeichnet, den Carlo bei sich trug, als er starb. Elena trägt zu Beginn des zweiten Kapitels eine Sturmhaube. Seine Mutter hält den Feuerlöscher in der Hand, mit dem er angeblich einen Polizisten erschlagen wollte. Und sein Vater hat die Rolle Klebeband dabei, die er um seinen Oberarm trug.
Der Graphic Novel rekonstruiert in Schwarz-Weiß-Sequenzen das Leben und den Tod Carlos und den Versuch seiner Familie, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Sowie die Versuche des Staats und der Medien, die Tat zu vertuschen beziehungsweise sie den Demonstranten in die Schuhe zu schieben. Die einzelnen Sequenzen wirken dabei wie Szenen aus einem Film. Dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass manche Sequenzen aus dem vorhandenen Bild- und Videomaterial der Presse und aus den Prozessakten abgezeichnet wurden. Mit dem Wissen, dass es sich um reale Szenen handelt, wirkt die dargestellte rohe Brutalität der Polizei oftmals verstörend. Allen, die das verkraften, kann ich »Carlo Vive« aber empfehlen. Die Autoren hatten das Ziel, eine lebendige Erinnerung an den Menschen Carlo Giuliani zu schaffen. Das ist ihnen sehr gut gelungen.
Buch: Francesco Barilli und Manuel de Carli: Carlo Vive – G8, Genua 2001
114 Seiten | 2016 | EUR 16,00
Foto: old_olsen
Schlagwörter: Autonome, Autonome Bewegung, Bücher, Comic, Gegenprotest, Gipfelprotest, Graphic Novel, Kultur, Polizei, Polizeigewalt