Vor 20 Jahren öffnete das US-amerikanische Folterlager Guantanamo Bay. Einer der Insassen war der Bremer Murat Kurnaz, der dort bis 2006 unschuldig und mit Wissen des deutschen Staates eingesperrt wurde. Wir reden mit dem jahrzehntelangen Friedensaktivisten Norman Paech über den Fall Kurnaz, Guantanamo und den sogenannten »Krieg gegen den Terror«
Norman Paech ist emeritierter Professor für öffentliches Recht (Verfassungs- und Völkerrecht). Er ist Friedensaktivist und aktiv in der LINKEN, für die er von 2005 bis 2009 Mitglied des Bundestags war. Dort vertrat er die Linksfraktion als außenpolitischer Sprecher unter anderem im BND-Untersuchungsausschuss, der sich auch mit dem Fall Murat Kurnaz und Guantanamo befasste.
Über viele Jahre hielten die USA den Bremer Murat Kurnaz in ihrem Gefangenenlager in der Guantanamo Bay Naval Base gefangen.Bereits 2002 gab es die Möglichkeit Kurnaz aus dem Folterlager rauszuholen. Der damalige Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung Frank-Walter Steinmeier lehnte die Freilassung von Kurnaz jedoch ab. Noch 2007 betonte Steinmeier »Ich würde mich heute nicht anders entscheiden.« Was war damals im Fall Kurnaz die Rolle Frank-Walter Steinmeiers?
Steinmeier war zweifellos eine zentrale Person in diesem erschreckenden Schauspiel des Zerfalls rechtsstaatlichen Denkens und rechtsstaatlicher Maßstäbe. Er war dabei bestimmt nicht der einzige Jurist, aber wir wissen aus der Geschichte, dass vor allem Juristen an dem Abbau rechtsstaatlicher Grundsätze beteiligt sein können.
Im sogenannten Krieg gegen den Terror wurden unzählige Afghan:innen und Iraker:innen getötet. Auch der Nato-Abzug aus Afghanistan im August 2021 verlief katastrophal, führte jedoch hierzulande nicht zu einer kritischen Debatte über die Nato als kriegerische Institution an sich. Wie denkst Du sollte der Diskurs zur Frage der Nato geführt werden?
Die Nato sollte aufgelöst und durch eine wirkliche Organisation kollektiver Sicherheit unter Einbeziehung Russlands ersetzt werden. Sie hat sich von einem ursprünglich konzipierten Verteidigungsbündnis im Kalten Krieg spätestens seit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes in ein aggressives Droh- und Kriegsinstrument entwickelt. Ihr erster offener Bruch mit dem Völkerrecht und der UNO im Krieg 1998/99 gegen Ex-Jugoslawien ist nie sanktioniert worden und hat der Aggressivität ihrer Politik freien Lauf gelassen.
Heute ist der Fall Kurnaz weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, doch das Folterlager Guantanamo ist noch immer nicht geschlossen. Was sind deine Forderungen bezüglich Guantanamo und der Aufarbeitung der deutschen Rolle hierin?
Die Fraktion der Linkspartei im Bundestag hat gerade den richtigen Antrag eingebracht, das Lager aufzulösen und die Gefangenen freizulassen. Sollte es weiterhin Anschuldigungen wegen schwerer Kriegsverbrechen geben, sollten die Beschuldigten vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt werden. Alle anderen müssten wegen ihrer unschuldig erlittenen Haft angemessen entschädigt werden. Diejenigen, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, müssen die Möglichkeit erhalten, in den USA Asyl zu bekommen. Die USA sollten ihren kolonialen Stützpunkt aufgeben und sich aus Guantanamo zurückziehen, wie es die kubanische Regierung seit der Revolution immer verlangt hat.
Eine Wiederaufnahme der Untersuchung des Verhaltens der deutschen Regierung im Fall Murat Kurnaz sollte man nur nach dessen Zustimmung erwägen.
Du warst 2005 bis 2009 für die Partei DIE LINKE im Bundestag. Was kam damals im Untersuchungsausschuss zum Fall Murat Kurnaz 2008 heraus?
Der Untersuchungsausschuss hatte seinerzeit vier Fälle der Verschleppung durch die Rendition-Flights – wobei der US-amerikanische Staat Zivilflugzeuge einsetzte, um sogenannte »Terrorverdächtige« zu verschleppen – zu prüfen. Bei allen vier Fällen, wie auch im Fall des Bremers Murat Kurnaz, wurde der Verfall rechtsstaatlicher Grundsätze besonders deutlich: So wurden Personendaten an Staaten übermittelt, deren Datenschutz vollkommen unzureichend ist. Verschleppte und Inhaftierte wurden vernommen, ohne sich vorher ausreichend über die Haftbedingungen zu informieren, um so von den Früchten der Folter zu profitieren.
Den Inhaftierten in ihrer menschenrechtswidrigen Haftsituation wurde nicht geholfen, obwohl diese bekannt war. Bei Murat Kurnaz weigerte man sich darüber hinaus offensichtlich, ihn aus dem Gefängnis in Guantanamo herauszuholen, in dem Bestreben, seine Rückkehr nach Deutschland zu verhindern.
War der Untersuchungsausschuss erfolgreich darin, das Agieren des Bundesnachrichtendienstes (BND) aufzuarbeiten?
Die parlamentarische Opposition aus FDP, Grünen und LINKEN hatte im Ausschuss praktisch allein gegen eine geschlossene Front von CDU/CSU und SPD mit den Geheimdiensten die Aufklärung voranzubringen. Das parlamentarische Modell von der Kontrolle der Exekutive, vor allem der Geheimdienste, durch die Legislative, welches im Parlament ohnehin nur unvollkommen funktioniert, war im Ausschuss praktisch außer Kraft gesetzt und durch eine besondere Art der Kollusion ersetzt.
Am 13. Februar 2022 soll Steinmeier wieder zum Bundespräsidenten gewählt werden. Was denkst Du dazu – besonders hinsichtlich des Falls Kurnaz als auch der 20 Jahre »Krieg gegen den Terror«?
Es gibt eine bessere Alternative, Gerhard Trabert, parteilos.
Der Einmarsch in Afghanistan war nicht der erste Angriffskrieg unter Beteiligung der Bundeswehr. Die rot–grüne Koalition hatte zuvor schon dem bereits erwähnten Krieg im Kosovo zugestimmt. Du warst damals SPD-Mitglied. Wie wurde die deutsche Kriegsbeteiligung in der SPD legitimiert?
1998 fiel die Entscheidung durch die Regierungskoalition aus SPD und Grünen, den alten Schwur »Nie wieder Krieg« Geschichte sein zu lassen und deutsche Truppen wieder in einen Angriffskrieg zu schicken – ausgerechnet auf den Balkan, auf dem die Wehrmacht schwerste Massenverbrechen verübt hatte. Es gab heftige Diskussionen, die durch offensichtliche Kriegslügen zur Rechtfertigung einer »humanitären Intervention« noch angeheizt wurden.
Die Hoffnung auf eine »Friedensdividende« durch den Untergang des »Ostblocks« und die Auflösung der alten Kalte-Kriegs-Konfrontation war damit dahin. Überlegungen, wegen dieses offenen Bruchs des Völkerrechts und des Rückfalls in die unselige militaristische Vergangenheit der SPD aus der Partei auszutreten, habe ich damals zurückgestellt in der Hoffnung, dass die Partei noch einmal zu dem Anti-Kriegs-Bekenntnis von Karl Liebknecht zurückfinden könnte.
Etwas später bist du dann doch aus der SPD ausgetreten. Wie kam es dazu?
Als 2003 herauskam, dass die Bundesregierung zwar nicht mit Militär, aber mit dem Geheimdienst in Bagdad den USA bei ihrem Überfall auf den Irak behilflich war, bin ich aus der Partei ausgetreten. Meine Austrittsbegründung an den damaligen Vorsitzenden der SPD in Hamburg, Olaf Scholz – meinen ehemaligen Studenten an der Universität Hamburg – blieb ohne Antwort.
Hat es dich damals überrascht, dass SPD und Grüne als regierende Parteien Kriegseinsätzen zustimmten?
Aus der Distanz von 20 Jahren muss man wohl eingestehen, dass es keine Überraschung war. 1998/1999 war es für mich eine Überraschung. Noch im August 1998 hatte zum Beispiel Ludger Vollmer vor einer Beteiligung Deutschlands an dem drohenden Überfall gewarnt und in Erinnerung an die deutsche Geschichte eine Zustimmung für seine Partei ausgeschlossen. Drei Monate später war er Staatssekretär im Auswärtigen Amt und stimmte dem Kriegseinsatz mit seinem Chef Fischer zu. Das zentrale Argument der SPD, abgesehen von den zahlreichen Lügen über die humanitäre Katastrophe, war die Bündnisverpflichtung in der Nato, aus der man sich nicht lösen wollte.
Die unbedingte Westorientierung der Regierung Schröder hatte sich schon lange von der klugen Gleichgewichtsstrategie von Bahr und Brandt gelöst. Der Untergang der Sowjetunion hat das Dominanzgefühl des Westens auch in der erweiterten Bundesrepublik gestärkt. Man glaubte sogar, die Uno umgehen und das Völkerrecht verletzen zu können, wie Schröder 2014 bei Phönix offen eingestand.
Wie hast du Anfang der 2000er die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit bezüglich Guantanamo, dem imperialistischen Nato-Krieg in Afghanistan und der darauffolgenden Invasion des Irak wahrgenommen?
Diese Auseinandersetzungen um den erneuten Eintritt Deutschlands in den Krieg und seine zunehmende Verstrickung darin, überschattete alles, was sich zwischenzeitlich in der alten Kolonie der USA, Guantanamo, ereignete. Mit meinem Einzug in den Bundestag 2005, noch als parteiloser Abgeordneter auf der Hamburger Liste der Linkspartei, war allerdings mein erster Antrag im Parlament als außenpolitischer Sprecher, die Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo und die Befreiung der Gefangenen von den USA zu fordern.
Für diesen Antrag hatte ich mir die Unterstützung von Lothar Bisky gesichert, der den Antrag mit einbrachte. Aber, mit den parlamentarischen Mechanismen als Neuling nicht so vertraut und von einer Sitzung zur anderen hetzend, baute ich zu sehr auf die Selbstläufigkeit parlamentarischer Prozesse. Der Antrag hat nie das Licht einer parlamentarischen Debatte oder Abstimmung erblickt. Ich hoffe, dass der jetzige Antrag der Linksfraktion zur Schließung von Guantanamo nicht das gleiche Schicksal erleidet.
Als Jurist, wie nimmst Du die Rechtfertigung der USA wahr, mit der sie die Folter von muslimischen Männern in Guantanamo zu legitimieren versucht?
Folter ist weder moralisch noch rechtlich legitimierbar, unabhängig davon, an wem sie vorgenommen wird. Folter ist ein Menschlichkeitsverbrechen und strafbar nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Wenn in Deutschland die Schließung von Guantanamo gefordert wird, heißt es immer wieder, die Bundesrepublik habe damit nichts zu tun. Wie siehst Du das?
Formal gesehen, stimmt das. Derzeit ist kein deutscher Staatsangehöriger in Guantanamo gefangen. Dennoch ist es nicht nur ein moralisches, sondern auch politisches Gebot, erst in den eigenen Reihen und bei den unmittelbaren Verbündeten dafür zu sorgen, dass die einfachsten menschenrechtlichen Gebote eingehalten werden, bevor man dies von anderen Staaten einfordert und sogar mit Sanktionen durchzusetzen versucht wird. Es ist wie mit Völkermorden. Bevor man nicht die eigenen Völkermorde eingestanden und gegenüber den überlebenden Opfern anerkannt hat, etwa gegenüber den Herero und Nama im heutigen Namibia, sollte man auch über die Völkermorde anderer Staaten schweigen. Ich sehe es durchaus als moralische und politische Verpflichtung der Bundesregierung an, gegenüber den USA nachdrücklich die Auflösung des Gefangenenlagers zu fordern.
Der gegenwärtige Menschenrechtsdiskurs ist voller Doppeldeutigkeiten, Scheinheiligkeiten und Instrumentalisierungen. Wer China und Russland wegen ständiger Menschenrechtsverletzungen anklagt, sollte dafür sorgen, dass im eigenen Wertekosmos, ob Guantanamo oder Palästina, die Menschenrechte garantiert werden.
Welche Bilanz ziehst Du nach über 20 Jahren des »Kriegs gegen den Terror«?
Mit dem Untergang der Blockkonfrontation durch die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes entfiel auch die Legitimation für die Nato. An die Stelle der sogenannten »kommunistischen Bedrohung« kam jedoch mit dem Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Er wurde zum »Rettungsanker« der Nato, die noch während des Krieges gegen Jugoslawien durch gemeinsamen Beschluss von einem Verteidigungs- in ein Interventionsbündnis verwandelt wurde. Die Klage der Linksfraktion gegen diese Veränderung wurde seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Damit hatte die Nato die Legitimation zu weiteren militärischen Interventionen – nunmehr ohne territoriale Begrenzung.
Aus den Erfahrungen der Kriege gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien wird dabei immer deutlicher, dass diese Kriege nicht nur die Menschen in den betroffenen Ländern zu Flüchtlingen machen, sondern auch dem Terrorismus immer neue Nahrung und neue personelle Ressourcen verschaffen. Dass Krieg keinen Frieden schafft, wird allmählich allgemein anerkannt, ist aber kein Argument gegenüber dem unstillbaren Hunger nach Ressourcen, Märkten und strategischen Optionen, für die man nach wie vor bereit ist, auch mit Waffen zu kämpfen.
Welche Rolle spielt antimuslimischer Rassismus darin?
Antimuslimischer Rassismus ist eine Form von Rassismus, die in beliebiger Form für die Zwecke der Intervention in »fremde Gesellschaften« eingesetzt wird. Derzeit werden zum Beispiel die muslimischen Uiguren gegen die Pekinger Regierung verteidigt. Bei den engen politischen Beziehungen zu Saudi-Arabien, Qatar und den Emiraten spielt der antimuslimische Rassismus hingegen keine Rolle. Auch der unbestreitbare Alltagsrassismus gegen die schwarze und Latino-Bevölkerung in den USA kann sich jederzeit in Interventionen in Mittel- und Lateinamerika sowie Afrika bemerkbar machen, wenn die ökonomischen und politischen Interessen eine Intervention aus Sicht der Herrschenden notwendig machen.
Mehr als 20 Millionen Afghan:innen befinden sich nun in Hungersnot nach dem Zusammenbruch des vom Westen aufgebauten Marionettenregimes. Denkst du der Westen hat etwas aus dem Desaster in Afghanistan gelernt?
Es wird noch etliche Zeit dauern, bis auch die Verantwortlichen das absolute Desaster, die zahllosen Kriegsverbrechen und die verheerenden Zerstörungen in der afghanischen Gesellschaft durch ihren Krieg eingestehen werden. Robert McNamara brauchte 20 Jahre und die Befreiung von allen Ämtern, bis er in seinem Buch »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« die Irrtümer und Verbrechen der USA in Vietnam eingestehen konnte. Henry Kissinger hat das bis heute nicht vermocht.
Was hältst du von den westlichen Sanktionen gegen die Taliban-Herrschaft?
Vordringlich ist zunächst die Abwendung der Hungerkatastrophe durch die bedingungslose Gewährung humanitärer Hilfe. Alle Sanktionen gegen die Taliban-Herrschaft treffen nur die arme Bevölkerung und müssen dringend aufgehoben werden. Nur so wird es gelingen, die Machthaber in Kabul zu einer Politik zu bewegen, die annähernd formalen Vorstellungen von Menschenrechten entsprechen. Jeder Rückfall in die unterschiedlichsten Formen ökonomischer oder politischer Gewalt wird die aktuell katastrophalen Lebensbedingungen nur weiter verschlechtern. Jedes Kriegsverbrechen ist nach internationalem Recht schadensersatzpflichtig.
Danke für das Gespräch.
Das Interview führte Helena Zohdi
Foto: Wikipedia
Schlagwörter: Guantanamo, Imperialismus, Krieg gegen Terror, US-Imperialismus