Die NATO-Staaten missbrauchten die Terroranschläge vom 11. September, um die Welt mit Krieg zu überziehen – mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Regierungen. Hans Krause über 20 Jahre Krieg gegen Terror
Die ganze Welt saß entsetzt vor den Bildschirmen, als Terroristen am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in New York, und eines in das US-amerikanische Verteidigungsministerium lenkten. Die vierte Maschine sollte wahrscheinlich das Weiße Haus treffen, stürzte aber vorher ab. Es war der tödlichste nichtstaatliche Terroranschlag weltweit und ein schreckliches Verbrechen. 2996 Menschen wurden ermordet und etwa 25.000 verletzt. In den folgenden Jahren starben mindestens 1400 Rettungskräfte an den Folgen der giftigen Wolke, die tagelang über dem Ort den Anschlags hing.
Noch heute wissen 93 Prozent aller US-Amerikaner:innen über 30 genau, wo sie an diesem Tag gewesen sind. Es war ein Schock. Die ganze Welt war entsetzt und in Trauer.
Bush missbraucht den Anschlag
Doch noch bevor der Rauch über der Ruine des World Trade Centers verzogen war und die Toten beerdigt werden konnten, wussten die NATO-Regierungen um die einmalige Propaganda-Chance für ihre Kriege. Nur ein Tag nach den Anschlägen am 12. September rief der NATO-Rat zum ersten mal in seiner Geschichte den Bündnisfall aus. Angeblich weil eine »feindliche Macht« Krieg gegen die USA führen würde, wurden alle NATO-Staaten zur deren Unterstützung verpflichtet.
Jede Terrorgruppe gestoppt und besiegt
Gerhard Schröder, Bundeskanzler der damals regierenden SPD-Grünen-Regierung, verkündete am selben Tag: »Es geht darum, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten steht und uneingeschränkte, ich betone das, uneingeschränkte Solidarität übt.«
Unbekannte Zahl von Orten
Entsetzen und Trauer die viele Menschen weltweit empfanden, wurden ausgenutzt, um einen Krieg zu entfesseln, der das Leben von Millionen von Menschen bedrohen sollte. Am 20. September 2001 sagte Präsident George Bush im US-amerikanischen Parlament: »Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al-Qaida, aber er endet nicht dort. Er wird erst enden, wenn jede Terrorgruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und besiegt worden ist.« Bush versprach den stehend applaudierenden Abgeordneten Krieg gegen eine unbekannte Zahl von Gegner:innen an einer unbekannten Zahl von Orten auf der ganzen Welt.
Damit konnte man alles rechtfertigen. Der Anschlag gaben der Bush-Regierung den Vorwand etwas zu tun, was seine neokonservativen Vordenker bereits vor seiner Wahl als strategische Leitlinie entwickelt hatten: In der Konkurrenz mit dem neuen Gegenspieler China die Energieressourcen des Nahen Ostens unter direkte eigene Kontrolle zu bringen. Dazu empfahl ein Strategiepapier von 1999 die »Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens«, das sogenannte »Projekt für ein neues Amerikanisches Jahrhundert«, geschrieben, unter anderem von Bushs späterem Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dem späteren Vizepräsident Dick Cheney.
Imperialismus im 21. Jahrhundert
Der sogenannte Krieg gegen den Terror ist Ausdruck des Imperialismus. Er war ein einseitiger und unbegrenzter Präventivkrieg und wurde zum bisher größten Massenmord des Jahrhunderts. Die angeblichen Feinde des Terrorismus in den Regierungssitzen der NATO brachten selbst nichts anderes als unendlichen Terror in die Welt. Statt Frieden und Stabilität haben die westlichen Staaten unter Führung der USA von 2001 bis heute in ihrem Streben nach Macht, Profit und globaler Vorherrschaft die Welt in Flammen gesetzt.
Neben der Besatzung von Afghanistan und dem Irak wurden zahlreiche Spezialeinheiten in muslimische Länder entsandt und ein Drohnenkrieg gegen die Bevölkerungen Pakistans, Jemens, Somalias und des Sudans geführt, dessen Opferzahlen geheim gehalten werden. Gleichzeitig war die Bekämpfung des Terrors auch ein Vorwand für andere imperialistische Staaten, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Frankreich versuchte in den vergangenen Jahren, seinen Einfluss in Afrika zurückzugewinnen. Russland nutzt den »Krieg gegen den Terror« als Argument im Feldzug in Tschetschenien und die chinesische Regierung gibt vor, einen »Krieg gegen den Terror« zu führen, wenn sie militärisch gegen Uiguren oder Tibeter vorgeht – genauso die indische Regierung in Kashmir oder die philippinische auf der Insel Mindanao. Aber der Lehrmeister dafür war die NATO unter Führung der USA, die ihren Anspruch verteidigt, überall auf der Welt mit Waffengewalt ihre Interessen durchzusetzen.
Krieg gegen den Terror udn die NATO
Nach den Anschlägen am 11. September war Afghanistan das erste Ziel. Bush verlangte von den damals in Afghanistan regierenden Taliban die Auslieferung Osama bin Ladens. Als die Taliban Beweise für dessen Schuld verlangten, griffen am 7. Oktober 2001 die USA und 40 verbündete Staaten Afghanistan mit einer Armee von 130.000 Soldat:innen an, stürzten die Taliban und besetzten das Land 20 Jahre bis August 2021. Auch die Merkel-Regierung hatte auf dem Höhepunkt 2011 etwa 5000 Soldat:innen der deutschen Armee im Krieg. Afghanistan war komplett unter den NATO-Staaten und Verbündeten aufgeteilt. Jede Armee besetzte eine bestimmte Region.
Vor allem sterben Zivilist:innen
In dieser Zeit kamen alle afghanischen Regierungen mit gefälschten Wahlen an die Macht. Sie waren vollständig vom Geld und den Armeen der NATO abhängig, ließen sich bestechen und stahlen dem Staat riesige Summen, während Millionen Afghan:innen nicht genug zu essen hatten. Mit am Schlimmsten war jedoch, dass der Krieg niemals aufhörte. Denn die Taliban bildeten nach ihrem Sturz eine Guerilla-Armee und begannen, den Widerstand gegen das Besatzungsregime zu organisieren. Die NATO regierte darauf mit Gewalt und ermordete wie in jedem Krieg vor allem unschuldige Zivilist:innen. Das »Costs of War Project«der Brown University aus Providence, schätzt, dass während der NATO-Besatzung in Afghanistan direkt durch Kampfhandlungen etwa 170.000 Menschen getötet wurden. Zählt man allerdings Todesursachen hinzu, die indirekt ebenfalls durch den Krieg entstehen, wie »Krankheit, Hunger, fehlender Zugang zu sauberem Wasser und Infrastruktur« errechnet das Projekt schon bis 2014 etwa 360.000 weitere Todesopfer.
Allein beim Luftangriff von Kundus 2009, als der deutsche Oberst Georg Klein Bombenabwürfe auf zwei von Taliban entführte Tanklastwagen befahl, ermordete die NATO-Armee etwa 140 Zivilisten. Klein wurde niemals bestraft, sondern 2013 zum Brigadegeneral befördert.
Krieg gegen den Terror: Auf Afghanistan folgte der Irak
Übertroffen wurden die Verbrechen der NATO in Afghanistan nur bei ihrem zweiten großen Krieg im Irak. Es gab niemals einen Beleg für die Beteiligung eines Irakers am Anschlag des 11. Septembers, noch an einer Verbindung zu al-Qaida. Dennoch machte die US-Regierung den irakischen Diktator Saddam Hussein schon 2001 dafür verantwortlich und schob später die Behauptung nach, er baue Massenvernichtungswaffen. Die Waffen wurden jedoch nie gefunden und sogar der damalige US-amerikanische Außenminister Colin Powell zeigte später sein »Bedauern« darüber, dass er im Februar 2003 bei einer Rede im UNO-Sicherheitsrat, zahlreiche falsche Informationen verbreitet habe. In Wirklichkeit hatte Rumsfeld schon 2001 mögliche Vorwände aufgeschrieben, um einen Krieg gegen Irak zu rechtfertigen. Möglich erschienen ihm: »Saddam richtet sich gegen Kurden im Norden«, »Die USA entdecken Saddams Verbindung zum Anschlag vom 11. September« und »Streit um Inspektionen von Massenvernichtungswaffen«.
Im März 2003 griffen erneut die Armeen der USA und verbündeter Regierungen mit 300.000 Soldaten den Irak an, stürzten Diktator Hussein und besetzten das Land. Die SPD-Grünen-Regierung schickte keine Kampfeinheiten, doch machten deutsche Soldaten Aufklärungsflüge und arbeiteten im angrenzenden Kuwait in Standorten der US-Armee, die den Krieg organisierten. Zudem gewährte Deutschland unbegrenzte Überflugsrechte. Dadurch wurde der Kriegsflughafen Ramstein in der Pfalz die wichtigste Drehscheibe der US-Armee für Militärflüge nach Irak.
In zehn Tagen tausende ermordet
Wie in Afghanistan organisierte die NATO im Irak gefälschte Wahlen, die korrupte Regierungen an die Macht brachten, welche die Menschen zu einem Leben in Armut zwangen. Und wie in Afghanistan hörte der Krieg niemals auf. Mit dem Einmarsch der NATO begannen militärischer Widerstand verschiedener Guerilla-Organisationen und Milizen.
Im Mai 2004 veröffentlichten Medien Bilder aus dem Gefängnis Abu Ghuraib im Irak, auf denen US-amerikanische Soldaten Gefangene auf grausamste Weise foltern und mit ihren Leichen posieren. Weltberühmt wurde das Foto von Abdou Hussain Saad Faleh, der mit einem schwarzen Sack über dem Kopf und schwarzem Umhang auf einer Kiste stehen musste. An beiden Händen und seinem Penis waren Kabel befestigt und ihm wurde gedroht, ihn mit Stromschlägen zu töten, sollte er von der Kiste steigen. Allein in der Schlacht von Falludscha im November 2004 ermordete die US-Armee innerhalb von zehn Tagen 4000 bis 6000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilist:innen.
Nachdem die US-Regierung 2011 den größten Teil ihrer Armee abgezogen hatte, kämpfte die irakische Armee weiter gegen Aufständische. Die Miliz »Islamischer Staat« besetzte vorübergehend große Teile Iraks und Syriens und ermordete in jeder eroberten Stadt hunderte Menschen, manchmal tausende. In Irak geht das »Costs of War Project« von etwa 300.000 direkten Kriegstoten aus und ebenso von einer deutlich höheren Zahl indirekter Opfer, möglicherweise über 1 Million.
USA, Deutschland und andere NATO-Regierungen missbrauchten den Anschlag vom 11. September für die bisher größten Massenmorde des 21. Jahrhunderts. Statt ihrer zu gedenken, benutzte die US-Regierung die Opfer des World Trade Center für ihre Kriegspropaganda. Wir alle sollten das Gefühl kriegen, dass 3000 Tote in den USA es rechtfertigen würden, hunderttausende im Nahen Osten umzubringen, Millionen schwer zu verwunden und dutzende Millionen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Zwar ist es richtig, dass in Afghanistan eine Minderheit unter der NATO-Herrschaft besser lebte als unter den Taliban. Doch allein die riesige Zahl an Kriegsopfern zeigt, dass die Geschichte von der »Befreiung Afghanistans« eine Lüge war.
Für die Menschen in den NATO-Staaten bedeutete der »Krieg gegen den Terror« allein in den USA 7000 im Krieg getötete Soldaten und 30.000 Veteranen, die danach Selbstmord begangen haben. Weiterhin umgerechnet 6,8 Billionen Euro für den Krieg verschwendete Steuergelder in den USA und 12 Milliarden in Deutschland.
Krieg gegen Terror und der Angriff auf die Bürgerrechte
Der ursprünglich für die unmittelbare Terrorbedrohung vorgesehene »Patriot Act« gilt in den USA größtenteils noch immer. Polizei und Geheimdienst dürfen Internet, Telefon und Bankkonten jedes Bürgers ohne Genehmigung eines Richters überwachen. Auch dürfen terrorverdächtige Ausländer ohne Prüfung und Anklage unbegrenzt ins Gefängnis gesperrt werden. Insgesamt 780 Menschen wurden dadurch im Lager Guantanamo für unbestimmte Zeit gefangen gehalten. Darunter auch der Bremer Murat Kurnaz ohne Anklage von 2002 bis 2006. Einige Gefangene wurden erst nach 15 Jahren Haft und Folter entlassen, ohne dass ihnen jemals offiziell erklärt wurde, warum sie gefangen genommen wurden. 39 Menschen sind noch immer dort, davon einige seit 19 Jahren.
Deckmantel Terrorismusbekämpfung in Deutschland
Auch in Deutschland findet unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung ein systematischer Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt. Der Menschenrechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz meint: »Schon die ersten sogenannten Anti-Terror-Pakete, die noch unter der rot-grünen Regierung verabschiedet wurden, lehnten nahezu alle Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen zu Recht als »Katastrophe« ab. Mittlerweile haben die verschiedenen Behörden ein bedrohliches Arsenal an Möglichkeiten.«
Auch in Deutschland geht die größte Bedrohung der Demokratie gegenwärtig nicht von äußeren »Feinden der Demokratie« oder »Islamisten« aus, sondern von dem umfassenden Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates, mit dem vorgegeben wird, die Demokratie gegen »Terroristen« schützen zu wollen.
Seit 19 Jahren im Krieg gegen Terror gefangen gehalten
Die Internationale Juristenkommission hatte bereits 2009 in einer dreijährigen Studie in vierzig Ländern den Effekt von »Antiterrormaßnahmen« untersucht. Ihre Bilanz war vernichtend: Es sei in vielen Teilen der Welt zu Folter, willkürlichen Inhaftierungen, unfairen Prozessen, langen Haftdauern ohne Prozess, ja zu einer »Militarisierung der Justiz« und zur Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen gekommen. Das beunruhigende Fazit des Berichts lautet: »Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind, sickern bereits in den Normalbetrieb des Staats und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Achtung von Menschenrechten.«
Kein Krieg gegen den Terror ohne Rassismus
Und noch eine weitere dramatische Langzeitfolge bleibt uns vom Missbrauch des Anschlags erhalten: Muslime als Feindbild in Europa und Nordamerika. Rassismus gab es schon lange davor. Doch seit dem 11. September 2001 verstärkten Politiker:innen, Medien und Autor:innen eine Diskussion über alle Muslime oder »den Islam«. Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe werden seitdem oft einheitlich als »Muslime« gelesen und rassistisch diskriminiert.
Islamfeindlichkeit geschürt
Obwohl der 11. September 2001 eine wahrscheinlich immerwährende Ausnahme blieb und über 90 Prozent aller Terroranschläge in der Dritten Welt ausgeführt werden, wurde seitdem wieder das mittelalterliche Märchen verbreitet, dass die rückständige islamische Welt, das angeblich so fortschrittliche Europa bekämpfen und erobern will. Aus »Ausländer raus« wurde Innenminister Seehofers: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland.«
Der weit verbreiteten Rassismus gegen Angehörige muslimischen Glaubens war die ideologische Rechtfertigung dafür, dass die NATO-Regierungen zwei Staaten militärisch angreifen, erobern und dauerhaft besetzen könnte, ohne dass die jeweiligen Regierungen auch nur die minimalste Aggression gegen die NATO begangen hatten. Denn auch den Taliban wurde niemals vorgeworfen, den Anschlag des 11. September selbst ausgeführt zu haben, sondern lediglich, dass al-Qaida sich in Afghanistan befinde.
»Nie wieder Krieg« heißt »Nie wieder NATO«
Wie nie zuvor hat die NATO seit dem Anschlag vom 11. September bewiesen, dass sie nicht für Frieden, Freiheit und Demokratie kämpft. In Wirklichkeit sollten zwei Länder militärisch besetzt werden, um von dort den gesamten Nahen Osten beherrschen zu können. Hätte die NATO in Afghanistan und Irak gewonnen, wäre voraussichtlich Iran ihr nächstes Kriegsziel gewesen. Dass es diese Pläne gab, schrieb George Bush in seinen eigenen Memoiren. (https://www.theguardian.com/world/2010/nov/08/george-bush-memoir-decision-points).
Die größten Terrorist:innen dieser Welt tragen keinen Turban
20 Jahre später erinnern Politiker:innen dieser Welt an die Opfer vom 11. September. Doch auch 20 Jahre nach den Anschlägen wird die Trauer für die Rechtfertigung des Krieges benutzt. Über die verheerenden Folgen wird kaum Gesprochen und ein Gedenken an die viel größere Zahl an Menschen, die danach vom US-amerikanischen, britischen und eben auch dem deutschen Imperialismus ermordet wurden, findet von den schuldigen Regierungen im Westen nicht statt. Wenn wir den Opfern des Terrors gedenken, sollten wir nie vergessen: »Nie wieder Krieg« heißt »Nie wieder NATO«. Und die größten Terrorist:innen dieser Welt tragen keinen Turban sondern Blazer und Krawatte.
Schlagwörter: Folter, Imperialismus, Krieg gegen Terror, NATO