Vor 10 Jahren bedeutete die Einführung von Hartz IV einen der größten Einschnitte in die soziale Sicherheit der Menschen. Heinz Bierbaum ist Parlamentarischer Geschäftsführer der saarländischen LINKE-Fraktion und Mitglied des LINKE-Vorstands. Er erinnert sich, warum die Gewerkschaften das nicht verhindern konnten und wie daraus WASG und LINKE entstanden.
Marx21.de: Heinz, wie haben die Gewerkschaften reagiert, als die SPD-Grüne-Regierung 2002 die Hartz-Gesetze vorgestellt hat?
Heinz Bierbaum: Die Gewerkschaften waren schockiert, natürlich dagegen, aber auch ziemlich rat- und hilflos.
Haben sie nicht erkannt, dass Hartz IV verhindert werden sollte?
Doch. Es gab ja 2004 auch in ganz Deutschland Demonstrationen gegen Hartz IV. Aber die Frage für Gewerkschaften war, was zu tun ist, wenn solche sozialen Kahlschläge von einer SPD-geführten Regierung gemacht werden. IG Metall und ver.di hatten ja sogar jeweils einen Vertreter in die „Hartz-Kommission“ entsenden dürfen, die aber nichts ausrichten konnten.
Warum haben die Gewerkschaften nicht mit voller Kraft gegen Hartz IV gekämpft?
Weil sie durch ihr enges Verhältnis zur SPD befangen waren. Diese Partei galt immer als parlamentarischer Arm der Gewerkschaften in der Politik. Und als dieser Arm nicht funktionierte, wusste fast niemand, was zu tun ist.
Im Jahr 2004 wurde die WASG und später die LINKE gegründet, um eine Alternative zur SPD aufzubauen.
Ja. Anfangs sind auch recht viele Gewerkschafter der LINKEN beigetreten. Aber dieser Strom ist abgeebbt, als die SPD wieder etwas menschlichere Töne von sich gegeben hat. Auch wenn sie kaum etwas getan hat, um die Hartz-Gesetze auch nur abzumildern.
Haben die Gewerkschaften ihr Verhältnis zur SPD verändert?
Nach den Hartz-Gesetzen war es zunächst abgekühlt. Aber spätestens als die SPD 2009 in die Opposition musste und etwas kritischer über Hartz IV redete, war die Freundschaft wieder hergestellt.
Läuft diese Freundschaft jetzt besser?
Nein. Denn wieder trauen sich die Gewerkschaften nicht, offensiv gegen unsoziale Politik der CDU-SPD-Regierung vorzugehen. Sie haben eine Chance vertan, sich neu aufzustellen als unabhängige Kraft, die Politik wirklich nur danach bewertet, ob sie für die Menschen gut oder schlecht ist und nicht danach, von wem sie beschlossen wurde.
Was vermisst du von den Gewerkschaften?
Zum Beispiel, sich an ihre Forderung nach höheren Steuern für Reiche zu erinnern. Denn das hat die Regierung schon im Koalitionsvertrag ausgeschlossen und da müsste viel mehr Kritik und Widerstand kommen.
Kann die LINKE daran etwas ändern?
Ja, durchaus. Wir können die gesellschaftliche Auseinandersetzung um diese Frage beflügeln, Diskussionen anregen und auch die kritischen Kräfte in den Gewerkschaften, die es ja gibt, unterstützen. Auch Verbesserungen sind möglich. So haben wir entscheidend dazu beigetragen, dass der Mindestlohn eingeführt wird, auch wenn er zu niedrig und zu löchrig ist.
Die LINKE ist eine Erfolgsgeschichte?
Nicht nur. Denn wir können vorerst nichts am grundsätzlichen Problem ändern, dass die Gewerkschaften immer weniger für ihre politischen Forderungen eintreten. Sie haben sich sehr stark auf die Betriebe zurückgezogen und sich zum Teil auch der betriebswirtschaftlichen Logik unterworfen.
Wieso das?
Weil nicht nur in der SPD, sondern auch in den Gewerkschaften und Betriebsräten Teile der marktliberalen Ideologie übernommen wurde. Bereits 1996 hat die IG Metall ein „Bündnis für Arbeit“ propagiert, in der Hoffnung, mit Lohnzurückhaltung Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist im Grunde eine neoliberale Position. Viele, nicht nur in der IG Metall, glaubten, dadurch würden viele Arbeitsplätze entstehen, was aber nicht der Fall war.
Was bedeutet das auf betrieblicher Ebene?
Den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens auch als Aufgabe des Betriebsrats zu verstehen. Auch heute sind viele Betriebsräte, zum Beispiel der großen Autokonzerne, überzeugt, dass unternehmerischer Erfolg und hohe Gewinne die Bedingung für vernünftige Arbeitsplätze seien.
Das mag im Einzelfall zutreffen. Doch verkannt wird, das vor allem die prekäre Arbeit, Zeit- und Leiharbeit und befristete Verträge, zugenommen haben, auch in der Autoindustrie. Die Reallöhne sind gesunken und der Niedriglohnsektor wird immer größer.
Hört überhaupt jemand zu, wenn die LINKE das im Bundestag kritisiert?
Schon. Aber gerade als Landtagsabgeordneter muss ich sagen, dass wir auch mehr Aktionen und politische Kampagnen brauchen, um unsere Forderungen bekannt zu machen.
Sind wir dazu in der Lage?
Warum nicht? Ich komme gerade von der Kundgebung der Beschäftigten der Whitesell-Schraubenfabrik in Beckingen bei Saarbrücken. Whitesell hat das Unternehmen erst vor einem Jahr mit großen Versprechungen gekauft und droht jetzt, die Fabrik zu schließen.
Was fordert die saarländische LINKE in solchen Fällen?
Wir haben vor kurzem im Landtag eingebracht, dass die Landesregierung einen Saarland-Fonds gründen soll, um bedrohte Betriebe zu unterstützen. Dabei sollen die Beschäftigten aber zwingend ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Leitung des Unternehmens erhalten.
Solche Forderungen versuchen wir zu verbreiten, damit sich vielleicht manche die Frage stellen: Wem gehört eigentlich der Reichtum, den wir erarbeiten und warum?
Wir erleben nicht viele Streiks in Deutschland. Was hältst du vom Streik der GDL bei der Deutschen Bahn?
Wichtig ist mir vor allem, dass wir das sogenannte „Gesetz zur Tarifeinheit“ verhindern. Denn es wird nicht nur die GDL sondern alle Gewerkschaften schwächen.
Abgesehen davon ist es immer ein Problem, wenn Gewerkschaften wie die GDL nur für höhere Löhne bei ein oder zwei Berufsgruppen streiken, denn die Deutsche Bahn könnte die Kosten auf andere Beschäftigte abwälzen.
Warum streikt die GDL dann eigenständig?
Vor allem, weil die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft vom DGB die Interessen der Beschäftigten in den letzten Jahren nicht wirklich gut vertreten hat. Und vor allem das sollte sich verändern.
Aber die Einheit von Gewerkschaften muss man herstellen, indem man die Mitglieder überzeugt, dass es gut für sie ist. Und nicht indem man das Streikrecht per Gesetz einschränkt.
(Die Fragen stellte Hans Krause.)
Foto: blu-news.org
Schlagwörter: Agenda 2010, DIE LINKE, Gewerkschaft, Hartz-IV, IG Metall, Inland