Der Berliner SPD/CDU-Senat plant Flüchtlingsunterkünfte auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens. Der Aktivist Oliver Klar spricht von einem Angriff auf die Demokratie und einer unwürdigen Lösung für die Geflüchteten.
marx21: Du bist Teil der Bürgerinitiative »100 Prozent Tempelhofer Feld«, die sich 2014 im Zuge der Mobilisierung gegen die Bebauung des ehemaligen Flughafengeländes formiert hat. Warum seid ihr wieder aktiv geworden?
Im Volksentscheid vom Mai 2014 hat sich eine klare Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner gegen eine Bebauung und für die Erhaltung des Tempelhofer Feldes zur Freizeitnutzung ausgesprochen. Das war ein riesiger Erfolg. Nun hat der Senat eine Bürgerversammlung einberufen, in der er seine neuen Pläne zur Errichtung von Flüchtlingsunterkünften auf dem bisher freien Feld vorstellen wird. Am 28. Januar folgt dazu die Abstimmung im Abgeordnetenhaus.
Was wird der Senat auf der Bürgerversammlung am 21. Januar erzählen?
Der Name »Bürgerversammlung« wird der Veranstaltung wenig gerecht. Die Bürgerinitiative »100 Prozent Tempelhofer Feld« geht davon aus, dass lediglich der Plan des Senates vorgestellt wird und dass die Opposition nicht zu Wort kommt. Denn die Initiative hat erst über Umwege von dieser Einladung erfahren. Laut Senatsentwurf soll die Bebauung des Feldes mit Flüchtlingsunterkünften zwar befristet sein. Dennoch ist dafür eine Änderung des Gesetzes, das aus dem Volksentscheid hervorgegangen ist, nötig.
Diese Änderung hebt den Kern des Gesetzes auf. Sind die Flüchtlingsunterkünfte ein Vorwand, um den Volksentscheid auszuhebeln?
Absolut. Es ist eine Frechheit, wie der Senat den Volksentscheid umgehen will. Es ist ein Angriff auf die Demokratie! Unser Bürgermeister Michael Müller war damals Bausenator. Für ihn bedeutete der Volksentscheid eine große Niederlage. Die damals vom Senat geplanten Luxusbauten und Anziehungspunkte für Investoren wurden verhindert. Jetzt versucht er erneut, das Feld langfristig als neue Bau- und Investitionsfläche zu erschließen. Die Flüchtlingsunterkünfte sind lediglich der Türöffner dazu.
Aber ist es angesichts der mangelnden Flüchtlingsunterkünfte nicht sinnvoll, mehr Möglichkeiten zu schaffen? Irgendwo müssen die Leute ja unterkommen.
Wir brauchen dringend mehr Wohnraum, unbedingt! Für Flüchtlinge, aber auch allgemein für Obdachlose und Geringverdiener in Berlin. Das ist eine große Herausforderung, insbesondere auch deshalb, weil der Senat in den letzten Jahren großen Sozialabbau betrieben und großflächig Wohnungen aus öffentlicher Hand privatisiert hat. Unter anderem dadurch sind die Mieten in Berlin enorm gestiegen. Als Initiative weisen wir auch auf zahlreiche Alternativen zu den Massenunterkünften hin.
Kannst du da Beispiele nennen?
In Berlin stehen 900.000 Quadratmeter Büroflächen leer, wo man Wohnungen für Tausende von Menschen einrichten könnte. Ein Beispiel ist das Haus der Statistik am Alexanderplatz, das Wohnraum für rund tausend Menschen bieten könnte. Wir gehen zudem davon aus, dass etwa zehntausend illegale Ferienwohnungen existieren. Wir fordern, dass diese den Flüchtlingen zu Gute kommen. Außerdem haben wir Bundesimmobilien, die den Kommunen zur kostenfreien Nutzung zur Verfügung gestellt werden, von denen der Senat aber nur ganz wenige nutzt.
Es gibt also zahlreiche Alternativen, die den berlinweiten Volksentscheid nicht verletzen…
…und zudem ein würdigeres Wohnen ermöglichen als Massenlager. Flüchtlinge könnten selbstbestimmt Mieter sein und dezentral in die Stadtplanung integriert werden. Die Erweiterung der Unterkünfte auf dem Flughafengelände käme stattdessen einem Ghetto gleich. Es herrschen erschreckende Zustände in den Hangars des ehemaligen Tempelhofer Flughafens. Diese sollten nicht noch weiter ausgebaut werden.
Weshalb riskiert Michael Müller als Bürgermeister wenige Monate vor der Wahl in Berlin eine solche Offensive gegen die Bevölkerung?
Es gab in den letzten Jahren etliche Bürgerbewegungen gerade in Bezug auf das Recht auf Stadt und Wohnraum in Berlin, unter anderem den Versuch für einen Mietenvolksentscheid. Es geht dem Senat auch darum, die von unten entstandene Bürgerinitiative zu demoralisieren bzw. Vorstößen für Mitbestimmung und -gestaltung einen Dämpfer zu verpassen. Müller machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er sich auf lange Sicht nicht an den Volksentscheid halten würde. Schon im Mai 2015 wies er darauf hin, dass man die Debatte zur Bebauung in »einigen Jahren« wieder aufgreifen werden müsse. Aus den Jahren wurden schnell Monate und nun geht es um wenige Wochen.
Damit erklärt sich auch die Eile…
Natürlich. Je schneller die Gesetzesänderung durchgedrückt wird, desto weniger Zeit bleibt der Opposition für eine Mobilisierung gegen das Vorgehen. Darüber hinaus plant der Senat eine Verschärfung des Gesetzes zur Durchführung von Volksentscheiden. Unter anderem sollen zukünftige Kampagnen gegen Volksentscheide von Senatsseite direkt aus Steuergeldern finanziert werden, wodurch das finanzielle Ungleichgewicht zwischen Senat und Bürgerinitiativen verstärkt wird. Denn Kampagnen der Bürgerinitiativen für Volksentscheide werden nicht subventioniert. Ebenso sollen strengere Kriterien für gültige Unterschriften eingeführt werden, obwohl es bei den letzten Volksentscheiden keinerlei Missbrauch gegeben hat. Volksentscheide sollen also klar erschwert werden.
Welche Rückmeldungen zum Senatsentwurf habt ihr aus der Bevölkerung erhalten?
Beim Verteilen von Flyern auf der Straße haben wir unterschiedliche Rückmeldungen bekommen. Nebst der allgemeinen Zustimmung gab es auch Beifall von rechts, weil wir uns gegen neue Flüchtlingsunterkünfte auf dem Tempelhofer Feld einsetzen. Da mussten wir jeweils klarstellen, dass wir Flüchtlinge an sich willkommen heißen, unsere Kritik sich aber gegen die Art der Unterbringung richtet. Insgesamt hatten viele Leute – selbst ehemalige Unterstützerinnen und Unterstützer des Volksentscheids –, noch nichts von dem neuen und kurzfristigen Vorstoß des Senats erfahren. Sie waren geschockt, dass der große Erfolg für die Mitbestimmung nun so schnell wieder zunichte gemacht werden soll und die monatelange Arbeit und das Engagement der Bevölkerung mit Füßen getreten wird.
Ihr musstet die Leute also erstmal über das Senatsvorhaben informieren. Was haben die Bürgerinitiativen sonst noch erreicht?
Ich denke, dass wir es in den letzten Wochen auf jeden Fall geschafft haben, die »Alternativlosigkeit«, die uns vom Senat vorgegaukelt wird, zu widerlegen. Viele Organisationen, Flüchtlingsinitiativen, Kirchen und andere Helferstrukturen haben die Frage nach Wohnraum aufgegriffen und Alternativen zusammengetragen. Das muss weitergeführt und noch stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. Ich vermute, dass die Abstimmung vom 28. Januar zur Bebauung des Feldes trotz unserer Bemühungen negativ für uns ausfallen wird.
Wie kann denn die Bebauung des Tempelhofer Feldes noch gestoppt werden?
Die öffentliche Debatte könnte mit einem Beschluss des Senats zur Bebauung des Feldes auch eskalieren und Verhältnisse wie bei Stuttgart 21 provozieren. Als Initiative arbeiten wir zurzeit an weiteren Ideen für Volksentscheide und Aktionen, mit denen wir unseren Kampf für eine sozialere Stadtpolitik fortsetzen können. Ich denke, dass wir unseren Unmut über die Wohnungspolitik und die unzureichende Flüchtlingshilfe endlich gemeinsam auf die Straße tragen müssen.
Oliver Klar ist aktiv in der Bürgerinitiative »100 Prozent Tempelhofer Feld« und der LINKEN.Neukölln
Die Fragen stellte Kira Rockel
Schlagwörter: Berlin, Flüchtlinge, Flüchtlingsunterkünfte, Flughafen, Linke, marx21, Tempelhofer Feld, Volksbegehren, Volksentscheid