Im Mai 1945 befreiten sowjetische Truppen Deutschland von den Nazis. Mit Antifaschismus hatte ihr Krieg nur bedingt zu tun. Unter falscher Flagge. Von Boris Marlow
Hektisches Treiben kurz vor der Landung: In der ganzen Stadt ist keine Hakenkreuzfahne vorhanden. Schließlich wird doch noch eine gefunden, im Fundus einer Filmfirma, die auf Antinazifilme spezialisiert ist. Nun weht sie neben Hammer und Sichel auf dem Flugfeld. Derweil übt die Kapelle noch einmal das »Horst-Wessel-Lied«. Als die viermotorige Condor-Maschine aufsetzt, ist alles vorbereitet. Der seltene Gast kann angemessen empfangen werden. Sein Name: Joachim von Ribbentrop, Reichsminister des Auswärtigen, Hitlers Außenminister. Es ist Mittwoch, der 23. August 1939. Wir befinden uns in Moskau, der Hauptstadt der Sowjetunion.
Nach einem kurzen Frühstück geht es umgehend in den Kreml, wo Ribbentrop mit seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow zusammentrifft. Den ganzen Tag wird verhandelt. Am Ende steht ein Nichtangriffspakt zwischen Hitler-Deutschland und der UdSSR, der in Anwesenheit Stalins unterzeichnet wird. Bei der anschließenden Feier erhebt der Generalsekretär als erster sein Glas: »Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt. Ich möchte daher auf sein Wohl trinken.«
Ein Pakt aus Machtkalkül
Für die Weltöffentlichkeit kam das später als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnete Abkommen überraschend. Oberflächlich betrachtet handelte es sich tatsächlich um eine erstaunliche Kehrtwende in der Außenpolitik beider Staaten. Das Nazi-Regime hatte sich immer als Bastion gegen die UdSSR und die Bedrohung durch den Kommunismus hingestellt. Das stalinistische Regime hingegen nahm für sich in Anspruch, der unversöhnliche Feind des deutschen Faschismus zu sein. Doch hinter dem Abkommen steckten eiskalte Machtinteressen: Nur eine Woche später, am 1. September 1939, fielen die Nazis in Polen ein, am 3. September folgte die offizielle Kriegserklärung. Das war der Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa. Er sollte schließlich fünfzig bis siebzig Millionen Menschenleben kosten. Sowjetische Truppen rückten am 17. September 1939 in Ostpolen ein.
Für Hitler hatte das Abkommen vor allem einen Zweck: Beim Überfall auf Frankreich im Mai 1940 hielt es ihm den Rücken frei. Die vereinbarten umfangreichen russischen Rohstofflieferungen waren zum Betreiben der deutschen Kriegsmaschinerie unentbehrlich.
Großmachtpolitik und interne »Säuberung«
Die Interessen Stalins an dem Pakt sind weniger offensichtlich. Einige Historiker haben versucht, das Abkommen als listigen Schachzug Stalins hinzustellen, mit dem er sich Zeit für die Aufrüstung erkaufte. Diese Darstellung ist aber wenig überzeugend, denn Stalin baute zu dieser Zeit keinen Kriegsapparat auf. Im Gegenteil: Er enthauptete sowohl die Armee als auch die für Rüstungsprojekte wichtige technische Intelligenz.
Im Jahr 1936 hatte die »Große Säuberung« begonnen – die systematische Auslöschung echter und vermeintlicher Oppositioneller. Im Militär nahm sie monströse Ausmaße an: Neunzig Prozent der Generäle und mehr als sechzig Prozent der Offiziere wurden hingerichtet, oftmals unter der Beschuldigung »faschistische Agenten« zu sein. Diesem Morden fielen auch alle erfahrenen Offiziere zum Opfer, die unter Stalins Gegenspieler Leo Trotzki im Bürgerkrieg (1918-1920) gedient hatten. Die »Säuberungen« gingen bis zum Kriegsbeginn weiter. Als Hitler-Deutschland den Pakt im Juni 1942 brach und die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierte, war die Rote Armee so schlecht aufgestellt, dass sogar Kommandeure aus dem Gulag an die Front geschickt wurden – wie der spätere Marschall Konstantin Rokossowski, der sein Kommando mit ausgeschlagenen Zähnen und gebrochenen Rippen übernahm. Zum Zeitpunkt des Überfalls der deutschen Wehrmacht hatten nur sieben Prozent der russischen Offiziere eine höhere militärische Ausbildung, 37 Prozent waren noch in der Grundausbildung – ein Umstand, der wesentlich zu den verheerenden Niederlagen der Roten Armee im ersten Kriegsjahr beitrug. Ähnlich war das Bild bei der technischen Intelligenz: Zwischen 1934 und 1941 wurden 450 Flugzeugkonstrukteure verhaftet, davon wurden fünfzig erschossen, hundert starben in Arbeitslagern. Überlebende wie Andrei Tupolev arbeiteten dann im Krieg unter strenger Aufsicht des Geheimdienstes.
All dies war kaum die angemessene Antwort auf eine militärische Bedrohung. So war der Hitler-Stalin-Pakt auch keine Kriegslist, sondern profane Großmachtpolitik – Stalin wollte mit Hitler die Interessensphären abstecken: Der Nichtangriffspakt wurde durch ein geheimes Zusatzabkommen ergänzt, das die Teilung Polens und, darüber hinaus, die Aufteilung Osteuropas zwischen den beiden Diktaturen vorsah. Der Sowjetunion wurden Finnland, das Baltikum, ein Großteil Polens und Bessarabien zugesprochen, die vormals zum Zarenreich gehört hatten, dazu die Nord-Bukowina und die Westukraine. Dieser Abgrenzung der Interessensphären folgten alsbald Vereinbarungen über militärische und geheimpolizeiliche Zusammenarbeit und über einen Austausch der Bevölkerung in den besetzten Gebieten.
Stalins Außenminister Molotow erklärte noch Jahrzehnte später, dass das wichtigste Ziel der sowjetischen Außenpolitik dieser Zeit gewesen sei, die eigenen Grenzen so weit wie möglich auszudehnen: »Und mir scheint, Stalin und ich haben das ganz gut hingekriegt.« Erst fünfzig Jahre später gab die letzte sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow die Existenz des Zusatzabkommens zu, das die Aufteilung Ost- und Südosteuropas zwischen den beiden Staaten regelte.
Verrat an die deutsche Linke
Die kommunistische Bewegung stürzte der Hitler-Stalin-Pakt hingegen in völlige Verwirrung. Maurice Thorez, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs, forderte beispielsweise seine Regierung auf, gleichfalls ein Bündnis mit Hitler zu schließen. Und die britische KP organisierte im Frühjahr 1940 einen Kongress für Frieden mit Hitler-Deutschland.
Die deutschen Kommunistinnen und Kommunisten hingegen waren entsetzt. Fassungslos mussten antifaschistische Widerstandskämpfer mitansehen, wie sich der Mann ihres Vertrauens mit ihrem größten Feind verbündete. Hitler hatte sie verfolgt, Tausende ihrer Genossinnen und Genossen inhaftieren und ermorden lassen. Nun schloss der sowjetische Generalsekretär mit ihm einen Staatsvertrag.
Etliche Kommunisten brachen daraufhin mit der Bewegung, darunter der langjährige Kominternfunktionär Willi Münzenberg. Im September 1939 verfasste er einen anklagenden Artikel, in dem es hieß: »Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm, rufen, nach dem Osten deutend: ›Der Verräter, Stalin, bist du‹.«
Wer sich illoyal zeigte und, wie Münzenberg, mit Stalin brach, fiel dessen Killerkommandos zum Opfer. Mehr noch: Um seine Bündnistreue unter Beweis zu stellen, versuchte Stalin nicht einmal, die in Hitlers Gefängnissen und Lagern inhaftierten Kommunisten freizubekommen. Zu Hitlers Überraschung forderte er in den Verhandlungen nicht einmal die Freilassung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, der schon kurz nach der Machtübertragung an die Nazis im Januar 1933 ins KZ verschleppt worden war. Stattdessen ließ Stalin in der Zeit vom Dezember 1939 bis zum April 1941 etwa tausend deutsche Emigranten, die in der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten, an Deutschland ausweisen – und damit direkt in die Hände der Gestapo.
Antfaschismus nach sowjetischen Interessen
Diese Politik folgte einem Muster: Schon seit Mitte der 1920er Jahre hatte Stalin die Interessen der internationalen Arbeiterbewegung denen der sowjetischen Außenpolitik untergeordnet. Und diese Außenpolitik war konservativ: Anders als in der Zeit nach der Gründung der Kommunistischen Internationalen im Jahr 1919 sollte nicht mehr die Weltrevolution vorangetrieben werden. Vielmehr war es das Interesse der sowjetischen Parteibürokratie, Klassenkonflikte im Ausland zu vermeiden, um so das Risiko einer Intervention des Westens in der Sowjetunion gering zu halten. Dimitri Manuilski, der die Komintern seit 1929 leitete, warnte die KPD-Führung Anfang der 1930er Jahre explizit vor einer Revolution. Diese werde zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen »großen internationalen Kampf nach sich ziehen« und die Existenz der UdSSR gefährden.
Wie die Politik einzelner Komintern-Sektionen der russischen Außenpolitik angepasst wurde, verdeutlicht beispielsweise die Mitte der dreißiger Jahre entwickelte »Volksfront«-Politik. In den westlichen Demokratien sollten die kommunistischen Parteien Bündnisse anstreben, die nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch konservative und liberale Kräfte einschlossen. Das »entsprach den Augenblicksinteressen der Sowjetdiplomatie«, die das Bündnis mit Großbritannien, Frankreich und den USA suchte, schreibt der Kommunist und Zeitzeuge Theodor Bergmann. Deren Regierungen »mussten die westeuropäischen Kommunisten als brave Demokraten vorgeführt werden, die auf alles revolutionäre Handeln verzichtet hatten.«
Auch Stalins Haltung zum Faschismus richtete sich stets danach, wie sie den sowjetischen Interessen dienen könne. Insofern war es konsequent, dass die Komintern nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 erneut ihren Kurs wechselte. Nun rief sie zur »Mobilisierung aller Kräfte in den gegen Hitler in einem Kampf auf Leben und Tod verwickelten Nationen« auf. Hatten sich die britischen und französischen Kommunisten bislang gegen den »imperialistischen Krieg« ihrer Regierungen gegen Deutschland gewehrt, so bezeichneten sie nun den Zweiten Weltkrieg als einen gerechtfertigten Kampf für Demokratie und gegen den Faschismus.
Für die Menschen in der Sowjetunion folgte ein grausamer Krieg, dessen Hauptlast sie tragen mussten. Über zwanzig Millionen Opfer hatte das Land zu beklagen – nicht zuletzt weil seine Staatsführung nicht darauf vorbereitet war.
Knapp sechs Jahre nach Ribbentrops Landung in Moskau hissen die Sowjets erneut symbolträchtig eine Fahne – diesmal in Berlin: Weltbekannt ist das Bild des russischen Soldaten, der auf dem Dach des zerstörten Reichstages die Hammer-und-Sichel-Flagge über der brennenden Stadt hält. Wir schreiben den 8. Mai 1945, Nazideutschland ist besiegt und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht kann beginnen.
Foto: Nickolas Titkov
Schlagwörter: Antifaschismus, KPD, Stalin, Zweiter Weltkrieg