Stalin, unangefochtener Herrscher in der Sowjetunion, ließ 1940 auf dem Höhepunkt seiner Macht den isolierten Exilanten Leo Trotzki in Mexiko ermorden. Warum? Von Stefan Ziefle
Letzten Endes ließ Stalin fast jeden ermorden, der irgendetwas mit der Russischen Revolution zu tun hatte. Rund 500.000 Kommunistinnen und Kommunisten, darunter fast alle, die bereits 1917 Mitglied der Bolschewiki waren, wurden im Zuge der »Säuberung« getötet. Wer Opposition gegen Stalin betrieb, wurde früher ermordet, wer loyal war, später.
Trotzdem sticht ein Name unter diesen Opfern heraus: Leo Trotzki. Durch den Kampfbegriff »Trotzkismus« wurde sein Name in den 1920er und 30er Jahren zum zentralen Symbol der Abweichung von der Linie Stalins schlechthin. Das lag sicherlich daran, dass er zu keinem Zeitpunkt auf dem Weg der Parteibürokratie zur Diktatur mit Stalin kooperiert hat.
Aber vor allem stand Trotzkis Theorie der »permanenten Revolution«, die im Jahr 1917 glänzend bestätigt wurde, in fundamentalem Widerspruch zu Stalins Losung vom »Sozialismus in einem Land«, hinter der sich das Interesse der neu entstehenden herrschenden Schicht von Partei- und Staatsbürokratie an einer ungestörten kapitalistischen Entwicklung in Russland verbarg.
Trotzkis Theorie der permanenten Revolution
Die Theorie der permanenten Revolution war der Versuch, ein Dilemma des Marxismus um 1900 zu lösen. Karl Marx hatte 1859 geschrieben: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor sich nicht neue materielle Bedingungen – neue Produktivkräfte – ausreichend entwickelt haben, um an die Stelle der alten zu treten« und ein »industriell entwickeltes Land hält einem weniger entwickelten den Spiegel seiner eigenen Zukunft vor«.
Die folgende Generation zog daraus den Schluss, dass erstens alle Gesellschaften zwangsläufig dieselben Entwicklungsstufen durchlaufen müssten. Zweitens müssten ländlich geprägte Gesellschaften erst im Rahmen des Kapitalismus industrialisiert werden. Und drittens wäre die bürgerliche Demokratie eine notwendige Zwischenstufe zwischen Monarchien und Sozialismus.
In Russland erwartete man dementsprechend, dass der Zar durch eine bürgerliche Revolution gestürzt würde, gefolgt von einer parlamentarischen Demokratie. Das war Konsens in der russischen Arbeiterbewegung, die ihre Rolle darauf beschränkt sah, dem Bürgertum dabei zu helfen und in diesem Prozess die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter zu stärken.
Die Arbeiterklasse war eine Minderheit
Tatsächlich lebten 1905 über 80 Prozent der Menschen in Russland auf dem Land. Und die Mehrheit der Stadtbevölkerung arbeitete in Verwaltung und Militär. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung gehörten zur Arbeiterklasse. Eine Arbeiterrevolution oder -demokratie erschien undenkbar.
Aber die Bourgeoisie wollte keine Revolution. In den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts konnte das Bürgertum den Adel schlagen, weil Aufstände der unteren Schichten es unterstützten. Aber bereits in der Revolution in Deutschland 1848 fürchteten die Kapitalisten diese Schichten, zu denen die neue Klasse der Lohnabhängigen gehörte, so sehr, dass sie sich auf einen faulen Kompromiss mit dem König von Preußen einließen. Auch die russischen Kapitalisten zeigten bei der Revolution von 1905, dass sie nicht bereit waren, gegen den Adel vorzugehen.
Während der rechte Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Menschewiki, einfach darauf hoffte, dass sich das Bürgertum eines besseren besinnen würde, entwickelten die Bolschewiki die Floskel von der demokratischen Herrschaft der Arbeiterklasse und Bauernschaft. Danach sollte die Revolution unter der Führung der Arbeiterbewegung im Bündnis mit der verarmten Landbevölkerung durchgeführt werden, um danach dem Bürgertum eine bürgerlich-kapitalistische, also parlamentarische, Demokratie zu übergeben.
Kombinierte, aber ungleichzeitige Entwicklung
Trotzki erkannte bereits vor der Revolution von 1905 die Schwäche dieses Konzepts. Warum sollten die Ausgebeuteten, nachdem sie durch den politisch bildenden Prozess einer Revolution gegangen sind, ihren Ausbeutern die Macht übergeben? Warum sollten sie die Bürgerlichen vor einer Konterrevolution schützen, die diese sich herbeisehnten, um den Einfluss der Ausgebeuteten zu brechen?
Trotzki antwortete mit der Theorie der permanenten Revolution. Zentral dabei war der Begriff der kombinierten, aber ungleichzeitigen Entwicklung. Gesellschaften entwickelten sich, so argumentierte Trotzki, nicht unabhängig von einander. Die sich nachholend entwickelnde Gesellschaft tut dies im Kontext der bereits entwickelten. Der Kapitalismus schuf, wie Marx im Kommunistischen Manifest festgestellt hatte, einen Weltmarkt, auf dem die rückständigen Wirtschaften mit den fortschrittlichen konkurrieren. Deswegen entstanden im agrarischen Russland Inseln modernster Industrieproduktion. Die Putilow-Werke in St. Petersburg mit ihren 40.000 Beschäftigten zum Beispiel galten als die technisch fortschrittlichsten der Welt.
Möglich wurde das durch Importe moderner Maschinen aus dem Westen, finanziert durch Kredite ebenfalls aus dem Westen, abgesichert durch die Verpfändung landwirtschaftlicher Produkte. Agrarisch geprägt, so Trotzki, sei kein Widerspruch zu kapitalistisch. Die Landwirtschaft war längst Teil der kapitalistischen Akkumulation geworden. Adelige Großgrundbesitzer agierten als Kapitalisten, einschließlich der Zarenfamilie selbst.
Bündnis von Arbeiterklasse und Bauernschaft
Unter diesen Umständen gab es einerseits eine zwar kleine, aber in den industriellen Zentren konzentrierte und gut organisierte Arbeiterklasse. Andererseits lebte die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft unter Bedingungen, die sich kaum von denen im Mittelalter unterschieden. Diese Menschen für den Sozialismus zu gewinnen, konnte nur gelingen, wenn dieser ihnen tatsächlich materielle Vorteile bringen könnte, die über eine Neuverteilung des Ackerlandes hinausginge. Kurz, es bräuchte eine Versorgung mit Industrieprodukten, insbesondere mit mechanischen landwirtschaftlichen Geräten, und die Integration der überschüssigen ländlichen Arbeitskräfte in den Städten.
Offensichtlich würde die russische Industrie diese Leistung nicht vollbringen können, auch nicht unter sozialistischer Kontrolle. Aber, so argumentierte Trotzki, das müsse sie auch gar nicht. Denn die Verknüpfung der internationalen Wirtschaft bedeutete eben auch, dass eine revolutionäre Krise in einem Teil der Weltwirtschaft nicht losgelöst von der Gesamtentwicklung entstehen könne, die Revolution also letztlich überall auf der Tagesordnung stehe, auch wenn sie in einem Teil beginne.
Permanente Revolution im doppelten Sinn
Die Revolution würde also in einem doppelten Sinne »permanent« werden. Erstens würde eine Revolution, getragen von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Bäuerinnen und Bauern, von einer bürgerlichen in eine sozialistische überwachsen. Und zweitens würde sie sich in eine internationale entwickeln. Vor dem Hintergrund der Revolution 1917 war diese Ansicht bis zum Oktober schließlich Mehrheitsmeinung unter den Bolschewiki geworden.
Doch angesichts der Isolation der Revolution nach 1917 und der verheerenden Verwüstung des Landes im Bürgerkrieg stieg eine Schicht von Bürokraten in Partei und Staatsapparat Schritt für Schritt zur neuen herrschenden Klasse auf. Für sie war »Sozialismus« nur eine Erinnerung, die zur Begründung ihrer Herrschaft herangezogen wurde. An sozialistischen Revolutionen irgendwo sonst auf der Welt hatte sie kein Interesse. Ihr Aushängeschild Stalin verwarf den Internationalismus der Bolschewiki und etablierte 1925 den Slogan vom »Sozialismus in einem Land«.
Trotzki bewahrt den revolutionären Marxismus
Trotzki dagegen beharrte auf den marxistischen Prinzipien. Daher wurde er von Stalins Apparat erst verleumdet, dann verfolgt und schließlich ermordet. Der Begriff des »Trotzkismus« wurde bereits 1923 von dem langjährigen Weggefährten Lenins Grigori Sinowjew, zu diesem Zeitpunkt ein enger Verbündeter Stalins, erfunden, um Abweichungen vom offiziellen »Marxismus-Leninismus« zu brandmarken. Ein Jahrzehnt später ließ Stalin auch Sinowjew wegen »Trotzkismus« hinrichten.
Trotzki blieb bis zu seinem Tod der Russischen Revolution treu, deren führender Akteur und Chronist er war. Er verteidigte sie gegen die Usurpation des Stalinismus genauso wie gegen die Verleumdungen der Bürgerlichen und Sozialdemokratie. Es ist vermutlich seine wichtigste Leistung: als letzter Zeuge der Revolution den revolutionären Marxismus bewahrt zu haben.
Leo Trotzki – Biografie
Leo Trotzki, 1879 unter dem bürgerlichen Namen Bronstein geboren, wurde 1897 in der noch jungen russischen Arbeiterbewegung aktiv, 1898 verhaftet, 1899 ins sibirische Exil geschickt. 1902 gelang ihm die Flucht ins Exil, wo er sich auf Einladung Lenins der Redaktion des Zentralorgans der russischen sozialdemokratischen Partei (SDPR) anschloss und sein Pseudonym annahm.
Trotzki war gegen die Spaltung von 1903, machte Lenin verantwortlich, versuchte zwischen den Fraktionen der Menschewiki und Bolschewiki zu vermitteln.
1904 formulierte er die Thesen der »permanenten Revolution«.
Nach Beginn der Revolution von 1905 kehrte Trotzki aus dem Exil zurück und wurde zum Vorsitzenden des St. Petersburger Sowjets gewählt. In dieser Funktion wurde er verhaftet und erneut verbannt, floh aber bereits auf dem Transport und ging wieder ins Exil.
Auf dem Parteitag der SDPR 1907, der in London stattfand, schloss Trotzki sich weder Bolschewiki noch Menschewiki an, sondern gründete eine eigene Fraktion zwischen den beiden.
Im Juli 1917 trat Trotzki mit seiner ganzen Fraktion den Bolschewiki bei, nachdem sie bereits in den Wochen zuvor eng zusammengearbeitet hatten.
Nachdem im September die Neuwahl der Delegierten des Petrograder Sowjets eine bolschewistische Mehrheit ergeben hatte, wurde Trotzki erneut zu dessen Vorsitzenden gewählt. Im Zuge der Abwehr des Putsches des Oberkommandierenden der Streitkräfte General Lawr Kornilow organisierte Trotzki die Kampfverbände der Roten Garden.
Trotzki organisierte des Weiteren im Oktober 1917 die Gründung des Militärischen Revolutionskomitees des Petrograder Sowjets, das schließlich alle revolutionären bewaffneten Kräfte in Petrograd in der Oktoberrevolution koordinierte.
Im Anschluss an die Oktoberrevolution wurde Trotzki Volkskommissar des Äußeren und war verantwortlich für die Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich. Nach Beginn des Bürgerkrieges 1918 wurde er Volkskommissar für das Kriegswesen und organisierte den Aufbau der Roten Armee, deren Kommandeur er war.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs kam es zu Konflikten zwischen Trotzki und Stalin, unter anderem über die Frage der Wiederherstellung demokratischer Rechte in Partei, Armee und Staatsapparat, die in den Jahren des Bürgerkrieges eingeschränkt worden waren, Industriepolitik und die Rechte nationaler Minderheiten.
Ab 1923 organisierte Trotzki Oppositionelle gegen Stalins Machtapparat. Aus Angst vor einer möglichen Konterrevolution des alten Regimes und aufgrund einer fehlerhaften Einschätzung des selbst konterrevolutionären Charakters des Stalinismus beschränkte er sich auf den innersten Führungszirkel der Partei.
Stalins endgültiger Sieg führte 1927 zu Trotzkis Ausschluss aus der Partei und seiner erneuten Verbannung. Im Exil setzte er den Kampf gegen Stalin und für das revolutionäre Erbe des Marxismus fort, ab 1929 verstärkt auch gegen den aufsteigenden Faschismus in Westeuropa.
Nachdem bereits viele Verwandte, Freunde und politischen Wegbegleiter Trotzkis ermordet worden waren, gelang einem stalinistischen Agenten 1940 ein Anschlag auf Trotzki in dessen mexikanischem Exil. Zur Trauerfeier kamen 300.000 Menschen.
Weiterlesen:
Über die Diskussion unter den Bolschewiki über den Charakter der Revolution 1917:
https://www.marx21.de/lenins-thesen-schlugen-ein-wie-eine-bombe/
»Ergebnisse und Perspektiven«, Trotzkis Ausarbeitung der »permanenten Revolution«:
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/index.htm
Wegweisend und bis heute aktuell sind Trotzkis Schriften über den Faschismus, etwa das »Porträt des Nationalsozialismus«:
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1933/06/natsoz.htm
Der Autor:
Stefan Ziefle ist Historiker und Stadtverordneter der LINKEN im hessischen Wächtersbach.
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Bauern, bolschewiki, Februarrevolution, Marx, Marxismus, Oktoberrevolution, Revolution, Russische Revolution, Russland, Sowjetunion, Stalin, Stalinismus, Trotzki, Trotzkismus