Die USA begründen ihre Militärintervention gegen den Islamischen Staat damit, die Menschen in Syrien und im Irak beschützen zu wollen. Der syrische Sozialist Joseph Daher lehnt den Einsatz hingegen ab. Warum, erklärte er im Gespräch mit uns.
marx21: Barak Obama behauptet, sein Militäreinsatz gegen den Islamischen Staat wäre nötig, um Terror und Unterdrückung zu beenden. Worum geht es wirklich bei der Intervention in Syrien und Irak?
Die USA nennen ihre militärische Intervention »humanitär«, sie ist aber Teil einer politischen Strategie: Sie dient dem Schutz amerikanischer Diplomaten im nordirakischen Erbil und dem Schutz großer multinationaler Energiekonzerne wie ExxonMobil, Chevron oder Total, die für die Ausbeutung der Ölvorkommen der Region bereits mehr als 10 Milliarden US-Dollar investiert haben. Der wichtigste Grund für den Einsatz ist aber, das Bündnis mit dem irakischen Regime aufrechtzuerhalten.
Wie heuchlerisch die Haltung von Washington ist, zeigte sich beim Fall von Mosul. Damals flohen mehr als 500.000 Menschen nach Irakisch-Kurdistan, trotzdem haben sich die USA zurückgehalten. Sie haben erst eingegriffen, als der IS drohte die autonome kurdische Region im Nordirak und Bagdad einzunehmen.
Barak Obama wurde im Jahr 2008 insbesondere wegen seines Versprechens gewählt, die Militärpräsenz im Nahen Osten – insbesondere im Irak – zu verringern und neue Einsätze zu verhindern. Im November gab er nun die Verdoppelung der amerikanischen Truppen im Irak bekannt. 1500 zusätzliche Soldaten, unter ihnen „Ausbilder und Berater, die der irakischen Armee helfen sich dem IS entgegen zu setzen.“
Wenn es um den Schutz des irakischen Regimes geht, warum wurde dann Premierminister Maliki abgesetzt?
Die USA wollten nur eine oberflächliche Veränderung in der irakischen Regierung, keinen wirklichen Wandel. Maliki musste wegen seiner katastrophalen Misswirtschaft des Landes gehen. Der neue Premier, Haidar al-Abdadi ist ein enger Verbündeter Malikis und ebenfalls Mitglied der Dawa-Partei. Nach seiner Ernennung versprachen die USA die militärischen und ökonomischen Hilfen, sofern sich die neue Regierung um eine bessere Integration der sunnitischen Bevölkerung bemühen würde. Das geht an der Realität vorbei, denn die Macht liegt nach wie vor bei den politischen Kräften, die für die aktuelle Situation verantwortlich sind.
Warum bombardiert die »Koalition der Willigen« auch in Syrien?
Zu Beginn haben die USA erklärt, nur den IS bekämpfen zu wollen, doch sie haben auch andere reaktionäre Kräfte wie die al-Nusra-Front angegriffen.
Die revolutionäre Linke in Syrien lehnt nicht nur diese reaktionären Kräfte ab. Wir sind auch gegen die westliche Intervention, denn sie schützt die syrische Revolution weder vor dem IS noch vor dem Assad-Regime. Vielmehr ist das Ziel des Einsatzes, die syrische Hegemonie wiederherzustellen und eine gewisse Stabilität zu garantieren, die insbesondere ein Ende des revolutionären Prozesses im Interesse der Golfstaaten bedeutet.
Die Intervention ist eng verknüpft mit Obamas Vorschlag für eine »jemenitischen Lösung« in Syrien. Im Jemen hatte Ex-Präsident Ali Abdullah Salih die Amtsgeschäfte an seinen Stellvertreter Abdurabbo Mansur Hadi übergeben. Dieser wurde dann im Februar zum neuen Präsidenten gewählt – nachdem er als einziger Kandidat angetreten war. Washington will also eine Übereinkunft zwischen dem Regime, oder zumindest einem Teil, und jenen oppositionellen Gruppen, die mit dem Westen oder den Golfstaaten verbunden sind. Auch der Beschluss des amerikanischen Kongresses, 5.000 bis 10.000 syrische Rebellen zu bewaffnen und zu trainieren, geht in diese Richtung.
Lässt sich die syrische Opposition auf diesen Plan ein?
Der Wunsch, dass loyale Rebellen im Interesse der USA kämpfen, wird von den Realitäten des Bürgerkrieges konterkariert. Die große Mehrheit der oppositionellen Gruppen wird nur unter zwei Bedingung ein Bündnis mit Washington eingehen: Zum einen wollen sie ihre Unabhängigkeit bewahren und zum anderen verlangen sie, dass das Konzept der USA den Sturz des Assads beinhaltet. Beispielsweise sagte Riad al-Asaad, Oberbefehlshaber der Freien Syrischen Armee (FSA): »Wenn sie die Freie Syrische Armee an ihrer Seite sehen wollen, müssen sie versichern, dass das Regime gestürzt wird und dass der Plan revolutionäre Prinzipien beinhaltet.« Viele bewaffnete Gruppen stehen den Luftschlägen kritisch gegenüber und ein großer Teil der Bevölkerung, der auf der Seite der Revolution steht, lehnt die Bombardierung ab.
Begründet sich diese Ablehnung vielleicht auch aus den direkten Auswirkungen der Intervention?
Ja, durchaus. Nach offiziellen Angaben sind den Angriffen des US-geführten Bündnisses in den ersten acht Wochen seit ihrem Beginn am 23. September mehr als 50 Zivilisten zum Opfer gefallen. Gleichzeitig setzte Assad den Kampf gegen die FSA und die Bevölkerung in den befreiten Gebieten fort.
Es wird immer deutlicher, dass es nicht funktioniert, den IS, al-Nusra oder ähnliche Gruppen mit den Mitteln zu bekämpfen, die sie erschaffen haben. Diese reaktionären Kräfte sind das Resultat krimineller autoritärer Regime und ausländischer Interventionen in der Region. Die einzigen, die von dieser Bombardierung profitieren, sind die beiden Seiten der Konterrevolution: das Regime Assads und die rückwärtsgewandtesten Kräfte innerhalb der islamistischen und dschihadistischen Gruppierungen. Ein Beispiel: Bei einem US-Luftschlag in der Provinz Aleppo wurden auch die Getreidespeicher der Stadt Manbidsch zerstört. In derselben Woche konnte der IS in der Provinz mehr als 200 neue Kämpfer gewinnen.
Die Schwächung der oppositionellen Kräfte, durch die Angriffe auf die al-Nusra Front und andere islamistische Gruppen, die gegen das Regime kämpfen, kommt diesem wahrscheinlich militärisch zugute. Politisch versucht das Assad-Regime »Legitimität« wiederzugewinnen, indem es zu einem Partner des Westens im „Krieg gegen den Terror“ wird.
Selbst wenn die Bombardierung den IS, al-Nusra und andere reaktionäre Kräfte kurzzeitig schwächt, wird sie sich höchstwahrscheinlich als kontraproduktiv erweisen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sie zu wachsender Unterstützung für die Dschihadisten führen und ihnen täglich neue Rekruten einbringen.
Schon seit längerem versuchen sich diese Kräfte als die einzige echte antiimperialistische Bewegung darzustellen. Dies führt auch zu einem Konkurrenzverhältnis unter den verschiedenen Gruppen. Die al-Nusra-Front steht beispielsweise unter Druck, sich weiter zu radikalisieren, um nicht ihre Kämpfer, insbesondere die Ausländer, an den IS zu verlieren. Nach der Bombardierung von Nusra-Basen in Idlib haben sich Mitglieder der al-Nusra-Front bereit erklärt, gemeinsam mit dem IS zu kämpfen. Zudem hat al-Nusra FSA-Gruppen angegriffen und bewaffnete Kräfte, die in Verbindung mit der Syrischen Revolutionären Front (geführt von Jamal Maarouf) stehen, aus der Provinz Idlib vertrieben.
Aber haben die Luftschläge nicht zumindest den Kurden im Kampf um Kobane geholfen?
Nein. Im Gegenteil: Selbst hier sind Luftschläge nicht wirklich effektiv. Zu Beginn der Intervention war der IS sechzig Kilometer von Kobane entfernt, heute besetzt er einen Teil der Stadt. Hier wird deutlich, dass die Intervention in erster Linie Propaganda ist. Hinzu kommt: Unterstützer der Angriffe sind Saudi-Arabien und Katar, die regionalen Zentren der Konterrevolution.
Die dschihadistischen und islamistischen Reaktionäre dienen den westlichen und regionalen Mächten als Grund zur Intervention. Gleichzeitig bedroht deren Vormarsch über regionale Grenzen hinweg aber tatsächlich ihre Interessen. Die »Koalition der Willigen« ist also keineswegs im Dienste der syrischen Revolution aktiv.
Aber Obama behauptet, dass durch die westliche Intervention religiöse und ethnische Minderheiten geschützt werden…
Richtig ist: Der Islamische Staat stellt eine besondere Bedrohung für alle Teile der Bevölkerung dar, auch für sunnitische Muslime. Er hat Christen und Jeside auf brutale Weise unterdrückt. Die christliche Bevölkerung Mosuls hat er beispielsweise durch ein Ultimatum unter Todesandrohung, entweder zu konvertieren, Steuern zu zahlen oder zu fliehen, aus der Stadt vertrieben.
Dass Washington sich jetzt als Verteidiger der religiösen und ethnischen Minderheiten darstellt, ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Der IS ist nicht der Feind der USA, weil er eine ultra-reaktionäre und konfessionell-sektiererische Organisation ist, die sich gegen Minderheiten richtet, sondern weil er die Souveränität der irakischen Regierung bedroht. Obama verschweigt, dass sich das Regime in Bagdad lediglich dank der Unterstützung durch radikal-schiitische Milizen halten kann, die wie der IS von Rassismus durchdrungen sind und ebenso Gräueltaten begehen. Wohin das führt, zeigte die Schlacht um Amerli nördlich von Bagdad. Anfang September konnte eine Allianz aus schiitischen Milizen und Peschmerga die Belagerung der Stadt mit Hilfe durch US-Luftunterstützung beenden. Anschließend gingen die schiitischen Milizen gegen sunnitische Bauern der Umgebung vor und brannten fünfzig Dörfer nieder. Laut der irakischen Zeitung »As-Saman« wurden dabei achtzehn Sunniten hingerichtet und enthauptet. Das Märchen von der »humanitären Intervention« des Westens, soll lediglich die imperialistischen Interessen verdecken, die nichts mit Menschlichkeit zu tun haben.
Worüber nicht berichtet wird, ist beispielsweise die Solidarität in der irakischen Bevölkerung. Als in Mosul die Christen demonstrierten, nahmen auch Muslime an dem Protest teil, stellten sich vor sie und hielten den IS-Dschihadisten Plakate mit der Aufschrift »Ich bin Christ, ich bin Iraki« entgegen.
Wie beurteilst du die Situation in Syrien?
Dort gilt Ähnliches: Die USA greifen nicht ein, um Minderheiten zu schützen, sondern weil sie den Sturz des Regimes verhindern wollen. Assad hat in der Vergangenheit ihren Interessen gedient, beispielsweise indem er gegen die progressiven palästinensischen und libanesischen Widerstandsbewegungen vorging oder sich im Jahr 1991 am US-geführten Irakkrieg beteiligte.
Nun hat Assad als Reaktion auf die Ereignisse im Irak damit begonnen, den IS vermehrt anzugreifen, damit es so aussieht, als würde er »Terroristen« bekämpfen. Doch in Wahrheit hat das syrische Regime seinen Krieg von Anfang an vor allem gegen die demokratischen Kräfte, die Volkskomitees und später gegen die FSA gerichtet. Gleichzeitig befreite es Islamisten und Dschihadisten aus den Gefängnissen und ließ sie ungestört expandieren. Diese Kräfte waren mit politischer und finanzieller Unterstützung aus Saudi-Arabien und Katar in der Lage, große und gut bewaffnete Brigaden aufzubauen.
Der Schutz von religiösen und ethnischen Minderheiten und auch der restlichen Bevölkerung in der Region kann nur mit echter Demokratie, sozialstaatlichen Elementen und gesellschaftlichen Strukturen erreicht werden, die konfessionelles Sektierertum und ausländische Eingriffe ablehnen. Es braucht ein demokratische, progressive, säkulare und gesellschaftlich breit getragene Bewegung aus der Bevölkerung, die alle Kräfte ablehnt, die sie an religiösen oder ethnischen Unterschieden spalten, sie mit neoliberaler Politik ausbeuten wollen und mit autoritären und repressiven Methoden zu unterdrücken versuchen.
Wie stehen Russland und Iran zu der Bombardierung?
Diese Intervention dient nicht nur den Interessen des Westens, sondern auch denen der regionalen Mächte und Russlands. Von der russischen Regierung wird zwar kritisiert wie die Intervention geführt wird, sie ist aber nicht dagegen. Das Gleiche gilt für Iran, der sich auch nicht generell gegen die Bombardierung ausspricht. Die iranische Luftwaffe hat selbst IS-Stellungen im Osten des Irak angegriffen. Die irakische und amerikanische Luftwaffe haben den irakischen Luftraum offenbar in Zuständigkeitsbereiche aufgeteilt.
Seit der IS-Offensive im Juni schickte Teheran Militärberater als Agenten der iranischen Elite nach Samara, Bagdad und Karbala. Sie sollen die schiitischen Regionen schützen und helfen die dortigen konfessionell-sektiererischen schiitischen Milizen zu organisieren.
All diese Mächte wollen eine Form von Stabilität erreichen, die durch den revolutionären Prozess, seit 2010 gefährdet ist.
Würdest du sagen, dass die syrische Revolution und der kurdische Widerstand in Rojava ihren gemeinsamen Ursprung im Kampf gegen die Unterdrückung durch Assads Regime haben?
Ja, Kobane wurde am 19. Juli 2012 als erste von drei kurdischen Städten in Syrien befreit. Die Selbstverwaltung in Rojava ist eine direkte Konsequenz des syrischen revolutionären Prozesses. Anders hätte es nicht zur kurdischen Autonomie in Nordsyrien kommen können. Das chauvinistische, arabisch-nationalistische Regime Assads hätte dies niemals zugelassen. Es war der Aufstand der syrischen Bevölkerung, der das Regime dazu brachte, sich aus den mehrheitlich kurdischen Regionen zurückzuziehen und der PYD die Autorität zu übergeben.
Was würde es bedeuten, wenn Kobane vom IS eingenommen würde?
Der Fall von Kobane wäre nicht nur ein Verlust für die Kurden, sondern für die gesamte syrische Revolution. Jeder Schritt in Richtung einer größeren kurdischen Selbstbestimmung ist mit der Vertiefung des revolutionären Prozesses verbunden. Wenn dieser Prozess zerschlagen wird, werden die Regierungen in Damaskus und Ankara alles in ihrer Macht stehende tun, um jede Form kurdischer Autonomie zu unterbinden.
Die Kräfte der syrischen Bevölkerung, die gemeinsam gegen Assad aufstanden, sind dieselben, die sich gegen die islamistischen und dschihadistischen Kräfte verbünden. Die Revolution von unten, in der sich die syrischen Volksmassen – Araber und Kurden – vereinen, ist der einzige Weg gegen konfessionelles Sektierertum, Rassismus und nationalen Chauvinismus.
Die Selbstbestimmung der Kurden wurde durch die syrische Revolution eingeleitet und muss weiter gehen, denn beide Prozesse sind in einem dialektischen Verhältnis miteinander verbunden.
Ein Ende des revolutionären Prozesses würde höchstwahrscheinlich ein Ende der der autonomen Region Rojava bedeuten. Die Hoffnungen der Kurden auf eine selbstbestimmte Zukunft würden auf den Widerstand des westlichen und russischen Imperialismus, des arabischen und türkischen nationalen Chauvinismus und der islamistischen Reaktionäre treffen.
Andersherum wäre der syrische revolutionäre Prozess nicht komplett, wenn die Kurden nicht die Möglichkeit hätten, frei über ihre Zukunft zu entscheiden – egal, ob dies zur Abspaltung oder zum gemeinsamen Kampf von demokratischen und progressiven Kräften für ein demokratisches, soziales, säkulares Syrien führt, in dem gleiche Rechte garantiert sind. Deshalb müssen wir uns allen Versuchen entgegenstellen, die kurdische Selbstbestimmung oder den syrischen revolutionären Prozess zu untergraben.
Das Interview führte Nora Berneis.
Fotos: U.S. Department of Defense Current Photos , FreedomHouse
Schlagwörter: Demokratie, Freie Syrische Armee, Imperialismus, Irak, Iran, IS, Islamischer Staat, Kobane, Kurden, PYD, Rassismus, Rojava, Russland, Selbstverwaltung, Syrien, USA