In den Niederlanden gewinnt die neoliberale Rechte die Parlamentswahl, während in ihrem Windschatten Faschisten aufbauen. Die Linke liegt am Boden. Ihre Probleme sind jedoch hausgemacht. Von Jeroen van der Starre
Jeroen van der Starre ist Mitglied der Gruppe Internationale Socialisten und Chefredakteur von socialisme.nu.
Die Parlamentswahl in den Niederlanden am 17. März endete mit einem weiteren scharfen Rechtsruck. Die neoliberalen Regierungsparteien – die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) von Ministerpräsident Mark Rutte und die liberalen Democraten 66 (D66), die mit ihrer marktradikalen Politik der letzten Jahre eine Spur der Verwüstung im Land hinterlassen haben, sind erneut Wahlsieger. Doch auch die extreme Rechte konnte so viele Parlamentssitze gewinnen wie noch nie, was vor allem auf den Aufstieg des neofaschistischen Forum voor Democratie (FvD) zurückgeht. Die Kräfte links der Regierungsparteien sind hingegen stark geschwächt. Für die niederländische Linke ist das Ergebnis ist ein Desaster.
Angesichts der desaströsen Regierungspolitik der letzten Jahre ist das starke Abschneiden von VVD und D66 keine Selbstverständlichkeit. Die Coronapolitik der niederländischen Regierung ist kaum besser als die von Trump oder Bolsonaro. Das nunmehr dritte Kabinett unter Mark Rutte hatte zudem drastische Kürzungen im Gesundheitssektor durchgesetzt, während die Wohnungspreise in den Niederlanden aberwitzige Ausmaße angenommen haben. Die Antwort der Regierung auf die sozialen Verwerfungen bestand in einer rassistischen Hetzjagd auf angebliche Sozialbetrüger.
Rassisten auf dem Vormarsch
Die Parteien des rechten Rands – Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (PVV), die Neofaschisten des FvD von Thierry Baudet und die neue FvD-Abspaltung JA21 – erreichten zusammen fast 18 Prozent der Stimmen.
Dem FvD gelang es sogar, die Zahl seiner Parlamentssitze zu vervierfachen. Dabei ist es erst wenige Monate her, dass die Partei von links-liberalen Kommentatorinnen und Kommentatoren für tot erklärt wurde, nachdem ihr Vorsitzender Thierry Baudet auf einer Parteiveranstaltung seinen Antisemitismus, sein Veschwörungsdenken und seine Nazi-Sympathien allzu offen gezeigt hatte. Die Hoffnungen, dass dem FvD daraufhin seine Wählerinnen und Wähler den Rücken kehren würden, haben sich jedoch als Wunschdenken entpuppt.
Die Linke in der Krise
Währenddessen sind die Parteien des linken Spektrums die großen Verliererinnen der Wahl. Zusammen betrachtet haben die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA), die Socialistische Partij (SP), die Grünen von GroenLinks (GL) und die Tierschutzpartei Partij voor de Dieren (PvdD) ihre Stimmen erneut deutlich dezimiert. Lediglich die Tierschutzpartei konnte leicht zulegen, während die PvdA stagniert. SP und GL kamen dagegen regelrecht unter die Räder und verloren mehr als ein Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler.
Der historische Tiefpunkt für das linke Lager kam jedoch nicht überraschend, sondern ist lediglich die formale Bestätigung seines tatsächlichen Zustandes. Das gesamte letzte Jahr haben alle linken Parteien ihr Bestes gegeben, um so wenig wie möglich aufzufallen und sich so wenig wie möglich von den Regierungsparteien zu unterscheiden.
Versagen in der Pandemie
Der Sieg von Mark Ruttes VVD und der D66 unter Sigrid Kaag ist nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, dass die Wahl inmitten der dritten Welle der Corona-Pandemie stattfand. Ein beachtlicher Teil der Wählerinnen und Wähler war auf der Suche nach Stabilität und fand diese bei der VVD und den D66 – und das trotz ihrer desaströsen Politik in der Pandemie, mit der sie die aktuelle dritte Welle im Grunde selbst organisiert haben, indem sie bei steigenden Infektionszahlen die Maßnahmen lockerten.
Fatalerweise blieb eine linke Kritik an dieser Politik aus. Die linken Oppositionsparteien unterstützten die Lockerungen nicht nur, sie forderten sogar mehr. Die einzige Alternative zum Regierungskurs kam von Rechtsaußen und basierte auf Verschwörungstheorien, Sozialdarwinismus und der absoluten Verweigerung, das Problem überhaupt anzuerkennen. Wer also auf der Suche nach Sicherheit in der Krise war, fand sich schnell bei den Regierungsparteien wieder.
Taktische Wahl und mediale Inszenierung
Ein weiterer Faktor für den Wahlausgang ist, dass viele Menschen mit ihrer Stimme die Wahl des Ministerpräsidenten beeinflussen wollten, da sie glauben, dass Parteien nur etwas erreichen können, wenn sie an der Regierung sind. Es war absehbar, dass Rutte nochmal Ministerpräsident werden würde und ein linker Premier war von vornherein undenkbar. Nur Sigrid Kaag von D66 hatte überhaupt eine kleine Chance, woraufhin viele Linkswählerinnen und -wähler letztlich ihre Partei unterstützten. Ein Viertel derjenigen, die diesmal D66 wählten, gab bei der letzten Wahl noch einer Partei aus dem Lager der Linken die Stimme.
Indem die Medien ein ständiges Wettrennen zwischen Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Premiers inszenierten, haben sie einen großen Anteil an diesem Fokus. Die Tatsache, dass ursprünglich drei Fernsehdebatten zwischen Rutte und Wilders geplant waren, ist ein deutliches Symptom dieses Problems. Zum Glück ist es den Medien jedoch nicht gelungen, die Idee eines Ministerpräsidenten Geert Wilders zu einer realen Möglichkeit zu stilisieren.
Faschistische Gefahr in den Niederlanden
Gleichzeitig haben es die Parteien des rechten Rands geschafft, sich weiter aufzubauen. Die PVV hat etwas an Stimmen verloren, bleibt aber drittstärkste Kraft – und dass mit Forderungen wie der nach einem Ministerium, das ethnische Säuberungen organisieren soll. Die FvD, deren Vorsitzender Baudet bewusst Leute mit Nazi-Sympathien um sich sammelt, konnte die Stimmverluste der PVV mehr als ausgleichen. Im Wahlkampf schaffte es Baudet, sich mit abstrusen Verschwörungstheorien und aberwitzigen Lügen Gehör zu verschaffen. Er folgte dem Vorbild Donald Trumps, peitschte seine Anhängerinnen und Anhänger auf und spornte sie an, eine »Armee« gegen die Linke zu bilden.
Indem Baudet konsequent alle Corona-Maßnahmen ignorierte, erweckte er den Eindruck, über dem Gesetz zu stehen. Mehrere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister bestärkten dieses Bild, indem sie ihm den roten Teppich ausrollten. Der Tiefpunkt dieses Trauerspiels wurde am Tag der Wahl in Amsterdam erreicht, als Bürgermeisterin Femke Halsema von GroenLinks einer Kundgebung der Neofaschisten Raum bot und diese eine Gegendemonstration angriffen. Anstatt gegen die rechten Gewalttäter vorzugehen, wurde die antifaschistische Gegendemonstration von Sondereinsatzkräften der Polizei eingekesselt. Bereits einige Tage zuvor hatte Baudet zu Gewalt angestachelt, indem er auf einer Kundgebung beklagte, dass sie »die Antifas noch nicht mal in die Fresse haben hauen dürfen«.
Fehlender Gegenwind
Die neofaschistische Rechte bekommt in der niederländischen Öffentlichkeit kaum Gegenwind zu spüren. Die Medien nahmen die PR-Stunts des Fvd-Führers stets für bare Münze. Sogar Witze über die Rechtsradikalen wurden unterbunden – nicht nur im öffentlichen Rundfunk, wie etwa in der Talkshow Jinek, sondern auch innerhalb von Parteien wie der SP oder GroenLinks. Rassismus, Verschwörungsdenken und die Einschüchterung politischer Gegner werden verharmlost und sogar die mildeste Kritik daran wird als inakzeptabel gerügt.
Baudet hat angekündigt, mit den rechten Straßenmobilisierungen weiterzumachen, was darauf hindeutet, dass sich seine FvD auch nach der Wahl auf die Straße konzentrieren wird. Während es neofaschistische Parteien wie die FPÖ in Österreich oder auch die AfD in Deutschland schwer haben, eine gewalttätige Straßenbewegung zu organisieren, hat die FvD verstanden, dass sie sich in den Niederlanden viel mehr erlauben kann. So stachelte Baudet auch die gewalttätigen Krawalle gegen die Corona-Maßnahmen der letzten Monate an. Kurz vor der Wahl veröffentlichte er die Adressdaten des Vorsitzenden eines Wahllokals in Edam und suggerierte, dass dieser Wahlbetrug betreiben würde. Einschüchterungsversuche wie dieser stoßen in der Öffentlichkeit jedoch kaum auf Empörung. Die Tür steht also sperrangelweit offen für den weiteren Aufbau einer gewalttätigen, faschistischen Bewegung auf der Straße.
Mit der neuen Partei JA21, die mit drei Sitzen ins Parlament einzieht, gibt es nun zudem eine dritte relevante Kraft am rechten Rand. Die Partei hatte sich erst vor einigen Monaten vom FvD abgespalten. Ihre Führungsköpfe haben danach ausführlich über den Faschismus von Baudet und seiner Gefolgschaft berichtet. Doch jahrelang hatten sie damit überhaupt kein Problem. Tatsächlich brachen sie mit Baudet über taktische Fragen: Die FvD war in den Umfragen am Boden und sie sahen in Baudets Verschwörungstheorien über die Corona-Pandemie die Ursache dafür. JA21 ist also eine Art FvD-light, ihre politischen Forderungen sind jedoch fast dieselben. Der wichtigste Unterschied ist, dass die FvD vor allem auf die Straße setzt.
Das Desaster der Linken
Die linke Parteien sind für ihren Opportunismus abgestraft worden, für ihre Fixierung auf Regierungsbeteiligung, für ihr Einknicken vor den Rechtsextremen und die traurige Tatsache, dass sie linke Grundüberzeugungen immer wieder mit Füßen treten. Die Verluste sind so groß, dass die SP-Vorsitzende Lilian Marijnissen am Wahlabend sich in den öffentlichen Nachrichten gezwungen sah, zu versichern, dass die SP »da ist und da sein wird«.
Die Schwächen der linken Parteien sind nicht neu, traten aber insbesondere im letzten Jahr verstärkt in Erscheinung. Auf keine der wichtigen Fragen der Zeit haben sie es geschafft, wahrnehmbare Antworten zu geben und eine linke Erzählung als Alternative anzubieten. Die SP spielte zwar eine gute Rolle beim Aufdecken der rassistischen Verfolgung von Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern seitens der Sozial- und Steuerbehörden, doch darüber hinaus hatte sie außer vagen Parolen über »Gerechtigkeit« und »Ehrlichkeit« nichts anzubieten.
In der Coronakrise plapperten die linken Parteien der Regierung nach, während Beschäftigte am Arbeitsplatz systematisch gefährdet werden. Sogar als bekannt wurde, dass Pflegekräfte ohne Schutzausrüstung in ihre Schicht geschickt wurden, blieben die linken Parteien still. Selbst das bloße Thematisieren von Klassenbelangen der Arbeitenden blieb während der Coronakrise fast gänzlich aus, ganz zu schweigen von deren wirksamen Vertretung.
Rassismus und Nationalismus
Rechte Medien und Meinungsmacher behaupten gerne, dass die Niederlande einfach immer rechter werden. Doch das gesellschaftliche Potential für die Linke ist durchaus da und sogar unverändert groß. Die rechten Regierungsparteien haben deutlich gezeigt, wohin ihre neoliberale Politik führt– etwa im Gesundheitssektor. Das Hauptproblem bei der Wahl war, dass es auf der linken Seite nicht viel zu wählen gab.
Während GroenLinks schon immer eine progressiv-liberale Partei für Besserverdiener war und in sozialen Belangen wenig anzubieten hat, redet die SP den Ultrarechten nach dem Mund, was Rassismus und Nationalismus angeht. Damit haben sie jedoch, anstatt Wählerinnen und Wähler von rechts zurückzugewinnen, an die Rechten verloren. Acht Prozent der FvD-Wählerinnen und Wähler haben bei der letzten Wahl noch die SP gewählt. Wiederholt behauptete die SP-Vorsitzende Lilian Marijnissen, die Rechte hätte SP-Standpunkte übernommen. Doch das ist nichts als Unsinn, der dazu dienen sollte, eine Koalition mit der rechtsliberalen VVD vorzubereiten. So hat die SP ihr traditionelles Klientel den rechten Regierungsparteien und der rechtsradikalen Opposition regelrecht ausgeliefert.
Lichtblick in den Niederlanden
Der einzige Lichtblick ist, dass die junge linke Partei Bij1 einen Sitz erringen konnte und damit erstmals ins Parlament einzieht. Damit kommt endlich eine antirassistische, feministische und LGBTQ+-freundliche Stimme ins Parlament und damit in die breitere Öffentlichkeit. Das ist bitter nötig.
Doch es bleibt die Frage, wie sich diese Partei zur linken Bewegung im weiteren Sinne verhalten werden wird. Obwohl Bij1 behauptet, eine Partei der Bewegung zu sein, fokussiert sie bisher auf die parlamentarische Arbeit. Am Aufbau von breiteren Bewegungen beteiligt sie sich noch wenig. So hat die Partei sich in den letzten Monaten auch geweigert, die Proteste gegen Rassismus und die Faschisten zu unterstützen. Die Gefahr ist daher, dass Bij1 mit dem Einzug ins Parlament gute Aktivistinnen und Aktivisten dort abziehen könnte, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Ob Bij1 einen Unterschied machen und ein Teil der hohen Erwartungen erfüllen kann, wird sich noch zeigen.
Angriffe von rechts drohen
Obwohl ein viertes Kabinett-Rutte mit nur drei Parteien nun unmöglich geworden ist, liegt es auf der Hand, dass VVD, D66 und die christdemokratische CDA die nächste Regierung stellen werden. Alle drei Parteien sind durch und durch neoliberal und haben sich Sozialabbau, Privatisierungen, Steuervorteile für multinationale Konzerne und den Abbau von Arbeitnehmerrechten auf die Fahne geschrieben. Die neue Wirtschaftskrise und die gestiegene Staatsverschuldung aufgrund der vielen Subventionen für das Kapital werden zu weiteren harten Angriffen auf die Interesse der Arbeitenden führen.
Das ist eine große Gefahr, insbesondere auch angesichts der starken rechtsradikalen bis neofaschistischen Opposition. Nicht nur, weil es schwer sein wird, Widerstand zu leisten gegen neue Angriffe der Regierungsparteien, sondern auch weil die extreme Rechte viel Raum haben wird, um sich als soziale Alternative darzustellen.
Die Tatsache, dass mit Tuur Elzinga ein sozialpartnerschaftlicher Vermittler zum Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsdachverbandes FNV gewählt wurde, macht die Lage nicht besser. Angesichts der Krise braucht es umso dringender eine aktive Gewerkschaftsbewegung, die in der Lage ist, die Interessen der Beschäftigten zu schützen und sich gegen weitere Angriffe zu wehren. Wenn es nach Elzinga geht, wird das nicht passieren. In der Talkshow Buitenhof lobte er noch letzte Woche den Bericht der Kommission zur Arbeitsmarktregulierung, der noch mehr Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes empfiehlt. Ähnlich ließ er sich auch über die Wahl aus: Viele Parteien wären sich mit der FNV einig. Jetzt ginge es darum, zu handeln.
Herausforderungen der Linken
Auf uns als Linke in den Niederlanden kommt sehr viel Arbeit zu. Die kommende Regierung wird ihre neoliberal-rechte Politik fortsetzen und wir können nicht davon ausgehen, dass die etablierten linken Parteien eine prinzipientreue Opposition bilden werden. Die politische Linke wird neu aufgebaut werden müssen. Eine neue linke Bewegung kann nur aus konkreten Klassenkämpfen hervorgehen, wozu auch die Kämpfe gegen den Klimawandel wie gegen Rassismus und Faschismus zählen müssen. Die faschistische Rechte hat an Selbstbewusstsein hinzugewonnen und ihre Gewaltbereitschaft gegen Minderheiten und Linke wächst. Diese faschistische Bedrohung zu bekämpfen wird eine unserer größten Herausforderungen der kommenden Zeit.
Der Aufbau von betrieblichen Kämpfen, Bewegungen gegen Sozialabbau, der Klimabewegung, der feministischen, antirassistischen, antifaschistischen und anderen Kämpfe gegen Unterdrückung sind überlebenswichtig. Zuallererst weil diese Kämpfe für sich genommen essentiell sind, aber auch weil eine neue linke Bewegung sich auf diese Kämpfe stützen muss. Die ehemalige SP-Abgeordnete Sadet Karabulut fasste dies am Wahltag in der Sendung Op1 gut zusammen: »Wir brauchen linke Zusammenarbeit, aber das muss eine Zusammenarbeit in Bewegungen sein, die von unten erreicht werden muss.«
Übersetzung aus dem Niederländischen von Freek Blauwhof.
Foto: Der Neofaschist Thierry Baudet. Credit: socialisme.nu
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