Rachid Benzine erzählt von seiner Mutter und ergänzt so die jüngsten Bücher über die Arbeiterklasse um den Blickwinkel einer Einwanderin. Von Jan Maas
Universitätsprofessor Rachid Benzine zieht zu seiner alten Mutter, als diese pflegebedürftig wird. Jeden Tag liest er der Analphabetin aus ihrem Lieblingsbuch vor: »Das Chagrinleder« von Honoré de Balzac.
Ausgehend von diesem Ritual erzählt Benzine in »Als ich ihr Balzac vorlas« die Lebensgeschichte seiner Mutter. Als junge Frau zog sie frisch verheiratet von Marokko nach Brüssel. Die Familie lebte zu siebt in einer Zweizimmerwohnung.
Scham für die Klasse
Anders als seine vier Brüder begann Rachid Benzine schon früh zu lesen. Sein Vater brachte von der Arbeit in einer Papierfabrik stapelweise alte Druckerzeugnisse mit. Doch je mehr er lernt, desto mehr schämt sich der Junge für seine ungebildete Familie.
Später schämt sich Benzine dieser Scham. »Als ich ihr Balzac vorlas« ist nicht nur ein bewegendes Buch über das Verhältnis eines Sohns zu seiner Mutter. Es ergänzt zudem aktuelle Werke über die Arbeiterklasse um die Perspektive eines Einwandererkinds.
Armut und Rassismus
Insbesondere Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« wird oft benutzt, um zu belegen, dass die Linke es aufgegeben habe, die Arbeiterklasse zu vertreten und sich lieber mit Identitätspolitik beschäftige – obwohl Eribon selbst sich gegen diese Interpretation wehrt.
Benzine fügt nun der Beschreibung der Abgehängten wichtige Facetten hinzu, die in der Diskussion über die politische Vertretung der Arbeiterklasse oft zu kurz kommen: dass diese multiethnisch ist, auch weiblich, und dass Rassismus eine eigene Form der Unterdrückung darstellt.
Vergessene Perspektive
Nachdem Benzines Vater in der Fabrik von einer Palette Papier erschlagen wird, bringt die Mutter die Familie alleine durch. Beklemmend schildert der Autor den Rassismus seitens der reichen Familien, für die die Mutter putzt, und seitens der Behörden.
Die Geschichte, die Benzine erzählt, hat sich so oder ähnlich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa millionenfach abgespielt. Sie ist darum im Grunde nichts Außergewöhnliches. Aber weil sie in der Regel nicht erzählt wird, ist das Buch doch etwas Besonderes.
Das Buch:
Rachid Benzine
Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter
Piper Verlag
München
2021
96 Seiten
16 Euro
Schlagwörter: Buchrezension, Rezension