Der Arabische Frühling zeigte sich nirgends in einer so starken Bewegung wie in Ägypten. Nun stehen die Revolutionäre von 2011 jedoch vor einem Scherbenhaufen. Weshalb, erklärt der ägyptische Sozialist Sameh Naguib.
marx21: Sameh, im Jahr 2011 stürzte eine Massenbewegung euren Diktator Husni Mubarak. Wie ist das Leben in Ägypten fünf Jahre später?
Sameh Naguib: Die Situation heute ist weitaus schlimmer als vor der Revolution von 2011. Das Regime von al-Sisi ist repressiver und gewalttätiger und für politische Oppositionelle gibt es heute weniger Raum als in irgendeiner früheren Phase, einschließlich der Jahre unter dem Diktator Mubarak. In den drei Jahrzehnten, die Mubarak an der Macht war, wurden 30.000 politische Verhaftungen gezählt. Seit Abd al-Fattah al-Sisi im Juli 2013 gestützt auf das Militär putschte, sind schätzungsweise 50.000 Menschen aus politischen Gründen eingesperrt worden. Ähnlich sehen die Verhältnisse in Bezug auf spurlos Verschwundene (allein in diesem Jahr waren es etwa tausend) und außergerichtliche Hinrichtungen von oppositionellen Aktivistinnen und Aktivisten aus. Auch Folter und Vergewaltigung im Gefängnis, auf Polizeirevieren und in illegalen Verwahrungslagern hat beispiellos zugenommen.
Es ist heute tatsächlich schlimmer als unter Mubarak?
Ich will bestimmt nicht das Regime Mubaraks verteidigen. Denn es war brutal, autoritär, korrupt und setzte extreme neoliberale Maßnahmen um. Es stürzte die Mehrheit der Bevölkerung in Armut, während gleichzeitig die reichste Gruppe monopolistischer Milliardäre in der Geschichte des Landes entstand. Ich will nur das Wesen des gegenwärtigen Regimes verdeutlichen: Wir erleben nicht einfach die Restauration des alten Regimes, sondern gegenwärtig sollen die Massen für ihre Revolution bestraft werden. Das Gefühl von Befreiung und das Selbstvertrauen, das sie entwickelt haben, soll gebrochen werden. Was wir erleben, ist eine vollständige Konterrevolution und nicht einfach eine Wiederherstellung des alten Regimes.
Während der achtzehn Tage, in denen Mubarak gestürzt wurde und Millionen Menschen die großen öffentlichen Plätze in Ägypten besetzen, herrschte ein Gefühl beispielloser Hoffnung und Zuversicht. Kein Polizeirevier blieb unversehrt, kein Büro der Regierungspartei überstand den Protest. Kein Polizeiauto war zu sehen und kein Polizist wagte es, sich in Uniform zu zeigen. Formen direkter Demokratie bildeten sich heraus und wir begannen die Wohnquartiere zu verteidigen. Die größten Streikbewegungen der Geschichte des Landes brachen aus und brachten Tausende unabhängige Gewerkschaften hervor.
Die heutige Lage könnte sich nicht drastischer von dieser Zeit unterscheiden. Der Tahrirplatz, das Symbol und Epizentrum der Revolution, ist in ein riesiges Polizei- und Armeelager verwandelt worden. Panzer, Stacheldraht, Informanten und Polizeischläger stehen an allen Ecken und auf den Dächern sind Scharfschützen postiert. Bei dem ersten Zeichen einer Demonstration sind sie bereit einzuschreiten. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst und Anspannung, aber auch wachsende Wut und Frustration sind zu spüren. In den vergangenen Monaten hat es im ganzen Land äußerst mutige Demonstrationen von Oberschülerinnen und -schülern gegeben, einen großen Streik in der größten Textilfabrik des Landes in Mahalla und in Kafr al-Dawar im Nildelta. Außerdem demonstrieren Unterstützerinnen und Unterstützer der Muslimbruderschaft wöchentlich. All dies geschieht jedoch unter viel schwierigeren und gefährlicheren Umständen als jemals zuvor.
Bei den Protesten in Januar und Februar 2011 wurde große Hoffnung in die Armee gesetzt. Protestierende kletterten auf Panzer und sangen. Wo steht das Militär heute?
Das stimmt so nicht. Die Menschen warteten darauf, was die Armee tun würde, nachdem die Polizei geschlagen war. Die ägyptische Armee besteht zum größten Teil aus Wehrdienstpflichtigen. Die meisten Soldaten stammen aus Arbeiterfamilien. Den Generälen war es damals einfach nicht möglich, diesen Soldaten den Befehl zu geben, auf die Protestierenden zu schießen. Das hätte zu Meutereien geführt. Daher erklärten die Generäle öffentlich ihre Neutralität, während sie gleichzeitig Teile der verbliebenen Polizei und die Schlägern des Regimes mit Munition und Logistik unterstützten. Sie distanzierten sich geschickt von Mubarak, obwohl sie zum Kern seines Herrschaftsapparats gehörten.
Angehörige der Mittelschicht und der Muslimbruderschaft gaben sich deshalb der Illusion hin, dass sich Mubaraks Armee hinter die Revolution gestellt habe. Der Fortgang der Geschichte hat gezeigt, welch großer Irrtum das war. In den Monaten nach dem Februar 2011 wuchs der Zorn auf die Armeeführung rasch. Bei den großen Platzbesetzungen wurden Forderungen gegen die Herrschaft der Armee immer lauter. Es gab den Ruf nach Revolutionstribunalen gegen Mubaraks Generäle. Die Muslimbruderschaft und manche der mit ihnen verbündeten Salafisten unterstützten aus opportunistischen Gründen die Armeeführung, weil sie darauf hofften, sich die Macht mit dem Militär teilen zu können.
In den Jahren vor der Revolution gab es beeindruckende Arbeitskämpfe, meist in den Textilfabriken im Norden. Was war deren Einfluss auf die Revolution?
In den Jahren 2004 bis 2006 gab es mehrere Streikbewegungen. Sie nahmen ihren Ursprung in den großen Textilfabriken in al-Mahalla al-Kubra und breiteten sich schnell auf alle Branchen des verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungssektor aus, sogar auf den öffentlichen Dienst. Das waren die größten Streiks, die das Land je gesehen hatte.
Im Jahr 2008 kam es dann fast zu einem Aufstand in Mahalla, dem Zentrum der Textilindustrie. Mehr als 150.000 Menschen demonstrierten. Sie boten der Polizei die Stirn und beseitigten alle Symbole, die für Mubarak und seine Regierungspartei standen. Der Aufstand konnte nur mit Gewalt niedergeschlagen werden. Diese Streiks und Massendemonstrationen waren wesentlich für die Revolution von 2011. In gewisser Hinsicht waren das die Generalproben, bei denen Selbstvertrauen entwickelt und Erfahrung für die spätere Revolution gesammelt wurde.
Obwohl die Arbeiterbewegung so wichtig für den Sturz Mubaraks war, scheinen die Parteien, die mit ihr verbunden sind, am wenigsten Zulauf gehabt zu haben. Warum konnte die Muslimbruderschaft, die kaum an den Kämpfen beteiligt war, danach zur stärksten Kraft werden?
Zunächst einmal stimmt es nicht, dass keine mit der Arbeiterklasse verbundene Partei im Verlauf der Revolution gewachsen ist. Die Gruppe Sechster April (benannt nach dem Streik in Mahalla an diesem Tag; Anm. d. Red.) und die Revolutionären Sozialisten konnten sehr schnell viele Mitglieder gewinnen. Aber sie waren noch kleine Organisationen, während die Muslimbruderschaft im ganzen Land bereits über Massenorganisationen verfügte. Sie stellte zur Zeit der Revolution tatsächlich die einzige oppositionelle politische Kraft mit einer Massenbasis dar. Daher ist es nur logisch, dass sie der Gewinner der Bewegung war. Es stimmt auch nicht, dass sich die Muslimbrüder nicht an den Kämpfen beteiligt hätten. Sie gehörten in den Jahren 2004 bis 2007 zu den treibenden Kräften der Bewegungen für Demokratie und gegen Mubarak. Und obwohl ihre Führung den Aufruf zum 25. Januar 2011 nicht mittrug, waren die Jugendlichen der Muslimbruderschaft vom »Tag der Wut« am 28. Januar bis zum Sturz Mubaraks wesentlich an dem Kampf beteiligt.
Jetzt ist die Muslimbruderschaft extremen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt. Ihr Führungspersonal sitzt im Gefängnis, hunderte ihrer Aktivisten wurden umgebracht. Wie konnte es dazu kommen?
Nun, die ägyptische Revolution hatte das Pech, zweimal verraten zu werden: zuerst von der Muslimbruderschaft, die sich nach Mubaraks Sturz mit der Militärführung verbündete. Zugleich führte sie, sobald sie an der Regierung war, den neoliberalen Kurs Mubaraks fort.
Die Revolution wurde dann ein zweites Mal verraten, als der Großteil der säkularen Opposition – Linke, Liberale und Nationalisten – sich mit Flügeln des alten Regimes, der Armee und der Polizei verbündeten, um die Muslimbruderschaft zu bekämpfen.
Die Zugeständnisse der Muslimbruderschaft an das alte Regime und den Staatsapparat und der Verrat der säkularen Opposition desorientierten und entmutigten viele, die ihre Hoffnung in die Revolution gesetzt hatten. Das bot der Militärführung zusammen mit den Geheimdiensten und dem Sicherheitsapparat die Gelegenheit zur Konterrevolution.
»Die Wahl in Ägypten war eine völlige Farce!«
Wie wichtig sind die Parlamentswahlen? Gibt es linke Parteien, die weiter für die Ziele der Revolution einstehen?
Wenn du die jüngste Wahl meinst: Die war eine völlige Farce. Mehr als die Hälfte der neugewählten Abgeordneten stehen mit Mubaraks Nationaldemokratischer Partei in Verbindung, die restlichen mit den Geheimdiensten oder sie gehören Parteien an, die Geschäftsleute aus dem Umfeld al-Sisis gegründet haben. Kein Mitglied und kein Unterstützer der Muslimbruderschaft durfte bei der Wahl antreten. Kein Mitglied und kein Unterstützer der unabhängigen oder sozialistischen Organisationen, die auf irgendeine Weise mit der Revolution zu tun hatten, zog auch nur eine Kandidatur in Erwägung. Das gegenwärtige ägyptische Parlament sieht aus wie die Volkskammer der DDR, nur dass es keine klar definierte Einheitspartei an der Spitze gibt.
Was erwartest du für die nähere Zukunft?
Ich glaube nicht, dass sich die gegenwärtige Lage dauerhaft aufrechterhalten lässt. Die Wirtschaftskrise vertieft sich. Sogar die Geldzuschüsse aus Saudi-Arabien versiegen, weil der Ölpreis sinkt. Das Regime hat eine Reihe von milliardenschweren Megaprojekten angestoßen, an denen, nebenbei erwähnt, deutsche Firmen massiv beteiligt sind.
Alle strukturellen Probleme, die durch Mubaraks autoritären Neoliberalismus geschaffen wurden und zur Revolution führten, verschärfen sich immer weiter. Dasselbe Bündnis aus Polizei- und Armeegenerälen, europäischen und amerikanischen Konzernen und ägyptischen Multimilliardären wie zu Mubaraks Zeiten regiert weiterhin das Land. Seine Vertreter sind durch und durch korrupt und werden vor Strafverfolgung geschützt. Das hat verheerende Folgen, wie man an dem Anstieg terroristischer Anschläge, dem Verfall des ägyptischen Pfunds und dem Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes sehen kann.
Auf der anderen Seite hat die Revolution das Bewusstsein von Millionen Menschen verändert. Sie haben viel über Streiks, Organisierung und Straßenkämpfe gelernt. Sie haben Selbstvertrauen und Widerstandswillen gewonnen. Das sollte uns trotz allem optimistisch stimmen, wenn wir an die Zukunft denken.
Es ist nie nötiger gewesen als jetzt, sich organisatorisch auf die Kämpfe der Zukunft vorzubereiten. Die revolutionäre Linke muss, so schwierig die Bedingungen auch sind, ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie muss sich in der Gesellschaft verankern und Kader in der Arbeiterbewegung aufbauen, aber auch unter Studierenden, Frauen und den unterdrückten Minderheiten.
Das bedeutet, dass die internationale Linke in der Verantwortung steht, Solidarität mit den Menschen in Ägypten und ihrem Widerstand gegen die brutale Militärdiktatur al-Sisis zu leisten. Dass er ohne größeren Protest Deutschland, Frankreich und Großbritannien besuchen kann, ist eine Schande. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.
Die Fragen stellte Stefan Ziefle.
Zur Person: Sameh Naguib ist ein ägyptischer Sozialist. Er wird beim Kongress »MARX IS‘ MUSS 2016« sprechen.
Foto: alisdare1
Schlagwörter: Ägypten, al-Sisi, Arabellion, Arabischer Frühling, Arbeiterbewegung, Militär, Revolution