Armut und Bürgerkrieg zum Trotz stellten die ersten Jahre der russischen Revolution einen beispiellosen Fortschritt für Frauen dar. Doch 20 Jahre nach der Oktoberrevolution kettete der Stalinismus die Frauen wieder an Kind und Küche. Von Lena Gromka und Oskar Stolz
Mutterschutz
Bis zum Jahr 1917 war das Leben insbesondere von arbeitenden Frauen von Unterdrückung und Beschwerlichkeiten geprägt. Während der Schwangerschaft hatten sie mit großen Widrigkeiten zu kämpfen. Sie mussten bis kurz vor der Geburt arbeiten und wurden in Kliniken – sofern sie überhaupt Zugang dazu hatten – schlechter behandelt. Das Volkskommissariat für staatliche Fürsorge unter Alexandra Kollontai führte 1918 einen Mutterschaftsschutz von acht Wochen vor und nach der Geburt ein und eröffnete kostenlose Entbindungskliniken. Die Ärztinnen und Ärzte wurden vom Staat bezahlt, um die Klassenmedizin abzuschaffen. Außerdem professionalisierte er die Ausbildung der Pflege.
Recht auf Abtreibung
So wichtig die Reformen des Mutterschutzes waren, so essenziell war die Einführung des Rechts auf Abtreibung. Jahrhundertelang waren Frauen gezwungen gewesen, lebensgefährliche Methoden anzuwenden, um ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Sie tranken Blei, schlugen auf ihre Bäuche ein und beteten zu bösen Geistern, um eine drohende Geburt abzuwenden. 1920 erließ der Rat der Volkskommissare eine Verordnung, welche die Bestrafung von Abtreibungen aufhob – er war weltweit die erste Regierung, die das tat. Jede Frau erhielt das Recht auf eine ärztlich eingeleitete und überwachte Abtreibung.
Neue Ehe
Die damalige Ehe unterstützte die geschlechtliche Arbeitsteilung und die Rolle der Frau hinter dem Herd. Um dies zu bekämpfen, bestimmte der Rat der Volkskommissare noch 1917 den rechtlichen Status von Mann und Frau in einer Ehe als gleichwertig. Der Mann verlor somit seine rechtliche Verfügungsgewalt über die Frau. Die Regierung stellte die Ehe auf zivilen statt religiösen Boden und schaffte den Status des unehelichen Kinds ab. Frauen konnten ihren eigenen Nachnamen behalten. Die neue Ehe war jederzeit einseitig auflösbar. Hierzu mussten die Betreffenden lediglich eine formlose Erklärung gegenüber der entsprechenden Behörde einreichen.
Volksküchen und Wäschereien
Da sich der Rat der Volkskommissare über die Funktion der Familie und die Last der Reproduktionsarbeit bewusst war, strebte er an, kollektive Strategien dafür zu finden. So veranlasste die Regierung, Stillräume in Fabriken einzurichten, organisierte Beratungsstellen und Frauenhäuser und führte Kinderkrippen ein. Sie reformierte die Kinderheime und führte den gemeinsamen Schulunterricht von Jungen und Mädchen ein. Neue Wohnformen wurden etabliert und kollektive Wäschereien eingeführt. Im Jahr 1919 ernährten Volksküchen 90 Prozent der Menschen in Petrograd und 60 Prozent in Moskau.
Hausarbeit kehrt zurück
Im Jahr 1921 begann mit der Neuen Ökonomischen Politik ein politischer Rückzug, nicht nur in Bezug auf die Frauenfrage. Insbesondere Volksküchen, Familienhäuser und Kinderkrippen waren von der Kürzung der kommunalen Ausgaben betroffen. Die Versorgung der Familie wurde zunehmend wieder Privatsache, was für Frauen bedeutete, erneut unter das Joch der Hausarbeit gezwängt zu werden. 1936 schrieb die stalinistische Führung die Reaktivierung der traditionellen Familie endgültig fest, da sie nun wieder Aufgaben erfüllen sollte, die der Staat nicht mehr übernahm: Er schaffte Volksküchen ab und hörte auf, kommunale Wäschereien zu finanzieren.
Doppelbelastung
Im Zuge des ersten Fünfjahresplans von 1928/29 setzte die Regierung Frauen insbesondere in Bereichen härtester Arbeit mit geringsten Ausbildungsvoraussetzungen ein. Die Zahl der berufstätigen Frauen verfünffachte sich bis 1940. Die einseitige Orientierung auf die Schwerindustrie und die gleichzeitige Vernachlässigung der Ausgaben in kommunalen Bereichen verschärfte die Doppelbelastung der Frauen, die nun sowohl einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, als auch für die Hauswirtschaft der Familie zuständig waren. Unter solchen Bedingungen ist der hohe Anteil arbeitender Frauen kein Zeichen für ihre Befreiung.
Mutterkult im Stalinismus
Das Bild vom »Mutterland des Sozialismus« in Zusammenhang mit der Ideologie des »Sozialismus in einem Land« machten das Thema Mutterschaft zu einem zentralen Thema der stalinistischen Propaganda. Die Regierung belohnte Geburten mit Bargeld und führte Orden diverser Rangordnungen für Mütter mit überdurchschnittlich vielen Kindern ein. Alleinstehende und Paare mit wenigen Kindern mussten hingegen zusätzliche Steuern entrichten.
Gesellschaftlicher Rückschritt
Die stalinistische Führung nahm Schritt für Schritt die politischen Errungenschaften aus der Revolutionszeit wieder zurück. So stellte sie 1934 Homosexualität wieder unter Strafe und bestrafte sie mit Zuchthaus. Es gab staatliche Kampagnen gegen Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern und gegen Ehebruch. Auch die Möglichkeit zur legalen Abtreibung beendete die Regierung und stellte Abtreibungen 1936 wieder unter Strafe. Ab 1843 wurden Mädchen und Jungen wieder getrennt unterrichtet. Im Juli 1944 machte sie Scheidungen nur noch über Gerichtsverfahren möglich und verband sie mit empfindlichen Geldstrafen und Eintragungen in Personalpapiere. Zudem hob sie die gesetzliche Gleichheit zwischen ehelichen und unehelichen Kindern auf.
Zu den Personen:
Oskar Stolz ist Mitglied der LINKEN und Autor des Artikels »Eine marxistische Theorie der Frauenunterdrückung« im Journal theorie21 1/2015. Lena Gromka ist Aktivistin in Berlin und lohnarbeitet als Psychologin.
Schlagwörter: Alexandra Kollontai, Feminismus, Frauen, Frauenbefreiung, Frauenrechte, Frauenunterdrückung, Kollontai, Revolution, Russische Revolution, Stalin, Stalinismus