Nach der Oktoberrevolution war Alexandra Kollontai die erste Ministerin der Welt. Gemeinsam mit vielen anderen Frauen trieb sie den Kampf um Befreiung voran. Von Katrin Schierbach
»Wohin geht das Geld der Menschen? Zu den Schulen, den Krankenhäusern, zum Wohnungsbau, zum Mutterschutz und zur Versorgung von Kindern? Nichts davon geschieht. Das Geld der Menschen finanziert blutige Auseinandersetzungen. Die Bänker, die Fabrikbesitzer, die Geldsäcke der Landbesitzer sind für den Krieg verantwortlich. Sie alle gehören zu einer Bande von Dieben. Und die Menschen sterben. Sammelt Euch unter dem roten Banner der Bolschewistischen Partei!«
Diese Worte richtete Alexandra Kollontai im Frühjahr 1917 an eine Massenversammlung. Die Revolutionärin war eine der beliebtesten und mitreißendsten Rednerinnen der Bolschewiki. Nach der Oktoberrevolution wurde sie 1917 Volkskommissarin, also Ministerin, für staatliche Fürsorge, Jahre und Jahrzehnte, bevor in westlichen Industrienationen Frauen in Regierungen Ämter ausübten. Von 1920 bis 1922 leitete sie die Frauenabteilung der Bolschewiki Zhenodtel und arbeitete später als Diplomatin in Norwegen und Schweden.
Aktiv gegen Unterdrückung
Geboren im Jahr 1872 in eine adeligen Familie, trat Alexandra Kollontai 1896 der damals verbotenen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Eine ihrer Lehrerinnen gab ihr erste marxistische Texte, und ihre folgenden Begegnungen mit Arbeiterinnen beeindruckten sie sehr. Sie beschloss, sich gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu engagieren. Dabei konzentrierte sie sich auf die Arbeit unter Frauen, überzeugt davon, dass ohne deren politische und gewerkschaftliche Widerstände eine andere, gerechte Gesellschaft nicht möglich werde.
Schon in ihrer 1909 erschienenen Broschüre »Die soziale Basis der Frauenfrage« schreibt sie: »Frauen können nur in einer Welt wirklich frei sein, die sozial und produktiv anders organisiert ist. Dies meint nicht, dass parzielle Verbesserungen im Leben von Frauen in der modernen Gesellschaft nicht möglich sind. (…) Im Gegenteil, jede gewonnene Auseinandersetzung der Arbeiterklasse bedeutet einen Schritt, der die Menschheit zum Königreich der Freiheit und der sozialen Gleichheit führt – jedes Recht, dass eine Frau gewinnt, bringt uns dem Ziel der Emanzipation näher.«
Nach der Oktoberrevolution
Die Gesetzgebungen nach der Oktoberrevolution gelten als weltweit am fortschrittlichsten in den damaligen Industriegesellschaften. Kollontai war mit diesen Gesetzen jedoch noch nicht zufrieden, arbeitete an Verbesserungen und kritisierte: »In der Scheidungsfrage sind wir etwa auf dem gleichen Niveau mit Nordamerika, wohingegen wir in der Frage der außerehelichen Kinder noch nicht einmal den Stand Norwegens erreicht haben.«
In ihrem Ministerium schaffte sie alle Hierarchien ab, es fanden regelmäßig Zusammenkünfte und Diskussionen aller dort Beschäftigten statt. Louise Bryant, US-amerikanische Sozialistin, Journalistin und Augenzeugin vieler Monate nach der russischen Revolution schreibt: »Dort sollten alle Vorschläge, egal ob von der Putzfrau oder den leitenden Beamten, diskutiert werden.« 1918 riefen Kollontai, Inessa Armand, Konkordia Samoileva und Klaudia Nikolaeva die erste Gesamtrussische Frauenkonferenz ins Leben.
Mehr Frauen beteiligten sich
In ganz Russland versammelten die Mitarbeiterinnen der Frauenabteilung Arbeiterinnen und Bäuerinnen, diskutierten und wählten Delegierte. Etwas mehr als tausend kamen zusammen. Bei aller Freude über die Revolution kritisierten Delegierte deutlich, dass Vorhaben der Regierung nicht voll umgesetzt wurden. Samoileva berichtete: »Arbeiterinnen erlitten Enttäuschungen und beschuldigten die Sowjetregierung, ihre Versprechen nach Brot und Land nicht zu halten.« Dies lag an der schlechten Versorgungslage nach dem Krieg.
Parallel zu den Versuchen, die doppelte Belastung von Frauen zu beseitigen, entwickelte Kollontai Vorlesungen zur Volksbildung. Sie sind unter dem Titel »Die Situation der Frau in der geschichtlichen Entwicklung« aus dem Jahr 1921 zusammengefasst. Gemeinsam mit hunderten Mitstreiterinnen in der Frauenabteilung versuchte sie, mithilfe dieser Vorlesungen die Alphabetisierung und die Politisierung von Frauen in ganz Russland voranzubringen. Die Aktivistinnen erhofften sich, dass die Frauen dadurch stärker in das politische Geschehen eingreifen würden.
Und das taten sie. Die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen stieg. Die politische Beteiligung stieg. Mehr und mehr Frauen lasen und schrieben Artikel. Sie forderten politische Rechte und Arbeitsrechte ein und setzten diese auch durch. Die Scheidungsraten stiegen. Viele Frauen wandten sich auch an das Zhenotdel, um Beziehungsfragen zu klären. Einige Beispiele hat Kollontai in dem Band »Wege der Liebe« veröffentlicht. Es gelang mit dieser gemeinsamen Arbeit, tausende junge Frauen für die Bolschewiki zu gewinnen.
Radikalisierung im Krieg
Ein Beispiel für solch einen Werdegang von Politisierung und Unterstützung ist A. E. Rodinova, eine Straßenbahnfahrerin aus Petrograd. Sie beschreibt, wie sie sich durch ihre Arbeit und ihre Erfahrungen im Krieg und in der Revolution radikalisierte. Wie viele Kinder aus der Arbeiterklasse arbeitete sie bereits als junges Mädchen. 1914 wurde sie Straßenbahnfahrerin. Sie konnte nicht rechnen. Ihre Route passierte die Putilow-Werke, in der viele sozialdemokratische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren. Diese halfen ihr beim Einsammeln und Berechnen der Fahrpreise.
Sie lernte auch, dass sie sich gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen erfolgreich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen wehren konnte. Als nach der Februarrevolution 1917 die Bolschewiki und Genossinnen um Alexandra Kollontai entschieden, die Zeitung Rabotnitsa (Die Arbeiterin) wieder herauszugeben, war Rodinova bereits so radikalisiert und mutig, dass sie drei Tagesgehälter ihres geringen Einkommens spendete, um die ersten Ausgaben mitzufinanzieren.
Die Doppelbelastung blieb
Im Sommer desselben Jahres schloss Rodinova sich den Bolschewiki an. Vor der Oktoberrevolution, als die Provisorische Regierung zu einer Entwaffnung der Arbeiterinnen und Arbeiter aufrief, versteckte sie 42 Gewehre und andere Waffen in ihrem Straßenbahn-Depot. Während der Oktoberrevolution war sie dann dafür verantwortlich, dass Straßenbahnen mit Maschinengewehren zum Winterpalais fuhren, dass die Straßenbahnen während der Erhebung die Aufständischen transportieren konnten.
Alte Rollenbilder waren in der Revolution allerdings nicht komplett überwunden – so gab es nach wie vor Vorurteile gegenüber Frauen und sie trugen bei allen Erleichterungen immer noch eine Doppelbelastung durch Erwerbs- und Familienarbeit. Es gab wenige Frauen an der Spitze der neuen Regierung. Viele Tätigkeiten von Frauen in der neuen Gesellschaft waren die klassischen »Frauenaufgaben« wie Erste Hilfe und Verpflegung. Und dennoch rissen die russischen Frauen in der Revolution viele gesellschaftliche Stereotype nieder. Alexandra Kollontai bleibt eine ihrer herausragenden Stimmen.
Foto: Emilio__
Schlagwörter: Alexandra Kollontai, Arbeiterklasse, Feminismus, Frauen, Frauenbefreiung, Frauenunterdrückung, Kollontai, Oktoberrevolution, Revolution, Russische Revolution, Sexismus