Griechenland hat gewählt, Syriza ist weiterhin Regierungspartei. Doch eine Frage bleibt: Wie kann das Kürzungsdiktat gestoppt werden? Ein Beitrag von Lucia Schnell
1. Syriza hat die Wahl gewonnen, weil die Wählerinnen und Wähler die Rückkehr der alten Parteien verhindern wollten.
Die griechische Linkspartei Syriza hat die Parlamentswahl am 20. September gewonnen, weil ihre Wählerinnen und Wähler eine Rückkehr der alten Eliten verhindern wollten. Obwohl Ministerpräsident Alexis Tsipras die Umsetzung des Spardiktats der EU zugesagt hat, ist er im Laufe des Wahlkampfs radikaler aufgetreten: Er hat sowohl neue Kämpfe für die Milderung der Maßnahmen als auch harte Verhandlungen für einen Schuldenschnitt versprochen. Um Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, betonte er zudem, dass das Abkommen mit der EU befristet sei. Er bleibe ein Gegner derjenigen, die ihn zum Abkommen gezwungen haben.
Dennoch waren deutliche Unterschiede zu seinen Wahlkampfreden vom vergangenen Winter zu erkennen. Seine Rhetorik richtete sich jetzt weniger gegen die Austeritätspolitik, die Kürzungen und die Privatisierungen als gegen das »alte politische System«, verkörpert vor allem durch den Hauptrivalen, die konservative Nea Dimokratia (ND). Tsipras‘ Strategie, die Wahlen zu gewinnen, bevor die Sozialkürzungen in Kraft treten und die Kritiker in den eigenen Reihen zu schwächen, ist aufgegangen – trotz seiner Kapitulation vor der Troika.
2. Die Kapitulation der Tsipras-Regierung vor der Troika ist das Ergebnis ihrer politischen Strategie.
Syriza hat versucht, die Sparpolitik in Griechenland durch Regierungsübernahme und anschließende Verhandlungen mit der EU zu beenden. Die Regierung Tsipras wollte um jeden Preis am Euro festhalten. Daher hat sie den Weg der Einigung mit den Institutionen gewählt – und nicht den des Klassenkampfs und der Konfrontation.
Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Die EU-Institutionen und die europäischen Eliten konnten Athen im Sommer massiv erpressen: Sowohl griechische als auch andere europäische Unternehmen zogen massiv Kapital ab. Die EU verwehrte Griechenland jeden neuen Kredit und die Europäische Zentralbank sperrte Gelder für das griechische Bankensystem. Dem konnte die von Syriza geführte Regierung keine Gegenmacht entgegensetzen.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, die EU würde nun bei Nachverhandlungen zu Kürzungsdiktat und Schuldenschnitt nachgeben. Das dritte Sparpaket verbietet ausdrücklich »einseitige Maßnahmen«, also Schritte, die nicht mit den EU-Institutionen abgesprochen und von ihnen abgesegnet sind. Ab Oktober muss Athen Steuern erhöhen, Renten kürzen und Staatseigentum privatisieren. Ferner ist die Regierung gezwungen, den Unternehmen Massenentlassungen zu erleichtern und die Arbeitnehmerrechte einzuschränken. Zudem muss sie einen Nachtragshaushalt für 2015 und den Haushalt für 2016 vorlegen. Sonst droht die Troika damit, die Gelder für November nicht auszuzahlen – und damit einen Staatsbankrott in Kauf zu nehmen.
3. Debatten über Alternativen sind weiter nötig. Denn die Widersprüche bleiben bestehen.
Die europäischen Institutionen werden die griechische Regierung in der Frage der Euro-Mitgliedschaft weiter erpressen. Daher sind Debatten über Alternativen zur Euro-Politik weiterhin notwendig, selbst wenn eine Rückkehr etwa den nationalen Währungen der 1990er Jahre keine Lösung im Sinne der werktätigen Klassen sein kann.
Ein »Grexit«, also der Austritt Griechenlands aus dem Euro, ist zwar eine Voraussetzung für eine sozialistische Perspektive zur Krisenlösung, nicht aber eine hinreichende Bedingung. Notwendig wäre die Kombination von Grexit und einem Kampf für Übergangsforderungen, die die Macht der Banken und des Kapitals in Frage stellen. Solche Forderungen könnten beispielsweise sein: ein Ende der Schuldentilgung, die Verstaatlichung der Banken und Großbetriebe unter Arbeiterkontrolle oder das Verbot von Massenentlassungen.
4. Die Aufgabe der Linken lautet: Opposition statt Regierung.
Aus Sicht der Eliten kann eine linke Regierung in Krisenzeiten hilfreich sein, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Beispielsweise sprach sich der Chef des griechischen Industrieverbands im Vorfeld der Wahl für eine große Koalition aus Syriza und den Konservativen aus. Und das unternehmerfreundliche »Handelsblatt« warnte drei Tage vor dem Urnengang: »Sollten die Griechen bei der Wahl Tsipras und die Syriza auf die Oppositionsbank schicken, könnte das eine politisches Fiasko bedeuten. Denn dann dürfte Tsipras sehr schnell in eine Totalopposition gegen das Reformprogramm zurückfallen – mit möglicherweise katastrophalen Folgen nicht nur für die Finanzierung, sondern auch für den sozialen Frieden des Krisenlandes.«
Damit trifft die Wirtschaftszeitung einen wahren Punkt. Während die erneute Regierungsübernahme die Syriza-Führung an den bürgerlichen Staat bindet, hätte eine oppositionelle Linkspartei den sozialen Protest gegen das Kürzungsdiktat befördern können.
»Regierungsverantwortung« hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass linke Parteien ihren eigenen Zielen und den Interessen ihrer Anhängerschaft zuwider handeln. Der Grund dafür ist, dass der Staatsapparat nicht neutral und kein Instrument des Klassenkampfs ist. Rosa Luxemburg schrieb bereits im Jahr 1899: »Es ist freilich Tatsache, dass die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muss. Allein als Voraussetzung gilt dabei, dass es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann. (…) In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.« Auch für Syriza erwies sich der Staatsapparat in der Situation der finanziellen Erpressung nicht als Instrument, um die Kapitalflucht zu stoppen, die Banken zu verstaatlichen oder die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Vielmehr sind demokratische Strukturen notwendig, die den bürgerlichen Staatsapparat ersetzen und die Produktion nach den Bedürfnissen der Menschen reorganisieren können. Diese können aber nur durch eine Massenbewegung entstehen. Kampffelder für Linke im Kapitalismus sind nicht Staatsapparate, sondern Klassenkämpfe. Dort steckt das Potenzial, eine Gegenmacht gegen Banken und Konzerne aufzubauen.
Doch die Syriza-Führung hat sich für den gegenteiligen Weg entschieden. Durch die Koalition mit der bürgerlich-nationalistischen Partei Anexartiti Ellines (Unabhängige Griechen, ANEL) hat sie von Anfang an klar gemacht, dass von ihr keine Gefahr für den Staatsapparat ausgeht. Sie hat das Verteidigungsministerium und das Innenministerium an ihren nationalistischen Koalitionspartner und an unabhängige Minister gegeben. Diese sind für die Repressionsorgane Militär und Polizei verantwortlich, deren Aufgabe es ist, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das erneute Bündnis mit ANEL und deren erhöhter Einfluss in der neuen Regierung signalisieren weitere politische Zugeständnisse in den Bereichen soziale Rechte sowie Einwanderungs- und Rüstungspolitik.
5. Die erzwungene Kapitulation hat verheerende Wirkungen auf die Partei Syriza.
Syriza ist mit der Regierungsübernahme zu einer anderen Partei geworden. Zwar gibt es innerhalb der Partei noch Akteure, die den Kurs der Führung kritisieren. Doch hunderte Funktionäre und Amtsträger sowie der Großteil der parteinahen Jugendorganisation haben Syriza nach der Kapitulation vor der der Troika verlassen. Manche haben sich der neuen Partei Laiki Enotita (Volkseinheit, LAE) angeschlossen, doch viele mehr haben sich aus der Politik zurückgezogen.
In Syriza fand also ein Wandlungsprozess statt, den auch schon andere linke Parteien erlebt haben, nachdem sie an die Regierung gekommen waren: Das Zentrum verlagert sich auf Regierung und Fraktion, die Partei wird zu einem Anhängsel, das die Regierenden durch vermeintlich lästige Debatten stört. Das ist problematisch, weil die Partei ja gerade entscheidend ist, um gesellschaftliche Verankerung zu erzielen und Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben.
Schon Rosa Luxemburg warnte vor dem Irrtum, »dass man auf dem Weg der Konzessionen die meisten Erfolge erzielt. Nur weil wir keinen Schritt von unserer Position weichen, zwingen wir die Regierungen und die bürgerlichen Parteien, uns das wenige zu gewähren, was an unmittelbaren Erfolgen zu erringen ist. Fangen wir aber an, dem Möglichen unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen, so gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren hat.«
Die Syriza-Führung hat mit ihrer Strategie die Sparpolitik nicht gestoppt und gleichzeitig das wichtigste Instrument, die Partei, zerrüttet.
6. Der Bewegungszyklus ist nicht vorbei.
Der soziale Bewegungszyklus gegen die Krisenpolitik in Griechenland, der Syriza nach oben brachte, sei schon länger wieder beendet, schreibt Tom Strohschneider im »Neuen Deutschland«. Tatsache ist, dass es noch keine größere verallgemeinerte Bewegung gegen das Memorandum gab, die den Menschen Hoffnung und eine Alternative gegeben hätte.
Tatsache ist allerdings auch, dass es zur Zeit der ersten Syriza-Regierung Streiks in den Krankenhäusern gab. Auch die Putzfrauen der Ministerien und die Beschäftigten des staatlichen Senders ERT kämpften weiter, ebenso die Bewegung gegen die Goldmine in Chalkidiki. Zudem streikten im Sommer Eisenbahner und Fluglotsen gegen die geplanten Privatisierungen. Auch die Mobilisierung für das »Nein« beim Referendum war eindrucksvoll. Daran können die sozialen Bewegungen, linken Parteien und Gewerkschaften anknüpfen.
7. Es gibt ein Potenzial für die Kräfte links von Syriza.
Syriza hat bei der Wahl 330.000 Stimmen verloren. Dennoch hat die Enttäuschung mit der Regierung Tsipras nicht dazu geführt, dass die Kräfte, die links von Syriza stehen, nun stärker im Parlament vertreten sind. Bis auf die Kommunistische Partei (KKE) sind alle linken Parteien, die das Memorandum ablehnen, an der Dreiprozenthürde gescheitert. Somit sind auch die ehemaligen Syriza-Abgeordneten, die mit »Nein« stimmten und die Volkseinheit gebildet haben, nicht mehr im Parlament vertreten.
Trotzdem hat die Enttäuschung über Syriza den linken Parteien Zulauf beschert. Die Linksabspaltung Volkseinheit, die erstmals antrat, erzielte aus dem Stand 155.000 Stimmen. Auch das antikapitalistische Bündnis Antarsya hat in bescheidenem Maß hinzugewonnen. Die Stimmen für KKE, Volkseinheit, Antarsya und andere linksradikale Parteien summieren sich auf 9,46 Prozent. Das zeigt das Potenzial für die kommenden Kämpfe der Arbeiterbewegung. Es bleibt die Frage einer alternativen politischen Strategie, die die Ablehnung des Sparpakets in praktische Kämpfe umsetzt.
8. Das Sparpaket kann gestoppt werden.
Die neue Syriza/ANEL-Koalition nimmt die Durchsetzung des dritten Sparpakets von einer schwächeren Position aus in Angriff. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung ist etwas kleiner als vorher und vor allem anfällig für außerparlamentarischen Druck.
Widerstand gegen die Auswirkungen des dritten Sparpakets, gekoppelt mit »Revolten« im Parlament, ist möglich. Dafür sprechen verschiedene Gründe: So ist die Krise innerhalb Syrizas nicht mit dem Austritt der jetzigen Volkseinheit-Mitglieder beendet. Weiterhin lehnen viele Parteimitglieder das Sparpaket ab. Ihr Anteil wird größer werden, wenn die Sparmaßnahmen, Kürzungen und Privatisierungen in ihrer vollen Härte wirksam werden. Zudem hat die Arbeiterklasse, die Syriza unter der Warnung gewählt hat, dass sonst die Rechte zurückkehrt, nun viel weniger Hoffnungen und Illusionen in die Regierung. Es hängt davon ab, wieviel Druck auf der Straße und in Betrieben entsteht. In diesem Zusammenhang ist eine Erfahrung interessant. Es gibt zwei Maßnahmen der bisherigen Regierung Tsipras, die die Troika nicht zu Fall gebracht hat: die Wiedereröffnung der staatlichen Rundfunkanstalt ERT und die Wiedereinstellung einiger Angestellter des öffentlichen Diensts, darunter die kämpferischen Putzfrauen des Finanzministeriums. In beiden Bereichen hat es jahrelange Widerstandsbewegungen und breite Solidarität gegeben.
Die Erfahrung kann in den Häfen, bei den Energieversorgern, in den Krankenhäusern und den Schulen wiederholt werden. Solche Kämpfe könnten breite Solidarität von der linken Opposition, aber auch von Teilen der Syriza-Unterstützer gewinnen. Dasselbe gilt für den Kampf gegen die Nazis und die Kampagnen zugunsten der Flüchtlinge und der Migranten.
9. DIE LINKE in Deutschland steht vor der Aufgabe, die Bundesregierung anzugreifen, soziale Kämpfe hierzulande zu unterstützen und Solidarität mit Kämpfen in Griechenland zu üben.
In Deutschland stehen wir vor der Aufgabe, die Solidarität mit dem Widerstand in Griechenland gegen Sozialabbau und Privatisierung zu stärken. Sowohl der Standortnationalismus als auch die Exportorientierung in den deutschen Gewerkschaftsführungen hemmen hierbei. Neben der Unterstützung von Kämpfen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland sollte DIE LINKE die kommenden Blockupy-Proteste stärken und zu ihrer Ausweitung beitragen. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, politische Alternativen zu formulieren. Außerdem muss sie dazu beitragen, die Beteiligung der deutschen Gewerkschaften an Blockupy und ähnlichen Solidaritätskampagnen für die Kämpfe in Südeuropa auszuweiten.
10. DIE LINKE muss sich mit den Grenzen des linken Reformismus auch in Deutschland auseinandersetzen.
Die aufgezeigten Grenzen der parlamentarischen Strategie verdeutlichen in Kombination mit der Zuspitzung der Krise der Weltwirtschaft, dass die Frage von Reform und Revolution nicht erledigt ist. Die Linksparteien, die in den vergangenen Jahren in mehreren Ländern entstanden sind, entwickeln sich nicht automatisch in klassenkämpferische Parteien.
Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten arbeiten in jedem Land unter anderen Bedingungen. Die griechische Erfahrung bestätigt dennoch, dass es – auch im Rahmen einer pluralen Linken – notwendig ist, ideologische Unabhängigkeit und Fähigkeit zur Initiative zu bewahren. Deshalb sind wir im Netzwerk marx21 organisiert.
Foto: 0neiros
Schlagwörter: DIE LINKE, EU, Griechenland, Linke Opposition, Sparpaket, Sparpolitik, Syriza, Troika