Viele unterschiedliche Geschichten haben sich um die Ereignisse auf dem Tahrirplatz während der Revolution in Ägypten abgespielt. Alaa al-Aswani erzählt einige von ihnen in »Die Republik der Träumer«. Von David Paenson
Zunächst ein paar Worte zu dem Autor: al-Aswani hat alle behandelten Ereignisse der ägyptischen Revolution von 2011 selbst hautnah miterlebt und in bescheidenem Maße sogar mitgestaltet. Dieser bekannteste Autor der arabischen Gegenwartsliteratur hat die Protestbewegung »Kifaya!« (Genug!) gegen die jahrzehntelange Amtszeit des Diktators Mubarak im Jahr 2004 mitgegründet und war deren Sprecher. al-Aswani sagt, er verbringe oft ganze Nächte in Cafés im Gespräch mit jungen Menschen, um ihre Lebensumstände und ihre Meinungen zu allen Fragen – politischen, religiösen aber auch mehr persönlichen wie ihrer Haltung zu Liebe und Ehe – in Erfahrung zu bringen.
»Die Republik der Träumer« führt eine Vielzahl persönlicher Geschichten zusammen
Da wären der Generalmajor Alwani und seine Tochter Dania, die Perle seines Lebens. Alwani betet und beachtet alle religiösen Pflichten, schaut sich Pornos an und organisiert höchst persönlich die Folter seiner Gefangenen – an jenem Morgen zu Beginn des Romans erpresst er ein Geständnis, indem er die Frau des Unglücklichen und schwer Misshandelten in die Zelle holen und nackt ausziehen lässt und mit Vergewaltigung durch seine Wärter droht. Dania wiederum, Medizinstudentin, gerät auf die schiefe Bahn, als sie sich mit ihrem Kommilitonen Chaled und seiner gesellschaftlicher Kritik immer mehr anfreundet, bis daraus eine Beziehung wird.
Da ist die religiöse und sehr populäre Fernsehansagerin Nurhan, die sich durch drei Ehen wirtschaftlich und gesellschaftlich hochgearbeitet hat und sich vom Gelehrten und stinkreichen Scheich Shamil beraten lässt, ob die religiöse Rechtsprechung auch die Verbreitung von Unwahrheiten erlaubt. Selbstverständlich, so seine Antwort, denn sie befänden sich im Kriegszustand.
Dann wäre der einen Joint nach dem anderen rauchende Ashraf, dessen geerbte Immobilie direkt am Tahrirplatz grenzt, so dass er vom Balkon aus alle Ereignisse verfolgen kann und schnell aktiver Teil davon wird, zusammen mit seiner Hausangestellten Iskra, die von Geliebter zur Freundin geworden ist. Beide verwandeln die Parterrewohnung in ein Versorgungszentrum für die Besetzer des Tahrirplatzes und einem Treffpunkt für das Koordinierungskomitee, an dem sich auch die Revolutionären Sozialisten beteiligen.
Auf dem Tahrirplatz von Kairo stirbt das Zeitalter der westlichen Hegemonie – Shavit 2011
Dann wäre Madani, Chaleds Vater, der Chauffeur des Leiters eines großen Zementwerks, ‘Issam – selbst noch 1972 landesweit berühmter Studentenführer, mittlerweile aber nur noch Zyniker, der Massenentlassungen organisiert und eng mit der Polizei kooperiert. Madani hat jahrelang seinen ganzen Lohn gespart, um für seinen Sohn Chaled eine eigene Arztpraxis zu finanzieren.
Auf einer Demonstration wird Chaled – Dania steht direkt neben ihm – von einem Polizeioberst aus einer halben Meter Entfernung in die Stirn erschossen. Es gibt genug Zeugen, aber das Gericht spricht den Oberst frei.
In der Schlussszene redet Madani, der mit seinen Ersparnissen drei Auftragskiller angeheuert hat, mit dem entführten, um sein Leben bettelnden Oberst. Madani packt einen großen Koffer aus, zeigt die ersten Blinkschuhe, die er für den kleinen Chaled gekauft hatte, seine ersten Schulzeugnisse, seinen Anzug für den Besuch der Universität. Dann packt er alles wieder ein, geht die Treppe runter und hört nur noch mehrere Schüsse – die Schüsse der Gerechtigkeit.
Es gibt aber – wie in jeder klassischen griechischen Tragödie – die zweite Ebene, die Ebene der Götter im Olymp, die unsere Schicksale in der Hand halten. Alwani ist Zeus, umgeben von mehreren Nebengöttern. Er sammelt um sich die reichsten und einflussreichsten Männer des Landes, um eine ganze Armada von Gegenmaßnahmen gegen die Revolution in Gang zu setzen. Neben der TV-Propaganda, für die Nurhan hauptsächlich verantwortlich ist, werden Kirchen der orthodoxen Minderheit systematisch von bezahlten Schergen gebrandschatzt, um die Verantwortung hierfür den Revolutionären in die Schuhe zu schieben. Eine gemeinsame Massendemonstration von Kopten und vielen sympathisierenden Muslimen im Oktober 2011 gegen diese Spaltungsversuche wird von gepanzerten und mit Maschinengewehren bestückten Militärfahrzeugen einfach niedergemäht: Über 100 Demonstrierende werden niedergeschossen oder gezielt überfahren.
Alwani hat mit der Justiz und den Generälen eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, dass kein Einziger für dieses oder andere Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Eine weitere Maßnahme der Konterrevolution sind die systematischen »Jungfräulichkeitstests« in den Gefängnissen bei offenen Türen, so dass die Soldaten die Demütigung der Frauen mitansehen und auch mitansehen müssen. Der Roman macht anhand realer Zeugenaussagen deutlich, dass die herrschende Klasse zu allem bereit ist, um an der Macht zu bleiben.
»Die Republik der Träumer« ist ein Mosaik von persönlichsten Geschichten in und rund um den Tahrirplatz und die Revolution, die dort für viele losbrach jedoch für viele auch dort endete.
Das Buch:
Alaa al-Aswani
Die Republik der Träumer
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Januar 2021
464 Seiten
25 Euro
Schlagwörter: Ägypten, Bücher, Buchrezension, Rezension, Tahrirplatz