Nachdem die ungarische Regierung Ende 1956 einen Aufstand niedergeschlagen hatte, verabschiedeten sich viele Intellektuelle vom Kommunismus. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre dagegen brach zwar mit dem Stalinismus, hielt jedoch an der Veränderbarkeit der Welt fest. Von Jan Kallen
Ende 1956: Stalin ist bereits seit über drei Jahren tot. Doch in Ungarn hält sich eine strikt stalinistische Parteiführung. Breite Teile der Bevölkerung lehnen sich auf. Zunächst erkämpfen Arbeiter und Studenten aussichtsreiche Erfolge gegen die Regierung. Doch dann schlagen sowjetische Panzer den Aufstand nieder.
Unter dem Eindruck der brutalen staatlichen Repression gegen die Bevölkerung erheben viele kritische Linke Einspruch und wenden sich von der Sowjetunion ab. Darunter auch der 1905 in Paris geborene Philosoph Jean-Paul Sartre, zu diesem Zeitpunkt bereits eine weltbekannte intellektuelle Leitfigur.
Bereits zehn Jahre vor dem ungarischen Volksaufstand hatte Sartre in seinem Drehbuch »Im Räderwerk« auf verschiedene Gefahren aufmerksam gemacht, die im »Sozialismus von oben« (Hal Draper) drohen. Darin beschreibt Sartre einen fiktiven kleinen Staat, der nach einer proletarischen Revolution zu einer tyrannischen Diktatur verkommen war. Der alleinige Regent, ein einstiger Revolutionär, industrialisiert die Landwirtschaft gegen den Willen der Bauern und deportiert diese massenweise in Arbeitslager. Eine erneute Revolution hält wenige Jahre über die Politik des entmachteten Regenten Gericht.
Gegen »Sozialismus in einem Land«
Große Erdölraffinerien, die den einzigen Reichtum des Landes schaffen, werden hingegen nicht verstaatlicht, sondern bleiben in der Hand eines mächtigen Nachbarlandes. In dem Stück beschreibt Sartre den Prozess gegen den Diktator nach einer erneuten Revolution. Der Autor kritisiert darin das stalinistische Theorem des »Sozialismus in einem Land«, sowie undemokratische und repressive Herrschaft.
Sartre blieb vom Potential des Marxismus, die Welt tatsächlich zu verbessern, überzeugt, weswegen er 1956 nicht mit ihm, sondern lediglich mit der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) brach: »Für mich ist das Verbrechen nicht nur der Angriff auf Budapest mit Panzern, sondern auch, dass er ermöglicht worden ist, durch zwölf Jahre Terror und Dummheit. Ich sage, dass eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu denen, die heute die KPF führen, jetzt nicht möglich ist und nie wieder möglich sein wird.«
Marxismus und Existenzialismus
Über die Widersprüche zwischen Marx‘ Ideen, die auf eine Gesellschaft freier Individuen abzielen, und ihrer gescheiterten Umsetzung im so genannten Realsozialismus verfasste Sartre später spannende Artikel und Kommentare. Große Teile davon erschienen zunächst als Streitschriften in der Zeitung »Les Temps Modernes«. Später fasste Sartre seine Überlegungen zum Marxismus unter dem Titel »Der Existenzialismus und der Marxismus – Versuch einer Methodik« zusammen. Darin begreift er den Marxismus nicht etwa gegen, sondern mit Hilfe der von ihm geprägten Existenzphilosophie:
»Trennung von Theorie und Praxis führte zu einer Umformung der Praxis in einen prinzipienlosen Empirismus und einer Umwandlung der Theorie in ein reines und starres Wissen. Andererseits wurde die – von einer für ihre eigenen Irrtümer blinden Bürokratie – durchgeführte Planwirtschaft eben dadurch zu einer die Realität vergewaltigenden Willkür, und weil man die zukünftige Produktion einer Nation in Büros – oftmals außerhalb ihres Hoheitsgebietes – festlegte, hatte diese Gewalt einen absoluten Idealismus zum Komplement (als Beifügung, d. Red.): man unterwarf a priori Menschen und Dinge den Ideen; widersprach die Erfahrung dann den Voraussetzungen, so konnte sie nur Unrecht haben. Die Budapester Untergrundbahn war in der Vorstellung von Rakosi (Machthaber Ungarns bis 1956, d.Red.) bereits verwirklicht; wenn die Bodenbeschaffenheit von Budapest nicht erlaubte, sie zu bauen, dann war eben der Boden konterrevolutionär.«
Die Freiheit, abzulehnen
Hauptmotiv von Sartres Philosophie ist die radikale Überzeugung, der Mensch sei frei. Die Fähigkeit des Menschen, sich zu allem, was ihm in der Welt begegnet, kritisch prüfend und bedacht zu verhalten und stets entscheiden zu können, ablehnend oder akzeptierend mit etwas umzugehen, begründet die existenzialistische Annahme, dass sein Wesen nichts anderes sei, als was er sich selbst schaffe. Mit anderen Worten: Der Mensch ist zu nichts vorbestimmt, weshalb die Freiheit seine einzige unabdingbare Eigenschaft ist. Die beschriebene Freiheit ereignet sich auf der gedanklichen, so genannten Entwurfsebene.
Den von Marx benannten »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse«, der innerhalb des Kapitalismus auf die meisten Menschen wirkt, erkennt Sartre dabei an. Als Arbeiter erlebt der Mensch den Zwang, die ihm innewohnende Arbeitskraft – und mit ihr sich selbst – als Ware auf dem Markt anbieten zu müssen. Dieser Zwang zur Erhaltung seiner Lebensgrundlagen erscheint ihm natürlich. Der Widerspruch, in die Rolle des ausgebeuteten Arbeiters gezwängt zu werden, ohne sich jemals als solcher geschaffen zu haben, führt nach Marx zur Entfremdung von sich selbst. Die marxistische Theorie setzte an dieser Stelle also bereits jenes freie menschliche Wesen voraus, welches Jean-Paul Sartre Jahrzehnte später in seinen Arbeiten beschreiben würde.
Gegen alle Formen des Elends kämpfen
Ferner meint Sartre, dass ein Mensch, indem ihm seine bestehende Freiheit in vollem Maße bewusst werde, erkennen müsse, dass er mit ihr eine absolute Verantwortung zu tragen habe. Als sich selbst frei schaffendes Wesen mit unendlichen Möglichkeiten, fährt Sartre fort, sei jede einzelne Person stets vollwertige Repräsentantin der gesamten Menschheit und menschlichen Freiheit. Die Reflexion des eigenen Verhaltens sei erst dann aufrichtig, wenn sie vollständig auf Entschuldigungen verzichte. Die Frage »Was wäre, wenn alle Menschen sich so verhielten wie ich?«, müsse das Selbstverständnis durchziehen. Die Selbstentfremdung innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses könnte infolgedessen als Respektlosigkeit gegenüber der wesentlichen Freiheit aller enttarnt werden und müsste infolge dessen vom aufrichtigen Individuum bekämpft werden.
Sartre erntete scharfe Kritik aus dem dogmatischen Lager um die KPF, sein radikaler Freiheitsbegriff sei eine schönmalerische Anleitung zum Stillhalten. Er antwortete: »Wenn wir sagen, dass ein Arbeitsloser frei ist, meinen wir damit nicht, dass er augenblicklich tun und lassen kann was er will, und sich in einen reichen und friedlichen Bürger verwandeln. Er ist frei, weil er immer wählen kann, ob er sein Los in Resignation hinnimmt oder sich dagegen auflehnt. Natürlich wird es ihm nicht gelingen, aus dem Elend herauszukommen, aber mitten in diesem Elend an dem er klebt kann er entscheiden, in seinem Namen und im Namen aller anderen gegen alle Formen des Elends zu kämpfen; er kann wählen der Mensch zu sein, der es ablehnt, dass das Elend das Los der Menschen sei.«
Geist der Solidarität
Sartre vertritt einen hartnäckigen Optimismus, dass die Welt gerechter gemacht werden kann. Sobald lediglich ein einziges Individuum die Ungerechtigkeit nicht akzeptieren will, hat es bewiesen, dass es der Menschheit grundsätzlich möglich ist, diese abzulehnen und aktiv zu bekämpfen. Ein Optimismus, auf den heutige Kommunistinnen und Kommunisten besonders angewiesen sind: Der Slogan »Eine bessere Welt ist möglich!« könnte von Sartre stammen. Die von ihm geprägte Auslegung der Existenzphilosophie möchte zusammengefasst als Aufforderung zur ständigen und konsequenten Reflexion begriffen werden. Mit ihr geht ein allumfassendes Gefühl der Verantwortlichkeit einher, aus dem er eine Pflicht zur Solidarität ableitet.
Jean-Paul Sartre unterstützte früh die Bewegung für die Unabhängigkeit Algeriens, besuchte 1960 Kuba und war als prominenter Sympathisant mit der jungen Revolution willkommener Gast von Ché Guevara und Fidel Castro. Letzteren sollte er acht Jahre später jedoch ebenfalls scharf kritisieren. Auslöser für die Kritik an Castro war die Verfolgung eines homosexuellen Journalisten gewesen, welcher skeptische Artikel zur kubanischen Politik verfasst hatte. Die Studentenbewegung zum Ende der 60er-Jahre erhielt seinen öffentlichen Zuspruch, er führte Gespräche mit den gefangenen Mitgliedern der RAF und protestierte gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Zudem setzte er sich für die vietnamesischen »Boat-People« ein .
Marxismus rehabilitiert
Der Existenzialismus ist als grundlegendes Verständnis des Menschseins bereits ein Teil der marxistischen Philosophie gewesen, bevor Sartre ihn in seinen Arbeiten greifbar machte.
Die Bewusstwerdung der eigenen Freiheit verlangt Sartre zufolge dem aufrichtigen Individuum ein revolutionäres Handeln ab. Aus diesem revolutionären Wirken geht tendenziell die Bewusstwerdung und Einbringung weiterer Individuen hervor. Damit unterscheidet sich Sartre von Lesarten des Marxismus, die eine Umwälzung der Gesellschaft unabhängig von der aktiven Entscheidung der Einzelnen als vorbestimmt ansahen.
Sartres Bestreben, den Marxismus von seiner stalinistischen Verzerrung zu »rehabilitieren«, indem er die beschriebene Existenzialphilosophie in ihn integriert, ist eine beachtenswerte Perspektivefür einen freiheitlichen Sozialismus. Auf dass eine Situation, wie die ungarische Bevölkerung sie vor 60 Jahren erlebte, niemals wiederkehre.
Leseliste zum Thema:
Theaterstücke:
Das Spiel ist aus
Geschlossene Gesellschaft
Drehbücher:
Im Räderwerk
Philosophische Werke:
Existenzialismus und Marxismus. Versuch einer Methodik
Foto: նորայր չիլինգարեան
Schlagwörter: Karl Marx, Marx, Marxismus, Sartre, Stalin, Stalinismus