Am 27. August 1965 starb einer der bekanntesten Architekten des 20. Jahrhunderts. Die Qualität der Bauwerke von Le Corbusier wird bis heute bewundert. Bedenklicher war seine Vision, durch Bauen die Welt neu zu ordnen. Von Clara Dircksen
Im Jahr 1887 wurde im schweizerischen La Chaux-de-Fonds Charles-Edouard Jeanneret geboren. Er studierte an der örtlichen Kunstgewerbeschule Malerei und Architektur, unternahm Forschungsreisen und arbeitete in den Büros der fortschrittlichsten Architekten seiner Zeit. Besonders interessierte ihn die Konstruktion mit Eisen- und Stahlbeton. Im Jahr 1917 zog Jeanneret nach Paris und begann, eigene Theorien zu entwickeln. Diese veröffentlichte er zunächst in der Zeitschrift »L‘Esprit Nouveau« (»Der Neue Geist«), seine Artikel zeichnete er nun mit dem Pseudonym, das ihn weltbekannt machen sollte: Le Corbusier.
Er trat für eine komplette Erneuerung der Architektur ein, die sich den gesellschaftlichen Veränderungen des Industriezeitalters anpassen sollte. In seinen Entwürfen orientierte sich Le Corbusier an Maschinen: Gebäude sollten ebenso funktional und schnörkellos sein. Früh entwickelte er ein Bausystem, mit dem man Häuser aus vorgefertigten Teilen in Serie produzieren konnte – die Herstellung von Wohnraum sollte durch Technisierung und Rationalisierung genauso beschleunigt und verbessert werden wie die Produktion von beweglichen Gütern.
Vernetzung mit Gleichgesinnten
Immer mehr wendete er sich von der Konstruktion einzelner Gebäude Fragen des Städtebaus zu; gleichzeitig bemühte er sich, durch Vorträge, Publikationen und aufsehenerregende – aber nicht realisierte – Projekte seine Ideen bekannt zu machen. Obwohl viele Zeitgenossen und Historikerinnen »Corbu« als selbstherrlich und schwierig beschrieben, erkannte er doch die Notwendigkeit, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, um die radikale Erneuerung der Baukunst voranzutreiben.
Im Juni 1928 wurde er zum Mitbegründer der Internationalen Kongresse für Neues Bauen (Congrès Internationaux de l‘Architecture Moderne, CIAM). Sie sollten der modernen Architektur, die sich parallel in verschiedenen Ländern entwickelt hatte, eine beständige und dauerhafte Plattform geben. Gemeinsam war allen Vertreterinnen und Vertretern moderner Architekturströmungen das unbedingte Bestreben, etwas völlig Neues zu schaffen. Traditionelle Baustile lehnten sie ab.
Arbeiterwohnungen statt Paläste
Einen Bruch mit der Tradition stellte bereits der Gegenstand dar, an dem sich moderne Architektur entwickelte: Statt Palästen, Kirchen und anderen Repräsentationsbauten entwarfen die Architektinnen und Architekten vor allem Wohnungen – für die Arbeiterklasse. Der zweite CIAM fand unter dem Motto »Die Wohnung für das Existenzminimum« in Frankfurt statt. Dort hatte Ernst May als Stadtbaurat ein umfangreiches Programm sozialen Wohnungsbaus initiiert. Überall in Europa begannen meist sozialdemokratisch, sozialistisch oder kommunistisch regierte Kommunen mit der Errichtung von öffentlich geförderten Wohnungen für die unteren sozialen Schichten.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Bauprojekte sehr begrenzt. Aber sie wurden zum Anziehungspunkt für die architektonische Avantgarde. Schlecht gebaute Mietskasernen mit engen, dunklen Wohnungen, vor die aber eine dekorative Schmuckfassade geklebt wurde, war für die Architekten der Inbegriff all dessen, was die Städte der Industrialisierung zu menschenfeindlichen Orten machte. Sie wollten Wohnungen bauen, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht wurden: Licht, Luft und Sonne für alle!
Erreichen wollten sie dies durch den Entwurf von standardisierten Wohnungstypen, die massenhaft industriell reproduzierbar waren. Auf diese Art hofften Le Corbusier und seine Kollegen, die Baukosten so weit zu senken, dass moderne Neubauwohnungen tatsächlich für die Mehrheit der Menschen erschwinglich würden.
Charta von Athen
Als am einflussreichsten sollte sich der vierte CIAM erweisen, der unter dem Motto »Die funktionelle Stadt« 1933 in Athen stattfand. Dort untersuchten die Architekten die Probleme der Städte weltweit und entwickelten daraus 95 Leitsätze für den Städtebau der Zukunft.
Le Corbusier überarbeitete die Ergebnisse des Kongresses und gab sie im Jahr 1943 unter seinem Namen als »Charta von Athen« heraus. Die zentralen Punkte der Charta waren die Abschaffung des Privatbesitzes von Grund und Boden und die strikte räumliche Trennung der vier Funktionen der Stadt: Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr.
Damit forderte Le Corbusier einen Neubeginn auf einer »tabula rasa«. Die existierenden Städte mit ihrem Durcheinander von Funktionen, überlasteten Straßen und ungesunden Wohnverhältnissen erschien ihm als Hindernis für gesellschaftlichen Fortschritt. Eine drastische Umgestaltung der gebauten Umwelt sollte hingegen auch die sozialen Missstände abschaffen.
Glaube an den technischen Fortschritt
Die Charta ist ein Zeugnis überwältigender Zuversicht in die Stadtplanung als Möglichkeit, die Gesellschaft zu gestalten, und durchdrungen vom rationalistischen Glauben an den technischen Fortschritt. Le Corbusiers radikaler »Plan Voisin« für Paris aus dem Jahr 1925 illustriert diese Einstellung gut: Er schlug vor, die gesamte Innenstadt abzureißen und mit 60-geschossigen Hochhäusern zu bebauen. In den identischen Wohnblöcken inmitten von Grünflächen bleibt keine Spur mehr von den krassen Gegensätzen zwischen arm und reich und kein Raum für individuelle Abweichungen.
So verband die Idee der funktionalen Stadt, wie Le Corbusier sie in der Charta von Athen festschrieb, einen totalen Maßstab – es blieb kein Überrest der gewachsenen Stadt – mit einer tiefgreifenden Neuformung des sozialen Lebens bis auf die Ebene der individuellen Lebensgestaltung: arbeiten im modernen Industrieviertel, »Bildung von Körper und Geist« im Freizeitbereich und Familienleben in der standardisierten »Wohnzelle«.
Le Corbusier, ein Faschist?
Manche Kritiker nannten Le Corbusiers autoritäre Utopie faschistisch. Die Debatte nahm nun, im Vorfeld seines 50. Todestags, noch einmal Fahrt auf durch die Veröffentlichung zweier Bücher, »Un Corbusier« und »Le Corbusier, un fascisme français« (»Ein Corbusier« und »Le Corbusier, ein französischer Faschismus«, beide nicht ins Deutsche übersetzt). Die Autoren versuchen, aus der leidlich bekannten Tatsache, dass der Architekt sich dem Kollaborationsregime von Vichy andiente, einen überzeugten Nazi zu konstruieren, dessen politische Einstellung auch seine Bauten bestimmte.
Solche Vorwürfe werden jedoch der Ambivalenz im Werk des Architekten in keiner Weise gerecht. Corbusier träumte von einer Umgestaltung der Welt zum Wohle der Menschen, wenn auch sein Menschenbild recht schematisch war. Zu Recht klagte er die Folgen ungezügelter privater Bautätigkeit an. Fortschrittlich war auch sein Ziel, die Elendsquartiere der Arbeiter durch moderne Neubauwohnungen für alle zu ersetzen. Dabei kann die Qualität dieser Wohnungen auch aus heutiger Sicht kaum bezweifelt werden.
Der Fehler lag vielmehr in einer Umkehrung der Wirkungszusammenhänge. Le Corbusier war der Überzeugung, wenn nur die Lebensumwelt des Menschen nach rationalen, fortschrittlichen und egalitären Gesichtspunkten umgestaltet werde, würden sich die gesellschaftlichen Übel notwendigerweise von allein auflösen. Bauprojekte dieser riesigen Dimension aber lassen sich nur mithilfe der Staatsmacht umsetzen. In krasser Überschätzung der Gestaltungskraft seines Berufszweigs und seines eigenes Genies hielt der Architekt es für unerheblich, welche staatliche Gewalt ihm bei der Umsetzung seiner utopischen Pläne half. Deshalb, so argumentiert auch der Architekt Paul Chemetov in der Zeitung »Le Monde«, sah Corbusier kein Problem darin, seine Dienste Marschall Pétain (dem Staatschef des Vichy-Regimes, Anm. d. Red.) anzubieten.
Die vertikale Stadt
Genützt hat ihm dieser politische Opportunismus jedoch wenig. Erst nach 1945 konnte Le Corbusier seine bekanntesten Bauten realisieren. In den Jahren 1947 bis 1952 entstand der Prototyp seiner »Wohnmaschine«, der » in Marseille. Das auf Säulen stehende Gebäude ist die Umsetzung von Corbusiers Idee der vertikalen Stadt: Es beherbergt 337 Wohnungen, alle zweigeschossig und mit Loggien, dazu zwei Etagen mit Geschäften und einen Kindergarten, einen Sportplatz und ein Kino auf der Dachterrasse. Mit der Unité realisierte der Architekt zudem seine Forderung nach Serienproduktion – drei weitere Unités wurden in Frankreich errichtet und eine in Berlin.
Bis zu seinem Tod baute Corbusier weltweit Wohnungen, Verwaltungs- und Kulturbauten. Für den indischen Bundesstaat Punjab entwarf er sogar eine komplette moderne Hauptstadt, Chandigarh, die von 1952 bis 1959 errichtet wurde. Auch die Charta von Athen gewann in der Nachkriegszeit enormen Einfluss. Vor die Aufgabe gestellt, die im Krieg zerstörten Städte wiederaufzubauen, besannen sich Stadtplanerinnen und Stadtplaner überall in Europa auf die von Le Corbusier veröffentliche Schrift. Die Trennung städtischer Funktionen wurde zum Leitprinzip modernen Städtebaus – wenn auch bereinigt von seinem ursprünglichen utopischen Gehalt.
Ob der große Architekt aber in den gleichförmigen Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, den öden Innenstädten und Entlastungsstraßen seinen Traum von einer Neuordnung der städtischen Lebenswelt wiedererkannt hätte, bleibt fraglich.
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Schlagwörter: Architektur, Faschismus, Faschist