Schon wieder ein Film über die linke Szene, der zwischen Revolutionsromantik, Hufeisentheorie und Halbwissen stecken bleibt? Nicht ganz. Von Tim Dreyer und Lisa Hofmann
Eine junge Frau geht ein Feld entlang. Sie trägt ein Jagdgewehr auf dem Rücken. Plötzlich hält sie an und wirft das Gewehr ins Feld. Aus dem Off erklingt Artikel 20 des Grundgesetzes: »(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […] (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Damit beginnt der Film der Regisseurin Julia von Heinz: »Und morgen die ganze Welt«. Er erzählt die Geschichte von Luisa, die in Mannheim in ein besetztes Haus zieht, sich einer antifaschistischen Gruppe anschließt und sich zunehmend radikalisiert.
Protestaktion eskaliert
Luisa beteiligt sich bald an ersten politischen Aktionen. Wir werden Zeugen, wie Gruppen-Mitglied Lenor seine antifaschistische Recherche präsentiert und offen legt, dass es Verbindungen zwischen der militanten Rechten Szene und der bürgerlich konservativ wirkenden »Liste 14« gibt. Im Anschluss daran beginnen unterschiedliche Vorbereitungen um eine Wahlkampf-Kundgebung der »Liste 14« zu stören. Die Protestaktion gegen den Wahlkampfstand eskaliert, als neben einer Torte auch Farbbeutel fliegen. Luisa gelingt es sich im Getümmel ein heruntergefallenes Handy der Rechten zu schnappen und damit wegzurennen. Sie wird von einem der Rechten eingeholt und zu Boden geworfen. Luisa erlebt dadurch zum ersten Mal sexualisierte und körperliche Gewalt und nässt sich ein, eine Erfahrung, die sich traumatisch in Luisa einbrennen wird und einen zentralen Bezugspunkt in ihrer Figurenentwicklung darstellt. Im letzten Moment wird sie von Alfa, einem anderen Mitglied der Antifa-Gruppe, gerettet (Lies hier den marx21 Artikel: »Die Gegenwart des Faschismus«).
Prototyp eines »Antifa-Mackers«
Alfa, neben Luisa die zweite Hauptfigur des Films »Und Morgen die ganze Welt«, verkörpert den Prototyp eines »Antifa-Mackers«. Er tritt sehr machohaft auf, dominiert Plenumsdebatten, und alle Aktionen sind ihm nicht radikal und militant genug. Um zu beweisen, dass seine Form des Protestes die einzig richtige ist, setzt er sich auch über die im Plenum ausgehandelten Absprachen hinweg, macht sein Ding und gefährdet damit die ganze Gruppe. In diesen Szenen ist der Film sehr stark, zeigt er doch, dass männliches Dominanzverhalten auch in linken Kontexten vorkommt. Schwach ist allerdings die Stelle, an der Luisa eine Beziehung mit Alfa beginnt. Wieder einmal wird die Radikalisierungsgeschichte einer jungen Frau vor allem über einer Beziehung mit einem »Macker« dargestellt.
Das Nazi-Zentrum brennt
Genau das ist eine von vielen Irritationen, die der Film beim Zuschauen auslöst. Möchte die Regisseurin der radikalen Linken mit dieser Szene den Spiegel vorhalten und ihr zeigen, dass man zwar links sein kann, aber nicht zwingend gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen entkommen kann? Oder ist die Regisseurin selbst in ihrer bürgerlichen Vorstellung von romantischen Zweierbeziehungen und Geschlechterverhältnissen gefangen? Im Verlauf des Films erbeuten Luisa, Alfa und Lenor in der Baustelle für ein rechtes Familien- und Begegnungszentrum Sprengstoff. Sie entscheiden sich, diesen nicht bei der Polizei abzugeben, da sie ihn gestohlen haben und deshalb befürchten, dafür belangt zu werden.
Trailer
Diese Plotentwicklung ist die größte Schwäche des Films. Hier wird das Terrain der Milieustudie verlassen und die Geschichte nimmt absurde Züge an. Im Anschluss an den Sprengstoffraub kommt es nämlich zu einer Razzia im Hausprojekt. Die Gruppe um Luisa beschließt zu flüchten und kommt bei Dietmar, einem ehemaligen Mitglied der dritten Generation der RAF unter, geht quasi in den »Untergrund« und plant dort Mord-Anschläge. Der Film endet mit der gewaltsamen Räumung des Hausprojektes durch die Polizei und dem abermaligen Verlesen von Artikel 20. In der letzten Kameraeinstellung sieht man, wie das Familien- und Begegnungszentrum der Rechten in Flammen aufgeht (Lies hier Beiträge der marx21 Debatte: »Die Linke und die Polizei – Freund oder Feind?«).
Fotoalbum der Protestgeschichte
Wer jetzt denkt: »Schon wieder ein Film über die linke Szene in Deutschland, der zwischen Revolutionsromantik, Hufeisentheorie und Halbwissen aus Verfassungsschutzberichten stecken geblieben ist«, urteilt zu schnell. Anders als die Netflix-Serie »Wir sind die Welle« ist der Film »Und Morgen die ganze Welt« von Julia von Heinz über weite Strecken eine genaue, sensible und differenzierte Beobachtung der linken Szene. Oft wirkt das, als würde man sich ein Fotoalbum der eigenen Protestgeschichte anschauen. Die Stimmigkeit der Kulisse und Ausstattung des Films und das glaubhafte und authentische Agieren der Figuren tragen zu diesem Gefühl bei.
Gut beobachtet und doch absurd
Julia von Heinz kennt das Milieu, das sie zeigt. Sie war selbst in ihrer Jugend in der antifaschistischen Szene in Bonn aktiv. Sie kehrte der linken Szene allerdings in den Nullerjahren den Rücken. Unter diesem Umstand leidet der Film. An manchen Stellen wirkt er seltsam wie in den 1990er Jahren steckengeblieben. So wirken die Debatten um Militanz und Bündnisfähigkeit des antifaschistischen Protestes, als hätte die Krise der Autonomen und der Zusammenschluss zur »Interventionistischen Linken« noch gar nicht stattgefunden. Artikel 20 ist so etwas wie, das wiederkehrende Motiv des Films. Besonders der oben genannte Absatz 4, das sogenannte Widerstandsrecht. Um diesen Absatz und die Frage von legitimer Militanz kreist der Film »Und Morgen die ganze Welt«. Hierauf bietet er verschiedene Antworten. Zum einen eine bürgerliche: In Luisas Jura-Seminar wird die Auffassung vertreten, dass das Widerstandsrecht erst greift, wenn alle anderen rechtsstaatlichen Mittel ausgeschöpft sind.
Militanz ist keine freie Entscheidung
Zum anderen gibt es die Sicht der Aktivistinnen und Aktivisten auf die Frage: Zum Ende des Filmes »Und Morgen die ganze Welt« haben sich die drei Protagonisten dazu entschieden, militanter Gewalt abzuschwören, haben alle Mord-Anschlags-Pläne begraben und finden den Weg zurück in die breite linke Szene, die auf friedliche und kreative Formen des zivilen Ungehorsams und Protests setzt. Mit der Erfahrung krasser Polizeigewalt scheint diese Entscheidung jedoch relativiert zu werden und das Nazi-Szene-Zentrum brennt. Dieses Ende legt die Interpretation nahe, dass Militanz eben keine freie Entscheidung ist, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Erfahrungen mit dem staatlichen Gewaltapparat die Protagonisten dahintreibt (Lies hier den marx21 Artikel: »Friedliche Proteste, gewaltige Wirkung«).
Film
Und Morgen die ganze Welt
Regie: Julia von Heinz
Drama
Deutschland
111 Minuten
2020
Der Film kann bei Netflix gestreamt werden.
Schlagwörter: Antifa, Filmkritik, Kultur