Künstlerinnen und Künstler in Sankt Petersburg hatten ganz unterschiedliche Haltungen zur Oktoberrevolution im Jahr 1917. Ein experimenteller Trickfilm erweckt ihre Erfahrungen zum Leben. Von Lisa Hofmann
Was sehen wir vor unserem inneren Auge beim Wort Oktoberrevolution? Lenin, der auf einer Barrikade steht und eine kämpferische Rede an die vor ihm versammelten Massen hält? Schier endlose Demonstrationszüge, die sich durch Sankt Petersburg schlängeln? Diese und viele andere Szenen in unseren Köpfen entstammen wahrscheinlich dem Stummfilm »Oktober« (1928) von Sergei Eisenstein oder dem Buch »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« von John Reed. Reeds Buch war die Vorlage für Eisensteins Film.
Aber sind das schon alle Bilder und Geschichten zur Oktoberrevolution? Wie haben Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle die Zeit des Umbruchs, der Doppelherrschaft und den Sieg der Bolschewiki in Sankt Petersburg erlebt? Welche Rolle spielten sie selbst im revolutionären Prozess? Waren sie Teil der Bewegung, versuchten sie, die Kunst von der Politik zu trennen, oder standen sie aufseiten der Konterrevolution?
Der wahre Oktober
Diesen Fragen geht die Regisseurin Kathrin Rothe in dem animierten Dokumentarfilm »1917 – Der wahre Oktober« nach. Rothe rekonstruiert die Ereignisse des Jahres 1917 in Sankt Petersburg mithilfe der persönlichen Aufzeichnungen und Tagebücher des Kunstkritikers Alexander Benois, der Lyrikerin Sinaida Hippius, des Malers und Avantgardisten Kasimir Malewitsch, des Schriftstellers und Marxisten Maxim Gorki und des Dichters Wladimir Majakowski. Sie alle erleben die Veränderungen, die mit der Oktoberrevolution in ihr Leben treten, jeweils aus einem unterschiedlichen Blickwinkel und gehen auf eigene Art mit ihnen um.
Der Kunstkritiker Benois sorgt sich um den Erhalt der bürgerlichen Kunstwerke in der Ermitage. Er gründet eine Kommission zum Schutz der Denkmäler und Kunstwerke. Sinaida Hippius wohnt gegenüber der Duma; sie kann die meisten Auseinandersetzungen in und um das Parlament aus nächster Nähe beobachten. Viele hochrangige Politiker gehen in ihrem Salon ein und aus. Sie verabscheut die Bolschewiki und versucht im Hintergrund, Intrigen gegen sie zu spinnen. Der Maler Malewitsch engagiert sich in den neu gebildeten Räten. Er möchte die Kunst aus den gebildeten bürgerlichen Schichten ins Volk bringen und gründet dafür Kunstbrigaden. Gorki ist eng mit den revolutionären Bolschewiki, vor allem mit Lenin, befreundet. Er diskutiert in den Versammlungen der Bolschewiki über Strategie und Taktik der Revolution, streitet aber auch weiterhin mit anderen Künstlerinnen und Künstlern über die Funktion der Kunst in revolutionären Zeiten. Der Lyriker Majakowski ist vollkommen begeistert von den Ideen der Bolschewiki und möchte mit der Revolution auch eine Revolution der Kunst vorantreiben.
Panorama unterschiedlicher Sichtweisen
Wo immer es möglich ist, lässt Kathrin Roth die porträtierten Personen selbst sprechen und legt den animierten Figuren Zitate aus Aufzeichnungen und Tagebüchern in den Mund. Dadurch entsteht ein interessantes Panorama unterschiedlicher Sichtweisen auf die Oktoberrevolution. Die animierten Szenen werden immer wieder durch Szenen aus dem Entstehungsprozess des Films ergänzt. So kann man beobachten, wie Szenen mit Scherenschnitten aus schwarzem Karton entstehen oder wie sich die Zeitleiste an der Wand des Ateliers mit immer mehr Ereignissen füllt. Durch diese zusätzliche Metaebene erhalten die animierten Szenen eine Rahmung, die den Film abrundet. »1917 – Der wahre Oktober« ist eine ungewöhnliche Rekonstruktion der Oktoberrevolution und allen zu empfehlen, die der Frage nachspüren möchten, in welchem Verhältnis Kunst und revolutionärer Prozess zueinander stehen können.
Der Film:
1917 – Der wahre Oktober
Regie: Kathrin Rothe
Deutschland 2017
Maxim Film
90 Minuten
Schlagwörter: film, Filmkritik, Kultur, Oktober, Oktoberrevolution, Revolution, Rezension, Russische Revolution, Russland