Angesichts der aktuellen Eskalation im Nahostkonflikt werden manche nicht müde, zur Wiederaufnahme der »Friedensverhandlungen« aufzurufen. Aber der sogenannte »Friedensprozess« ist Teil des Problems und nicht der Lösung, meint Stefan Ziefle.
Wer vor dem Konflikt steht und die zwei Seiten betrachtet, die sich in erneuter Gewalteskalation gegenüber stehen, kann schnell verzweifeln. Wenn doch nur die »Radikalen« auf beiden Seiten in Zaum gehalten werden könnten, so hört man oft. Und die Schlussfolgerung erscheint nah, dass »nur rasche Schritte zur Wiederaufnahme der Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Lösung« helfen können, wie der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Wolfgang Gehrcke schreibt.
Das Problem dieser Haltung ist, dass sie nichts mit der Realität in Israel/Palästina zu tun hat. Die Realität beschrieb Amira Hass am 7. Oktober in der israelischen Tageszeitung Haaretz:
»Dieser Krieg begann nicht letzten Donnerstag, er beginnt nicht mit jüdischen Opfern und er endet nicht, wenn keine Juden mehr ermordet werden. Die Palästinenser kämpfen um ihr Leben, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir israelische Juden kämpfen für unsere Privilegien als eine Nation von Herren, in der vollen Hässlichkeit der Bedeutung dieses Wortes.
Dass wir die Existenz des Krieges erst bemerken, wenn Juden getötet werden, ändert nichts daran, dass Palästinenser ständig getötet werden, und dass wir ständig alles in unserer Macht stehende tun, ihr Leben unerträglich zu machen. Die meiste Zeit ist es ein einseitiger Krieg, geführt von uns, damit sie »ja« zu ihrem Meister sagen und vielen Dank, dass ihr uns in unseren Reservaten am Leben lasst. (…)
Junge Palästinenser ziehen nicht los, Juden zu töten, weil sie Juden sind, sondern weil wir ihre Besatzer, ihre Folterer, ihre Kerkermeister, die Diebe ihres Landes und ihres Wassers, ihr Vertreiber, die Zerstörer ihrer Häuser, die Verbauer ihres Horizontes sind. Junge Palästinenser, voller Rache und Verzweiflung, sind bereit, ihr Leben zu verlieren und ihrer Familie große Schmerzen zu bereiten, weil ihr Gegner täglich von Neuem zeigt, dass seine Bösartigkeit keine Grenzen kennt.«
Vertreibung
Die Realität ist, dass sich bereits in den ersten drei Jahren des »Friedensprozesses«, noch in der Regierungszeit der Friedensnobelpreisträger Yizak Rabin und Shimon Peres, die Zahl der israelischen Siedler im Westjordanland verdoppelt hat, und der Ausbau und die Ausbreitung der Siedlungen seitdem unter jeder Regierung konsequent vorangetrieben wurde.
Wer ernsthaft an einer »Zweistaatenlösung«, oder überhaupt an irgendeiner einvernehmlichen Kompromisslösung, interessiert ist, baut keine Siedlungen auf besetztem Gebiet aus. Die Siedlungen und die dazugehörende Verkehrs- und Sicherheitsinfrastruktur machen nicht nur eine territoriale Trennung im Sinne zweier Staaten unmöglich. Sie verwandeln außerdem das Leben der Palästinenser in eine Hölle auf Erden.
Das Netz von Siedlungen und der sie verbindenden Straßen zerschneiden das Gebiet, dazu kommt die bis zu acht Meter hohe Betonmauer, die sich durch das Westjordanland schlängelt. Ganze Dörfer wurden dafür abgerissen, die Bewohner vertrieben. Bauern können ihre Felder nicht erreichen, die dann entsprechend einem Gesetz aus der ottomanischen Zeit von 1853, das Israel hier zur Anwendung bringt, nach vier Jahren ohne Nutzung verstaatlicht werden – natürlich zugunsten des Staates Israel.
Aber auch die Wege, die von Palästinensern benutzt werden dürfen, sind tückisch. Über 300 feste Militärcheckpoints und beliebig viele mobile Posten machen jeden Weg in die nächste Stadt zu einem Glücksspiel. Studenten brauchen zehn Stunden, um in die 15km entfernte Universität zu kommen, Kranke oder Schwangere kommen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus. Begleitet wird diese tägliche Mühsal noch durch die Demütigungen, die mit den Kontrollen einhergehen: Warteschlangen, Willkür, Beschimpfungen, Gewalt.
Dazu ist der Zugang zu Trinkwasser begrenzt – für die Palästinenser, nicht für die benachbarten Siedlungen. Die Besatzungsmacht tut alles dafür, das Leben der Palästinenser so unerträglich wie möglich zu machen. Das offensichtliche Ziel ist es, so viele zur Ausreise zu bewegen, wie nur möglich. Im Gazastreifen scheint Israel diesem Ziel schon recht nahe zu sein: Nach Angaben der UNO wird das Gebiet, nach diversen Bombardierungen und der Blockade seit 2006, bis 2020 unbewohnbar gemacht worden sein.
Die Zerstörung von palästinensischen Häusern ist eine weitere Methode der Vertreibung, die vor allem in Ostjerusalem, aber auch im Staatsgebiet von Israel selbst, in den letzten Jahren verstärkt angewendet wurde. Unter dem Vorwand fehlender Baugenehmigungen oder existierender Sicherheitsmängel werden palästinensische Bewohner mit Gewalt aus ihren Häusern geworfen und diese dann abgerissen. Da gleichzeitig kaum Baugenehmigungen für »arabische« Quartiere gegeben werden und palästinensische Israelis in »jüdischen« Vierteln keine Wohnung bekommen, steigt die Zahl der Bewohner pro Quadratmeter und sinkt dementsprechend die Lebensqualität. Die Folge ist ein beständiger Exodus.
Deckmantel
Die letzte, sogenannte Zweite Intifada im September 2000, startete, weil entgegen der vertraglichen Vereinbarungen von Oslo die »Endstatusverhandlungen« noch nicht einmal begonnen hatten. Bis heute weigert sich jede israelische Regierung, über die Kernpunkte der palästinensischen Seite überhaupt zu reden: territoriale Souveränität der Palästinenser, der Status Ostjerusalems, der Verbleib der Siedlungen und das Recht der aus Israel Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimat.
Die Realität ist, dass der »Friedensprozess« und die Verhandlungen über eine »Zweistaatenlösung« einen Deckmantel bilden, unter dem Israel die Vertreibung der Palästinenser ungestraft fortsetzen kann.
Trotzdem hat die Autonomiebehörde bisher an der Behauptung festgehalten, es gebe keine Alternative zu »Friedensprozess« und »Zweistaatenlösung«. Der Grund ist, dass die Spitzen der Autonomiebehörde sich in diesem System persönlich erheblich bereichern. Finanziert durch westliche Staaten und Institutionen der Vereinten Nationen hat sich eine kleine palästinensische Wirtschaft etabliert, die größtenteils den politischen Funktionären der Autonomiebehörde gehört, und gleichzeitig einer begrenzten Zahl an hoch qualifizierten technischen und Verwaltungsangestellten einen Job bringt. Es ist eine kleine Ober- und Mittelschicht an »Friedensprozess«-Gewinnern entstanden.
Aber angesichts der Unzufriedenheit, die zunehmend in Protest gegen die Autonomiebehörde und in Gewalt gegen Israelis umschlägt, hat vor wenigen Wochen der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas den »Friedensprozess« für gescheitert erklärt und alle Verhandlungen beendet.
Damit zerstört er die Grundlage seiner eigenen sozialen Position. Andererseits riskiert er einen Aufstand, der ihn mehr als nur seine Privilegien kosten könnte, sollte die Spitze der Behörde weiterhin einen Prozess unterstützen, der in den Augen der meisten Palästinenser eine Katastrophe ist. Derweil gehen die Geheimdienst- und Sicherheitskooperation, die persönliche Bereicherung und Korruption, der Machtkampf innerhalb der Behörde und zwischen der Behörde und der Hamas weiter.
Neue Intifada
Solange Israel von den reichsten und mächtigsten Staaten der Welt bedingungslos unterstützt wird, und seit dem »Atom-Deal« mit dem Iran nimmt diese Unterstützung noch zu, bleibt nur ein massenhafter Aufstand aller Unterdrückten in der Region ein wirksames Instrument gegen die koloniale Ausbreitung Israels. Der Arabische Frühling 2011 hat die Potenziale gezeigt, aber mittlerweile haben sich die Bedingungen deutlich verschlechtert. Selbstbefreiung scheint heute weniger auf der Tagesordnung zu stehen als je zuvor.
Stattdessen ergießen sich nun Unzufriedenheit, Frustration und Verzweiflung der Palästinenser vor allem in Messerattacken auf Israelis und Bombenanschläge auf Militärposten im Westjordanland. Das wird keine Lösung bringen und ist letztlich nur Ausdruck der Hilf- und Perspektivlosigkeit der Menschen im größten Freiluftgefängnis der Welt.
Weniger Beachtung in den deutschen Medien als die Messerattacken erhalten die Demonstrationen, die momentan täglich in verschiedenen Städten des Westjordanlandes und in Ostjerusalem stattfinden. Diese Bewegung könnte sich zu einem allgemeinen Aufstand, einer dritten Intifada entwickeln, die sich gegen die Besatzung, aber auch gegen die korrupte Kollaboration der Autonomiebehörde, richtet. So ein Aufstand könnte die Kräfteverhältnisse auch in den anderen arabischen Ländern wieder zugunsten der Unterdrückten verschieben und gleichzeitig jene im Westen stärken, die solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf sind und sich gegen die Unterstützung Israels durch ihre eigene Regierung stellen.
Diese Bewegung in Palästina zu stärken, wäre die Aufgabe von Linken auch bei uns. Ein erster Schritt könnte sein, die deutschen Waffenexporte an Israel zu unterbinden und sich in dem Konflikt eindeutig auf der Seite der Unterdrückten zu positionieren.
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