In den Achtzigerjahren erlebt die Hausbesetzerbewegung in der Bundesrepublik einen Höhepunkt. Am Hamburger Hafen wird eine Straße zum Symbol des Widerstandes. Martin Haller erzählt ihre Geschichte
Zehntausend Polizisten stehen mit schwerem Räumgerät bereit zum Sturm auf die besetzten Gebäude, die Anti-Terroreinheit GSG 9 wurde geordert. Der Hamburger Senat hat sämtliche Verhandlungen für gescheitert erklärt und fordert die unverzügliche Räumung des »Schandflecks« an der Elbe. Rund um die besetzten Häuser am Hamburger Hafenrand stehen seit Tagen meterhohe Barrikaden. Die Presse spricht von »bürgerkriegsähnlichen Zuständen«. Die Stadt erwartet Straßenschlachten von bisher unbekanntem Ausmaß.
Doch dann die überraschende Wendung: Im Morgennebel des 18. November 1987 beginnen vermummte Personen mit dem Abbau der Barrikaden rund um die Hafenstraße. Gegen massiven Widerstand aus der eigenen Partei hatte Hamburgs Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Bewohnern ein allerletztes Angebot unterbreitet. Er verspricht, nicht räumen zu lassen, wenn binnen 24 Stunden sämtliche Barrikaden beseitigt werden und der freie Zugang zu den Häusern ermöglicht wird.
Nicht wenige Besetzer vermuten eine Falle. Schließlich gehen sie jedoch auf das Angebot ein. Keine zwei Stunden nach Ablauf des Ultimatums kommt der Hamburger Senat zu einer Sondersitzung zusammen und stimmt einem Pachtvertrag mit den Bewohnern zu. Die befürchtete Eskalation bleibt aus. Doch ruhig sollte es um Deutschlands wohl berüchtigtsten Häuserkampf noch lange nicht werden.
Wohnungsnot trotz Leerstand
Es begann in den frühen 1980er Jahren. Lange hatten die zwölf Häuser aus dem 19. Jahrhundert niemanden interessiert. Dann plante Gruner und Jahr den Umzug an die Hafenkante. Um für den Verlag und andere Investoren auf dem citynahen »Filetstück« Platz zu schaffen, kaufte die Stadt dort alle Häuser auf. Neue Eigentümerin wurde die kommunale Wohnungsbaugesellschaft SAGA. Diese kündigte alle bestehenden Mietverträge und ließ die Häuser systematisch verfallen, um sie später abzureißen.
Bereits damals war die Wohnraumsituation in Hamburg miserabel. Wie in allen westdeutschen Großstädten griff eine »Neue Wohnungsnot« um sich. Der soziale Wohnungsbau war seit den 1970er Jahren ausgetrocknet worden und auch private Investoren interessierten sich nicht für den Bau von bezahlbaren Mietshäusern. Bürobauten und Eigentumswohnungen versprachen eine weit höhere Rendite. Jährlich wurden etwa 130.000 Wohnungen in den Stadtzentren dem Wohnungsmarkt entzogen, indem sie zweckentfremdet oder einfach abgerissen wurden. Ganze Straßenzüge in den Arbeitervierteln der Innenstädte wurden ihrer ehemaligen Mieter entledigt und in Büros, Kaufhäuser, Kanzleien und Agenturen umgewandelt.
Die Wohnungsknappheit trieb die Preise in die Höhe: Drastische Mietsprünge von vierzig oder fünfzig Prozent waren beim Wohnungswechsel eher Regel als Ausnahme. Obwohl viel leerstehender, unterbelegter oder zweckentfremdeter Wohnraum existierte, war es fast unmöglich, eine günstige Mietwohnung zu finden. Jeden Freitagabend bildeten sich endlose Warteschlangen an den Bahnhöfen, wo die ersten Exemplare der Lokalzeitungen mit den Wohnungsinseraten verkauft wurden. Doch der krasse Widerspruch zwischen Wohnungsnot und Leerstand ließ auch den Widerstand wachsen und eine neue Hausbesetzerbewegung entstehen.
Bruch mit dem Eigentumsrecht
Erstmals aufgekommen war die Strategie der Hausbesetzung in Deutschland in den frühen 1970er Jahren. Aus Großbritannien und den Niederlanden war die Bewegung in die BRD geschwappt. Zu den Motiven der Besetzer zählten von Beginn an sowohl die eigene Wohnungsnot, als auch der politische Protest gegen spekulativen Leerstand und hohe Mieten. Der öffentlichkeitswirksame Bruch mit dem Eigentumsrecht schaffte Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass der kapitalistische Wohnungsmarkt nicht bedarfsgerecht funktioniert. Doch weil damit die Frage der Verfügungsgewalt über Wohneigentum aufgeworfen war, griff der Staat kompromisslos durch. In vielen Städten wurde die »Berliner Linie« verfolgt, wonach besetzte Häuser innerhalb von 24 Stunden zu räumen waren.
Die Besetzung der Hafenstraße erfolgte zunächst still und leise. Als sich die Nachricht herumsprach, dass dort eine Menge Wohnungen leer standen, begannen im Herbst 1981 nach und nach Wohnungssuchende – vor allem Jugendliche, Studierende und Autonome – in die heruntergekommenen Häuser am Elbufer einzuziehen und sie notdürftig instand zu setzen. In den Monaten zuvor war es in der Hansestadt zu zahlreichen Besetzungen gekommen, die aber alle umgehend von der Polizei geräumt wurden.
Erst als die neuen Bewohnerinnen und Bewohner im Februar 1982 ein Transparent mit der Aufschrift »Besetzt – ein Wohnhaus ist kein Abrisshaus« an eine Fassade der Hafenstraße hängten, bemerkte die SAGA die schleichende Besetzung. Sofort stellte sie Strafantrag und ließ die Häuser polizeilich räumen. Doch keine zwei Tage später wurden sie erneut besetzt. Es folgten schwere Auseinandersetzungen. Erstmals wurden Barrikaden rund um die Häuser errichtet. Im Jahr 1983 kam es schließlich zum Abschluss von auf drei Jahre befristeten Einzelmietverträgen. Die Bewohner unterschrieben die Verträge mit »B. Setzer«.
Die Kommune an der Elbe begann sich einzurichten. Eine Volksküche, die Kneipen »Ahoi« und »Onkel Otto«, das Café »Tante Hermine«, das antifaschistische Störtebeker-Zentrum und ein Frauenhaus entstanden. Immer mehr Leute stießen dazu. Die Hafenstraße avancierte zum bekanntesten Treffpunkt der militanten linksautonomen Szene der Stadt.
Den Bewohnerinnen und ihren Unterstützern ging es dabei um weit mehr als um den Schutz der Häuser vor dem Abriss. Sie strebten nach einer alternativen Form des Zusammenlebens und sahen in der Besetzung die Möglichkeit einen Freiraum zu schaffen, den sie selbstbestimmt gestalten konnten. Doch der Staat duldete keine »rechtsfreien Räume«.
Der Senat setzt auf Eskalation
Für den Senat war die Hafenstraße längst zur Dauerprovokation geworden. Seine neue Strategie – behördenintern als »Tabula-rasa-Variante« bezeichnet – setzte auf Eskalation. Ziel war die möglichst schnelle Räumung. Kaum ein Wochenende verging ohne Polizeieinsatz, Straßenschlachten, Festnahmen, erneute Abrissdrohungen und Barrikadenkämpfe. Im Sommer 1986 verschickte die SAGA an alle Mieter der zwölf Häuser die Kündigung zum Jahresende. Bausenator Eugen Wagner verkündete, der Elbhang solle zur Visitenkarte der Stadt werden.
Zusehends verschärfte sich die staatliche Repression. Bei Hausdurchsuchungen und Begehungen durch Hundertschaften der Polizei wurde alles kurz und klein geschlagen, Türen zertrümmert, Treppen demoliert und Stromleitungen herausgerissen. Zwecks Verstopfung warfen die Polizisten Murmeln in die Toiletten. Die Wohnungseinrichtungen schmissen die Durchsuchungskommandos einfach aus dem Fenster. In die Bettwäsche und auf Lebensmittel sprühten sie Reizgas. Die Besetzer sollten regelrecht zermürbt werden. Durch ständige Provokationen erhoffte man sich den Widerstand weiter zu radikalisieren und ihn dadurch in die Isolation zu treiben. Doch die Taktik ging nicht auf.
Auf viele Hamburger hatte die Hafenstraße lange Zeit eher bedrohlich gewirkt. Man beobachtet sie aus sicherer Entfernung und schüttelte den Kopf. »Extremisten, die vor keiner Gewalt zurückschrecken«, so das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild. Rechte Politiker und Springer-Presse sponnen sich gar die RAF-Kommandozentrale in die Hafenstraße, um die Besetzung zu diskreditieren. Doch auch die Besetzer und ihre Unterstützer trugen zu ihrem schlechten Ruf bei. Durch militantes Auftreten und linksradikales Gebaren versuchten sie sich von der »normalen« Gesellschaft abzugrenzen. Die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum war in ihrem Kampf schon lange in den Hintergrund gerückt.
Ausweitung des Widerstands
Doch die Härte und Brutalität, mit der der Staat gegen sie vorging, ließ die Sympathien umschlagen. Vor allem die martialischen Polizeieinsätze führten zu einem Stimmungswandel in der Bevölkerung zu Gunsten der Besetzer. Insbesondere in der unmittelbaren Nachbarschaft der Hafenstraße wuchs der Unmut über die Dauerrepression. Die Anwohnerinnen und Anwohner waren massiv von der Belagerung der Polizei und den ständigen Ausweiskontrollen betroffen. Die Beteiligung an den Demonstrationen nahm stetig zu. Immer mehr Menschen sahen in der Besetzung einen legitimen Widerstand gegen die Verdrängung und die repressive Politik des Senats.
Ende 1986 erreichte die Bewegung schließlich ihren Höhepunkt. Am 20. Dezember, kurz vor Ablauf der Mietverträge, zogen 12.000 Menschen durch die Hamburger Innenstadt. »Solidarität mit der Hafenstraße. Keine Räumung, kein Abriss. Schluss mit dem Polizeiterror«, lauteten die Parolen. Zum ersten Mal hatte ein breites Bündnis zu Protesten aufgerufen. Polizei und Senat waren mit ihrer »Tabula-rasa-Taktik« gescheitert. Statt die Besetzer zu isolieren, hatte sie zur Ausweitung des Widerstands geführt. Eine Räumung war unter diesen Umständen nicht durchzusetzen. Doch die Hardliner innerhalb des Senats gaben noch nicht auf. Bis zum Showdown im November 1987 folgten für die Bewohner weitere Monate der Ungewissheit.
Letztlich war es die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung und der Druck von der Straße, der den Senat zum Einlenken brachte und ihn zwang doch noch eine Vertragslösung zu akzeptieren. Der gemäßigte Flügel der SPD um Bürgermeister Dohnanyi hatte sich durchgesetzt. Doch schon 1988 kippte die Mehrheit im Senat wieder. Dohnanyi trat zurück und sein Nachfolger Henning Voscherau gerierte sich als Law-and-Order-Mann. Diesmal sollten die Bewohner herausgeklagt werden. Doch diese zogen bis vor das Bundesverfassungsgericht und bekamen Recht. Rund fünfzehn Jahre nach Beginn des Konflikts wird die Hafenstraßen-Genossenschaft gegründet. 1995 kauft sie die Häuser der Stadt für zwei Millionen Mark ab.
Was bleibt vom Kampf um die Hafenstraße?
Die Besetzung hatte Erfolg. Der Abriss wurde verhindert und die Bewohnerinnen und Bewohner konnten bleiben. Doch der Sieg war nur zum Preis einer Anerkennung der Spielregeln des »Rechtsstaates« zu erlangen. Der Kompromiss war notwendig und richtig, weil er den tatsächlichen Kräfteverhältnissen entsprach. Aber er steht in deutlichem Widerspruch zu der formulierten Strategie durch Hausbesetzungen herrschaftsfreie Räume unter den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen zu errichten.
Heute ist es still geworden um die Häuser am Hafenrand. Lediglich Touristen pilgern noch in Scharen zu den bunt bemalten Fassaden. Inzwischen lebt dort teilweise eine Generation, die den Häuserkampf nur noch aus Erzählungen kennt. Und auch bei den letzten Veteraninnen und Veteranen der Besetzung ist nicht mehr viel von der einstigen Militanz zu spüren. Der kollektive Anspruch artikuliert sich noch im Beharren gemeinsame Entscheidungen im Plenum zu treffen. Ansonsten unterscheidet sich das Leben in der einst umkämpften Straße nur noch wenig von dem in normalen Mietwohnungen. Und noch immer gehören die Häuser nicht denen, die in ihnen leben. Es wird Miete gezahlt und bei Zahlungsverzug auch angemahnt.
Das ursprüngliche Problem besteht indes weiterhin: Bezahlbarer Wohnraum ist nach wie vor Mangelware und immer wieder werden Häuser auf St. Pauli verkauft und müssen Bürobauten weichen. Über 90.000 Wohnungen fehlen aktuell in Hamburg – so viele wie sonst nirgendwo in der Bundesrepublik. Gleichzeitig stehen 2.000 Wohnungen und über eine Million Quadratmeter Büroflächen leer. Um auf diesen Wahnsinn aufmerksam zu machen, könnte die Besetzung von Häusern auch heute ein richtiger Schritt sein.
Foto: Radio Hafenstraße
Schlagwörter: Autonome, Besetzung, Hamburg, Hausbesetzer, sozialer Wohnungsbau, Wohnungsbau, Wohnungsnot