Stathis Kouvelakis, Mitglied im Parteivorstand von Syriza und führendes Mitglied der Linken Plattform, beschreibt im Interview, welche Lehren er aus den letzten Wochen gezogen hat und wie seine Perspektive für Syriza und die europäische Linke aussieht.
Was waren die Ursachen für das Referendum im Juli? Für viele kam es aus heiterem Himmel, als Trumpf, den der griechische Premier Alexis Tsipras aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Aber es herrscht einige Unsicherheit über seine Motive – manche spekulieren sogar, dass er mit einer Niederlage gerechnet haben soll.
Ich meine, dass das Referendum ganz klar ein Versuch war, sich aus der Falle zu befreien, in welche die Regierung im Verhandlungsprozess geraten ist.
Es war tatsächlich recht offensichtlich, dass die Regierung wie Tsipras im Laufe der Abwärtsspirale immer weiterer Zugeständnisse erkannt haben, dass kein Vorschlag die Troika jemals zufriedengestellt hätte. In der letzten Juniwoche war dann klar, dass die Vereinbarung, die sich langsam herauskristallisierte, innerhalb von Syriza durchfallen würde und ebenso auch in der öffentlichen Meinung.
Aus den parteieigenen Reihen, auch weit über die Linke Plattform hinaus, gab es Appelle an die Führung und an Tsipras selbst, dass dies nicht akzeptabel sei. Am Ende jener Woche gab es dann einen deutlichen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Die Leute hatten den Prozess endloser Verhandlungen schlichtweg satt. Es herrschte die Auffassung, dass die Troika ausschließlich darauf aus war, die griechische Regierung zu demütigen.
Tsipras, von dem man sagen muss, dass er als Politiker durchaus ein Spieler ist, verstand das Referendum – eine Idee die übrigens nicht gänzlich neu war und bereits von anderen Personen in der Regierung ins Spiel gebracht worden war, unter anderem von Yanis Varoufakis – nicht als Bruch mit dem Verhandlungsprozess, sondern als Schachzug, um seine Verhandlungstaktik zu stärken.
Ich kann das mit Sicherheit sagen, da ich Zugang zu detaillierten Berichten über die entscheidende Kabinettssitzung am Abend des 26. Juni hatte, an dem das Referendum angekündigt wurde.
Zwei Dinge müssen an dieser Stelle betont werden: Erstens ist es so, dass Tsipras und die meisten ihm nahestehenden Personen davon ausgegangen sind, es würde ein Spaziergang werden. Und das traf vor der Bankenschließung auch absolut zu. Die allgemeine Stimmung deutete darauf hin, dass es einen überwältigenden Sieg von mindestens 70 Prozent geben würde.
Das war ziemlich realistisch. Wären die Banken nicht geschlossen worden, wäre das Referendum mit Leichtigkeit gewonnen worden. Aber die politische Bedeutsamkeit wäre eine andere gewesen, denn es wäre ein „Nein“ gewesen ohne die aufgeladene und dramatische Atmosphäre, die durch die Schließung der Banken und die Reaktion der Europäer kreiert wurde.
Was in dieser Kabinettssitzung geschah, war, dass eine gewisse Anzahl an Leuten – der rechte Flügel der Regierung, unter der Führung des stellvertretenden Premiers Giannis Dragasakis – den Vorschlag ablehnten. Tatsächlich ist Dragasakis derjenige, der den gesamten Verhandlungsprozess auf griechischer Seite überwacht. Alle Mitglieder der Verhandlungsgruppe – mit Ausnahme des neuen Finanzministers Euclid Tsakalotos – sind auf seiner Seite, und er war der prominenteste unter denjenigen im Kabinett, die Varoufakis loswerden wollten.
Für diese Gruppe war das Referendum ein hochriskanter Vorschlag und verstanden es gänzlich anders als Tsipras: Als äußerst konfrontativen Schachzug, der harsche Reaktionen der europäischen Seite hervorrufen würde – damit sollten sie recht behalten.
Zudem hatten sie Angst vor der Dynamik von unten, die durch diese Initiative entstehen würde. Auf der anderen Seite vertrat Panagiotos Lafazanis, Führungsfigur der Linken Plattform und Energieminister, die Position, dass das Referendum die richtige Entscheidung sei, wenngleich sie zu spät käme. Er warnte allerdings auch davor, dass es einer Kriegserklärung nahe käme, dass Zahlungen eingestellt würden und wir innerhalb weniger Tage damit rechnen müssten, dass die Banken geschlossen würden. Die meisten Anwesenden lachten einfach über diese Vorstellung.
Ich denke dieser Mangel an Gespür dafür, was passieren würde, ist absolut entscheidend für ein Verständnis der gesamten Logik, mit der die Regierung bisher gehandelt hat. Sie konnten einfach nicht glauben, dass die Europäer so reagieren würden, wie sie reagiert haben. In gewisser Hinsicht hatte der rechte Flügel von Syriza eine wesentlich klarere Vorstellung dessen, was auf sie zukam.
Das erklärt auch, was in der Woche vor dem Referendum auf jener Ebene vor sich ging. Tsipras wurde von Dragasakis und anderen extrem unter Druck gesetzt, das Referendum zurückzuziehen. Das hat er natürlich nicht getan, er machte jedoch klar, dass der rechte Flügel mit seinen nächsten Schritten einverstanden sein würde. Sein Vorgehen war daher kein Bruch mit der bisherigen Linie, sondern eher ein taktischer Zug innerhalb dieses Rahmens.
Das steckte also hinter dem Quasi-Rückzieher am Mittwoch vor der Abstimmung?
Ganz genau. An jenem Mittwoch haben manche sogar von einem intern stattfindenden Putsch gesprochen und in Athen brodelten die Gerüchte, dass Tsipras das Referendum zurückziehen würde. In seiner Rede bestätigte er dann das Referendum, stellte jedoch auch klar, dass es ein Werkzeug in der Aushandlung eines besseren Deals sein sollte, und dass es nicht das Ende der Verhandlungen darstellen würde, sondern lediglich deren Fortsetzung unter vorgeblich verbesserten Bedingungen. Und bei dieser Aussage blieb er die ganze Woche über.
Ein Aspekt, den ich an diesem Vorgang selbst aus der PR-Perspektive nicht verstanden habe, ist die Tatsache, dass er ein Referendum zu einer Reihe vorgeschlagener Maßnahmen ausgerufen hat, zu deren Ablehnung er die Leute anschließend aufrief – nur um dann im Vorlauf der Abstimmung einen Schritt auf die Gläubiger zuzumachen, der in mancherlei Hinsicht noch schlimmer wirkte als die Maßnahmen, zu deren Ablehnung er die Menschen aufgerufen hatte. Das hat einen absolut dilettantischen und chaotischen Eindruck vermittelt.
Ich habe versucht die Absichten Tsipras zu rekonstruieren, vor allem im Bezug auf deine Frage, ob er dachte, dass er das Referendum verlieren würde und im Versuch, klarzustellen, welche Bedeutung das Referendum für ihn hatte. Klar ist jedoch, dass es Kräfte freigesetzt hat, die weit über jede Absicht hinausgingen. Tsipras und die Regierung waren offenkundig von der Dynamik, die von ihrem Referendum ausging, überrumpelt.
In der Folge haben sie mit allen Mitteln versucht, diese Büchse der Pandora wieder zu schließen. Die Art, wie Tsipras mit dem Druck von Dragasakis umging – was auch jenen Mittwoch so entscheidend machte – bestand darin, dass er ihre Linie akzeptierte und seinen berüchtigten Brief an die Eurogruppe schrieb, und davor noch den Brief, in dem er um einen weiteren Kredit bat. Das alles ebnete den Weg für die Ereignisse der Woche nach dem Referendum.
Auf der anderen Seite musste er als Rechtfertigung der Tatsache, dass er das Referendum zurückziehen konnte, ohne sich der völligen Lächerlichkeit preiszugeben, seine Initiative begründen. Er musste über den Kampf gegen die Sparmaßnahmen des Juncker-Pakets reden, er musste über die Erpressung durch die Troika reden, der er ausgesetzt war. Und natürlich packte die Dynamik, die sich von unten entwickelte, diese Gelegenheit beim Schopf, nahm ihn beim Wort und sagte der Troika den Kampf an.
Dies ist ein klassisches Beispiel für eine Initiative, die von oben als Resultat interner Widersprüche entstanden war und schließlich darin mündete, Kräfte freizusetzen, die weit über das hinausgingen, was die Führung beabsichtigt hatte. Das ist entscheidend, denn es muss klar sein, dass eine der größten Schwierigkeiten, denen Tsipras nach der Kapitulation in Form der gestrigen Übereinkunft gegenübersteht, in der äußerst fragwürdigen politischen Rechtmäßigkeit seines Handelns nach dem Referendum besteht.
Wir müssen uns klar machen, dass es völlig illusorisch ist anzunehmen, dass man so tun könnte, als hätte das Referendum nie stattgefunden. Es hat stattgefunden und für die internationale öffentliche Meinung sowie für die griechische Gesellschaft ist es offensichtlich, dass Tsipras das Mandat des Volkes verrät.
In der großen Frage, ob Tsipras eine Art machiavellistisches Super-Taktikgenie oder ein wilder Zocker ist, der von den die Ereignisse überwältigt wurde, ordnest du dich also dem zweiten Lager zu?
Nun, ich gehöre definitiv zum zweiten Lager, wenn wir Folgendes klarstellen: Tsipras und die restliche Führung haben tatsächlich von Anfang an recht konsequent dieselbe Linie verfolgt. Sie dachten, dass die Kombination aus einem „realistischen“ Ansatz in den Verhandlungen und einer gewissen rhetorischen Entschlossenheit zu Eingeständnissen seitens der Europäer führen würden. Mit dieser Linie gerieten sie jedoch in eine Falle, und als sie dies bemerkten, hatten sie keine alternative Strategie. Sie lehnten konsequent jede andere Strategie ab und machten eine Umsetzung nahezu jedes anderen Ansatzes unmöglich, als das Zeitfenster dafür noch offen gewesen wäre. Nun sagt Varoufakis in dem Interview, das er dem „New Statesman“ vor ein paar Tagen gegeben hat, dass ein kleines Team um ihn herum in der Woche vor dem Referendum an einem alternativen Plan gearbeitet hätte. Darin enthalten gewesen sei die staatliche Kontrolle der Banken, die Ausstellung von Schuldscheinen und das Abkoppeln der griechischen Zentralbank von der Frankfurter EZB – also eine Art schrittweiser Ausstieg. Das kam jedoch ganz klar viel zu spät und wurde von nahezu allen übrigen Ökonomen im Kabinett abgelehnt, womit er im Grunde Dragasakis meint. Und Tsipras bestätigte diese Entscheidung natürlich.
Deshalb müssen wir die Kontinuität in der Linie von Tsipras betonen. Aus diesem Grund finde ich auch, dass das Wort „Verrat“ ungeeignet ist, wenn wir verstehen wollen, was gerade passiert. Objektiv betrachtet wiederum können wir natürlich sagen, dass es einen Verrat am Auftrag der Bevölkerung gab, und dass die Menschen sich zurecht verraten fühlen.
Üblicherweise gehört zum Konzept des Verrats allerdings der Moment, in dem man die bewusste Entscheidung trifft, sich von seinen Verpflichtungen abzuwenden. Was meiner Meinung nach in Wirklichkeit passiert ist, war, dass Tsipras ehrlich daran geglaubt hat, ein positives Ergebnis erzielen zu können, indem er eine Vorgehensweise des Verhandelns und Entgegenkommens an den Tag legte. Deswegen sagte er auch fortwährend, dass er keinen Plan B habe. Er dachte, wenn er als loyaler „Europäer“, frei von „Hintergedanken“ auftreten würde, würde dies belohnt werden. Andererseits zeigte er sich einige Monate lang dem Druck gewachsen und machte einige unvorhersehbare Schachzüge, wie etwa das Referendum oder seine Reise nach Moskau.
Seiner Ansicht nach war dies der richtige Ansatz in dieser Angelegenheit – wenn man jedoch einer solchen Linie konsequent folgt, kommt man in eine Position, in der man nur noch schlechte Auswahlmöglichkeiten hat.
Und wo liegen die Ursprünge dieser Strategie? Inwieweit ist es ideologische Verblendung, inwieweit schlichte Ahnungslosigkeit? Für viele ist es verwirrend, dass da eine Regierung ist, die zu großen Teilen aus Intellektuellen besteht, aus Menschen, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, die politische Ökonomie des heutigen Kapitalismus zu studieren, sowohl in abstrakter als auch in konkreter Hinsicht, aus Menschen, die politische Aktivisten sind. Wie kann man sich also ihre augenscheinliche Naivität gegenüber dem politischen Gegner erklären? Liegt es an tief verwurzelter Ideologie oder einfach nur an einem Mangel an Erfahrung mit „Spitzenpolitik“?
Ich meine wir müssen zwischen zwei Gruppen innerhalb der Regierung unterscheiden. Zunächst gibt es den rechten Flügel der Regierung, angeführt von den zwei Chefökonomen Dragasakis und Giorgos Stathakis. Und dann gibt es den Führungskern, Tsipras und die Leute um ihn herum.
Die erste Gruppe hatte von Anfang an eine klare Linie – auf ihrer Seite gab es absolut keine Naivität. Ihnen war völlig klar, dass die Europäer niemals einen Bruch mit dem Memorandum hinnehmen würden.
Darum hat Dragasakis von Anfang an alles getan, um die Logik der allgemeinen Vorgehensweise nicht zu ändern. Er hat offensichtlich alle Versuche sabotiert, Syriza ein ordentliches Wirtschaftsprogramm zu geben, selbst wenn dieses sich innerhalb der mehrheitlich von der Partei angenommenen Rahmenbedingungen bewegt hätte. Er glaubte, eine verbesserte Version der Rahmenbedingungen des Memorandums sei das Einzige, was man erreichen könne. Er wollte sich ganz darauf konzentrieren, den Deal mit den Europäern auszuhandeln, ohne selbst allzu sehr in Erscheinung zu treten. Es gelang ihm, die Verhandlungsgruppe zu steuern, besonders nachdem man Varoufakis ins Abseits gedrängt hatte.
Im Sommer 2013 hatte er ein sehr interessantes Interview gegeben, das damals für viel Aufsehen sorgte. Was er vorschlug, war nicht einmal eine mildere Variante des Syriza-Programms, sondern tatsächlich ein ganz anderes Programm, welches sich nur durch minimale Verbesserungen vom existierenden Übereinkommen abhob, welches die Nea Dimokratia unterzeichnet hatte.
Und dann gibt es den anderen Ansatz, den von Tsipras, welcher in der Ideologie eines linken Europagedankens wurzelt. Das beste Beispiel hierfür ist meiner Meinung nach Euclid Tsakalotos, ein Mann, der sich selbst als strammen Marxisten bezeichnet und aus einer eurokommunistischen Tradition kommt. Wir sind seit Jahren zusammen in einer Organisation. Eines seiner typischsten Statements, das sowohl seine Ideologie als auch seine Perspektive zur Wirkung der großen akademischen Präsenz darstellt, findet sich in einem Interview mit der französischen Website Mediapart aus dem April dieses Jahres.
Als er nach seinem bisher größten Aha-Moment seit der Regierungsübernahme gefragt wurde, antwortete er damit, dass er sich als Akademiker, dessen Job es sei, Volkswirtschaft an der Universität zu lehren, natürlich gewissenhaft auf die Verhandlungen in Brüssel vorbereitet hätte. Er hätte ein ganzes Arsenal an Argumenten vorbereitet und erwartete ebenso fundierte Gegenargumente. Was er aber stattdessen erlebt habe, war, Leuten gegenüberzustehen, die ohne Unterlass Regeln, Abläufe und so weiter herunterleierten. Tsakalotos sagte, er sei enttäuscht gewesen vom niedrigen Niveau der Diskussion. Im Interview mit dem „New Statesman“ berichtet Varoufakis sehr ähnlich von seinen Erfahrungen, obwohl sein Stil eindeutig konfrontativer ist als der von Tsakalotos.
Daran zeigt sich, dass diese Leute eine Konfrontation mit der EU erwartet hatten, die ähnlich einer wissenschaftlichen Konferenz ablaufen würde, bei der man eine ordentliche Präsentation liefert und erwartet, eine ordentliche Gegenpräsentation zu hören.
Ich denke das ist symptomatisch dafür, wie es in der heutigen Linken aussieht. Die Linke ist voll von Menschen, die es gut meinen, aber im Bereich der Realpolitik völlig überfordert sind. Aber es zeigt ebenso die geistige Verwüstung auf, die der fast schon religiöse Glaube an den europäischen Geist verursacht hat. Diese Leute haben also tatsächlich bis zum bitteren Ende daran geglaubt, dass sie etwas aus der Troika herausholen könnten. Sie dachten, dass zwischen „Partnern“ doch ein Kompromiss möglich sein müsste, und dass man ja gemeinsame Grundwerte hätte, wie etwa den Respekt vor demokratischen Mandaten oder die Chance einer vernünftigen Diskussion auf Basis ökonomischer Argumente.
Der etwas konfrontativere Gesamtansatz von Varoufakis lief letztlich auf dasselbe hinaus, er war lediglich in die Rhetorik der Spieltheorie eingewickelt. Laut ihm hätten wir das Spiel bis ganz, ganz, ganz zum Ende spielen müssen, und dann hätten sie sich zurückziehen müssen, da der Schaden ohne Rückzug für sie zu groß ausgefallen wäre.
Was aber tatsächlich passiert ist, glich einem Kampf zwischen zwei Menschen, bei dem die eine Person Gefahr läuft, einen Zeh zu verlieren, und die andere Person Gefahr läuft, eines oder beide Beine zu verlieren.
Es stimmt also, dass es an grundlegendem Realitätssinn fehlte, was wiederum direkt mit dem zentralen Problem zusammenhängt, dem sich die heutige Linke stellen muss – unserer eigenen Ohnmacht.
Dieser Glaube an den europäischen Geist, den du in der zentralen Fraktion der Syriza-Führung siehst – worin hat der seinen ideologischer Ursprung? Wir sprechen ja hier nicht von Liberalen, sondern von Menschen, die sich zumeist als Marxisten bezeichnen. Gibt es hier einen Einfluss von Habermas oder Étienne Balibar?
Meiner Ansicht nach ist Balibar hier wohl relevanter als Habermas. Ich meine, wie gesagt, wir müssen Tsakalotos beim Wort nehmen. Am Tag, nachdem der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seine demütigenden Gegenvorschläge übersandt hatte, gab Tsakalotos Paul Mason ein Interview.
Als Mason ihn auf den Euro ansprach, antwortete Tsakalotos, dass ein Grexit eine absolute Katastrophe wäre und dass Europa dann wieder dastünde wie in den 1930ern – in einem Wettbewerb zwischen nationalen Währungen, mit einem Aufschwung für verschiedene Nationalismen und den Faschismus.
Für diese Menschen gibt es also nur zwei Möglichkeiten: Entweder „Europäer“ sein und die existierenden Rahmenbedingungen akzeptieren, was objektiv anscheinend einen Fortschritt gegenüber der alten Realität der Nationalstaaten darstellt – oder „Anti-Europäer“ sein, was gleichbedeutend wäre mit einem Rückfall in den Nationalismus sowie reaktionärem und regressivem Handeln.
Hierin liegt eine schwache Legitimation der Europäische Union – sie ist zwar nicht ganz ideal, aber besser als alles andere.
Dieser Fall zeigt meiner Ansicht nach deutlich, welche Ideologie hier am Werk ist. Auch wenn man sich nicht positiv mit dem Projekt identifiziert und starke Zweifel an der neoliberalen Ausrichtung und der hierarchischen Struktur der europäischen Institutionen hat, bewegt man sich trotzdem innerhalb seiner Koordinaten und kann sich nichts Besseres außerhalb seiner Rahmenbedingungen vorstellen.
Das steht hinter dem Verschreien eines Grexit als Rückfall in die 1930er beziehungsweise apokalyptisches Szenario. Es ist ein Symptom dafür, wie sehr die Führung in ihrer eigenen Ideologie des linken Europagedankens festsitzt.
Es ist leichter, sich den Weltuntergang vorzustellen, als ein Ende der Europäischen Union oder selbst des Euros.
Exakt. Genau das habe ich bereits vor einigen Jahren geschrieben.
Diese unkritische Haltung der EU gegenüber ist nicht kompatibel mit den Ansichten von Nicos Poulantzas, auch wenn einige Intellektuelle Poulantzas nutzen um die Position der Führung zu verteidigen.
Ja, Poulantzas behandelte im ersten Teil seines Buches über soziale Klassen im zeitgenössischen Kapitalismus die europäische Integration. Er analysiert darin den Prozess der Internationalisierung des Kapitals und sieht die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft klar als Beispiel für eine imperialistische Internationalisierung des europäischen Kapitals im Rahmen dessen, was er als strukturelle Nachkriegshegemonie der Vereinigten Staaten ansah.
Kommen wir noch einmal auf das Referendum selbst zurück. Das Referendum fand vor dem Hintergrund einer Liquiditätskrise statt und wurde begleitet von Bankenschließungen, hysterischen Gegenkampagnen der Medien und dem Druck der „Ja“-Parteien. Dann passierte jedoch etwas, das eine enorme Gegenreaktion in der griechischen Bevölkerung auslöste. War ihr Motiv Nationalstolz? War es hauptsächlich eine Klassenfrage? Oder spielte, wie Paul Mason und andere spekuliert haben, die Erinnerungen an den Bürgerkrieg eine Rolle? Was sind die Hauptursachen für das klare „Nein“?
Von allen Faktoren, die du erwähnt hast, hat der Bürgerkrieg wohl die kleinste Rolle gespielt. Wir müssen berücksichtigen, dass das „Nein“ selbst in den traditionell stark konservativen Teilen des Landes wie etwa Lakonien nahe Sparta, Messinia und anderen Gebieten in Zentral-Griechenland, wo die Rechte dominiert, wie beispielsweise Evrytania, klar überwog. Das „Nein“ war in allen Bezirken Griechenlands mehrheitlich.
Der Faktor Klasse war definitiv der wichtigste von den Dreien, die du genannt hast. Ich werde sie noch einmal der Wichtigkeit nach durchgehen. Selbst Kommentatoren, die eher im Mainstream angesiedelt sind, mussten anerkennen, dass diese Abstimmung in ihrer Trennung nach Klasse einzigartig für die griechische Geschichte war. In den Arbeitervierteln gab es 70 Prozent und mehr für ein „Nein“, in den Reichenvierteln 70 Prozent und mehr für ein „Ja“.
Die hysterische Gegenkampagne der herrschenden Kräfte und die dramatische, konkrete Situation, verursacht durch Bankenschließungen und Einschränkungen der Bargeldabhebungen, ließen in den unteren Klassen sehr schnell die Erkenntnis erwachsen, dass das „Ja“-Lager all das verkörperte, was sie hassen. Die Tatsache, dass das „Ja“-Lager eine Reihe verhasster Politiker, Experten, Geschäfts- und Medienleute für seine Kampagne mobilisiert hat, tat sein Übriges um diese Klassenreaktion zu entflammen.
Die zweite Sache, die ebenso beeindruckend ist, ist die Radikalisierung der Jugend. Zum ersten Mal seit Beginn der Krise hat die Jugend als Masse vereint Stellung bezogen. 85 Prozent der 18-24-jährigen stimmten für „Nein“, was zeigt, dass diese Generation, die vom Memorandum komplett geopfert wurde, sich über die Zukunft, die sie erwartet, durchaus im Klaren ist und eine sehr klare Einstellung zu Europa hat.
In der französischen Tageszeitung „Le Monde“ gab es einen Artikel, der fragte: „Wie kommt es, dass Jugendliche, die mit dem Euro und der Europäischen Union aufgewachsen sind, sich nun gegen sie wenden?“. Die Antwort aller Interviewten war einfach: Wir haben gesehen, wofür Europa steht. Europa steht für Austerität, für die Erpressung unserer Regierung und Europa steht für die Zerstörung unserer Zukunftsaussichten.
Das erklärt auch die entschlossenen Massendemonstrationen jener Woche, gipfelnd vor allem am Freitag den 3. Juli mit Demonstrationen in Athen und anderen Großstädten Griechenlands.
Ein dritter Faktor ist sicherlich der Nationalstolz. Das erklärt, warum selbst außerhalb der großen urbanen Zentren, im ländlichen Griechenland und den kleinen Städten, wo die Trennlinien zwischen den Klassen nicht so klar verlaufen, das „Nein“ eine klare Mehrheit hatte. Es war ein „Nein“ zur Troika, es war ein „Nein“ zu Juncker. Die Wahrnehmung war dahingehend, dass selbst für diejenigen Menschen, die der Regierung skeptisch gegenüber stehen und sich nicht mit Syriza oder Tsipras identifizieren, ganz klar war, dass es sich um den Versuch handelte, eine gewählte Regierung zu demütigen und das Land unter der Herrschaft der Troika zu halten.
Du hast einige Arbeitsstellen besucht um für das Nein zu werben. Kannst du ein bisschen über die Stimmung dort berichten?
Das war natürlich eine einzigartige Erfahrung. Man traf auf unterschiedlichste Situationen – die Atmosphäre bei den Eisenbahnern war sehr angespannt. Deren Unternehmen ist bereits weitestgehend zerlegt, und was übrig ist, wird privatisiert werden. Die Arbeiter dort wussten, dass Syriza die Privatisierung der Eisenbahn bereits akzeptiert hatte. Das war sogar schon in der ersten Reformliste enthalten, die von Varoufakis nach den Vereinbarungen vom 20. Februar verkündet wurde.
Aber trotz der unterschiedlichsten Hintergründe drehte sich an allen Arbeitsstellen, die ich besucht habe, die Diskussion um zwei unterschiedliche Punkte: Warum hat die Regierung bisher so wenig gemacht, warum ist sie so ängstlich? Und: Was werdet ihr nach dem Sieg des „Neins“ machen?
Für diese Leute war es vollkommen klar, dass das „Nein“ gewinnen würde, denn die „Ja“-Kampagne war an den Arbeitsplätzen und allgemein innerhalb der Arbeiterklasse unsichtbar. Daher gab es keinen Zweifel daran, wie das Ergebnis ausfallen würde. Aber es war eine große Nervosität darüber zu spüren, was nach dem Sieg geschehen würde.
Die Fragen waren also: Was sind eure Pläne? Was werdet ihr tun? Warum redet ihr immer noch über Verhandlungen, wenn wir seit fünfeinhalb Monaten sehen, dass dieser Ansatz fehlgeschlagen ist?
Das brachte mich in meiner Rolle als Sprecher und Mitglied des Zentralkomitees von Syriza in eine sehr unangenehme Lage. Ich konnte nicht auf alle Fragen überzeugende Antworten liefern.
Das Nein gewann natürlich mit überwältigender Mehrheit. Warst du vom Ausmaß des Sieges überrascht?
Ja. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das „Nein“ die Marke von 60 Prozent übersteigen würde. Es sollte erwähnt werden, dass von den Top-Kadern von Syriza nur Lafazanis mit diesem Ergebnis gerechnet hatte und sogar in der Linken Plattform nur sehr wenige ebenso dachten. Die meisten rechneten mit etwas um die 55 Prozent.
Die erste unmittelbare Auswirkung des klaren „Nein“-Sieges waren zunehmende Auflösungserscheinungen der Opposition.
An jenem Abend, als das Ergebnis feststand, stand auch die vollständige Niederlage dieser Leute fest – es war die bei Weitem herbste Niederlage der Austeritätsbefürworter seit Beginn der Krise. Es war noch viel deutlicher und offensichtlicher als bei den Wahlen im Januar, nach denen sie sich neu aufgestellt und alle Kräfte mobilisiert haben. Trotzdem haben sie diese vernichtende Niederlage erlitten. Sie haben nicht in einer einzigen Region Griechenlands gewonnen.
Der Vorsitzende der Nea Dimokratia und ehemalige Premier Antonis Samaras ist quasi unmittelbar zurückgetreten. Nur Stunden später war es Tsipras selbst, der dieses gesamte Lager wiederbelebte, indem er es zum „Ratschlag der Vorsitzenden“ einlud, unter der Leitung des Präsidenten der Republik – einem offenen „Ja“-Unterstützer, der im Februar von einer Syriza-Mehrheit im Parlament berufen worden war.
Bei diesem Treffen passierte außergewöhnliches – der Kopf des siegreichen Lagers akzeptierte die Bedingungen des besiegten Lagers. Das – und man muss es so sagen – ist einzigartig in der politischen Geschichte. Ich weiß nicht, ob es so etwas jemals gegeben hat.
Die Regierung war vermutlich überrascht vom Nachdruck des „Nein“-Votums. Und auch wenn der Klassenfaktor erkannt wurde, folgerte man nur daraus, dass es die ursprünglichen Pläne bestätigt hatte. Es gab kein Bewusstsein dafür, dass etwas Tiefgründigeres am Werk war.
Ich kann nur darüber spekulieren, wie man das Referendum interpretiert hat, weil alle von den sogenannten Verhandlungen vereinnahmt waren, die natürlich ein einziger Witz waren. Den wohl treffendsten Ausdruck für diese Verhandlungen hat Ian Traynor, ein „Guardian“-Korrespondent in Brüssel geprägt, der berichtete, dass ein EU-Beamter die Verhandlungen als „mentales Waterboarding“ bezeichnet hätte.
Klar ist jedenfalls, dass die Regierung diese Initiativen unmittelbar ergriffen hat um die Dynamik aufzuhalten, die mit dem Referendum aufgekommen war. Darum wurde nur Stunden nach der Verkündung des endgültigen Ergebnisses dieses Treffen der Parteivorsitzenden einberufen, das nun eine komplett neue Agenda festlegte.
Die neue Agenda, die natürlich in von der Vorgehensweise von Dragasakis in der Vorwoche inspirierten Grundzügen bereits existierte, beinhaltete, dass Griechenland in jedem Fall in der Eurozone bleiben müsste. Der Punkt in dem gemeinsamen Papier, der am meisten betont wurde, war derjenige, dass das Referendum kein Mandat für einen Bruch, sondern ein Mandat für eine bessere Verhandlungsposition sei. Das Papier war von allen Parteivorsitzenden unterzeichnet worden, mit Ausnahme der KKE, die nicht unterzeichnete und den Nazis, die man nicht zum Treffen eingeladen hatte. Von diesem Moment an war das Durcheinander komplett.
Gibt es Hinweise darauf, dass sich die öffentliche Meinung zur Eurozone im Verlauf des Referendums verändert hat?
Natürlich hat sie sich verändert. Das Argument, das in Endlosschleife von den Medien, den politischen Köpfen des Ja-Lagers, aber auch von den europäischen Führungspersonen, die sich in jener Woche offen und unverhohlen in das Referendum einmischten, wiederholt wurde, war, dass ein „Nein“ kein „Nein“ zum Euro wäre. Es ist also komplett unsinnig, zu behaupten, dass die Leute, die mit „Nein“ stimmten, nicht mindestens das Risiko eines Euro-Austrittes in Kauf genommen haben, wäre dieser die Bedingung für ein „Nein“ zu künftigen Sparmaßnahmen gewesen.
Es ist auch erwähnenswert, dass im Laufe der Woche ein Radikalisierungsprozess in der öffentlichen Meinung stattfand. Es war spürbar, auf den Straßen, an den Arbeitsstellen und an öffentlichen Orten aller Art.
Ich will nicht behaupten nicht, alles sei einheitlich gewesen. Es gab Leute, die argumentierten, dass ein „Nein“ der Regierung einfach nur neue Karten für die Verhandlungen geben würde. Ich sage nicht, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Aber wir müssen auch die Wucht des „Neins“ aus der Sicht der Leute im Land verstehen, besonders der Arbeiterklasse, der Jugend und der verarmten Mittelklasse – es bedeutet, dass sie dem Gefühl nach nichts mehr zu verlieren zu haben und bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen und sich einen Kampf zu liefern. Das schlug sich auch im Kampfgeist der Freitagsdemonstrationen nieder. Das war äußerst beeindruckend. So etwas habe ich in Griechenland seit den 1970er-Jahren nicht mehr erlebt.
Kommen wir zur Abstimmung im Parlament über die Vorschläge der griechischen Regierung an die Eurogruppe vom 9. Juli. In diesem Moment wurde klar, dass die Regierung sich mit einem neuen Sparpaket abgefunden hatte. 251 von 300 Abgeordneten stimmten den Vorschlägen zu, mit massiver Unterstützung der Pro-Austeritäts-Parteien.
Eine der Bedingungen der Gläubiger bestand darin, dass die Vorschläge der griechischen Regierung vom Parlament abgesegnet werden müssen, wohl wissend, dass das unsinnig war. Streng genommen ist es sogar verfassungswidrig, da das Parlament nur über Gesetze oder internationale/zwischenstaatliche Verträge abstimmen kann. Es kann nicht über ein simples Dokument abstimmen, das als Verhandlungsbasis dient und sich im Lauf von Verhandlungen ändern kann.
Es war ein rein symbolischer Vorgang, der der Regierung einen Blankoscheck dafür ausstellte, mit einer dramatisch verschlechterten Verhandlungsgrundlage zu arbeiten. Die Vorschläge der Regierung waren eine minimal reduzierte Version des Juncker-Plans, der im Referendum abgelehnt worden war. Was die Regierung also tatsächlich verlangte, war eine Bestätigung ihrer Kehrtwende aus jener Woche.
Das Bild innerhalb der Syriza-Fraktion stellt sich jedoch komplexer dar. Sprechen wir über die verschiedenen Positionen innerhalb Syrizas und darüber, welche Position die Linke Plattform eingenommen hat.
Die Position der Linken Plattform wurde intern heftig diskutiert, ganz besonders bei der größten Gruppe innerhalb der Plattform, der „Linken Strömung“, angeführt von Panagiotos Lafazanis. Die Mehrheitsmeinung war, dass wir an diesem Punkt differenziert abstimmen sollten. Das bedeutete, dass manche Leute mit „anwesend“ abstimmen sollten, was letztlich auf das gleiche hinausläuft wie ein „Nein“ – wenn auch vielleicht mit geringerer symbolischer Bedeutung.
Warum ist das gleichbedeutend mit einem „Nein“?
Weil es nichts an der erforderlichen Mehrheit ändert, die ein Vorschlag benötigt, um verabschiedet zu werden. Egal wie, man braucht 151 Stimmen, um ihn zu verabschieden.
Es gibt einen weiteren Teil der Gruppe, der für die Vorschläge gestimmt hat, während er gleichzeitig eine Erklärung herausgab, die zwei Aussagen machte: Erstens, dass man sich solidarisch mit denen erklärte, die die Vorschläge ablehnten – also mit denen, die mit „anwesend“ stimmten und die Vereinbarung nicht akzeptierten – und dass man nicht für eine Vereinbarung stimmen würde, die Sparmaßnahmen beinhalten würde.
Wahrscheinlich ist die zweite Aussage noch wichtiger als die erste (auf die kommen wir sicherlich gleich noch zurück). Die Argumentationslinie lautet, dass griechische Gesetzgebungspraxis wie folgt aussieht: Die Regierung muss in der Lage sein, zu zeigen, dass sie innerhalb der eigenen Ränge eine Mehrheit zustande bringt, entweder aus Partei oder auch Koalition, wie hier der Fall, wenn man ANEL, die Partei der unabhängigen Griechen, mit einbezieht. Die Regierung hatte effektiv die Kontrolle über ihre Mehrheit verloren.
Auch wenn es rechtlich nicht verbindlich ist, war es in der Geschichte des griechischen Parlaments immer Praxis, dass in dem Falle, dass die Regierung die eigene Mehrheit nicht mehr unter Kontrolle hat, das berühmte sogenannte „Dedilomeni“ (erklärte Mehrheit) in Kraft trat und Wahlen folgen mussten. Die Neuwahlen sind bereits ausgerufen – jetzt ist die Frage, wann sie stattfinden werden.
Wir halten also fest, dass diese Linie – mit der ich selbst nicht einverstanden war, ich gehöre zu denen, die ein einheitliches „Nein“ dem „anwesend“ vorgezogen hätten – gescheitert ist. Vor allem auch deshalb, weil tatsächlich zusätzlich zu den sieben Abgeordneten der Linken Plattform einige weitere Syriza-Abgeordnete und – wohl am bedeutsamsten – Zoe Konstantopoulou, Parlamentspräsidentin, und Rachel Makri, eine ehemalige ANEL-Abgeordnete, die ihr sehr nahe steht, mit „anwesend“ gestimmt haben. Damit hatte die Regierung bereits ihre eigene Mehrheit verloren.
Daraus wurde jetzt jedoch ein Entschluss gezogen, der bereits angekündigt wurde: Alle Abgeordneten der Linken Plattform werden das nächste Memorandum ablehnen. Hinzufügen sollte ich noch, dass zwei Abgeordnete der Linken Plattform, die nicht Teil der Linken Strömung sind, sondern dem Roten Netzwerk nahestehen, also dem trotzkistischen Teil der Plattform, mit „Nein“ gestimmt haben und damit die einzigen aus der Linken Plattform waren, die das neue Abkommen ablehnten.
Was du also behauptest, ist, dass die Linke Plattform diese komplizierte – zumindest außerhalb der Räumlichkeiten des Parlaments kompliziert – Position einnahm, weil sie falsch einschätzte, wie unpopulär Tsipras Vorschläge sein würden. Sie hatte unterschätzt, in welchem Ausmaß Leute außerhalb der Linken Plattform ihnen entgegentreten würden. Sie sahen sich selbst als so etwas wie die „letzten Mohikaner“. Sie glaubten, dass sie mit einem „Nein“ ihrerseits die Regierung stürzen und Neuwahlen provozieren würden und damit der harte Kern wären – tatsächlich war es aber eine viel größere Krise, die beispielsweise auch die Parlamentspräsidentin einschloss. Das haben sie in ihren Überlegungen nicht berücksichtigt. Sie handelten quasi aus einem Legitimitätsdenken heraus.
Das war es wohl, Legitimitätsdenken. Man wollte demonstrieren, dass man nicht die Regierung stürzen wollte, sondern dass man mit ihrem Vorgehen nicht einverstanden war, ihr quasi die Warnung aussprechen, dass sie dabei war die letzte rote Linie zu überschreiten. Es war ein Ausdruck für die Unrechtmäßigkeit des Handelns von Tsipras, ohne allerdings an Ort und Stelle mit ihm brechen zu wollen.
Ich sollte noch hinzufügen, dass die zwei wichtigsten Minister und Gesichter der Linken Plattform, nämlich Lafazanis selbst und der stellvertretende Sozialminister Dimitris Stratoulis, mit „Nein“ gestimmt haben, um das klarzustellen. Lafzanis veröffentlichte eine Erklärung, in der es hieß, dass dies zwar die Position der Plattform sei, jedoch keinen Versuch darstellte, die Regierung zu stürzen.
Denkst du denn, dass die eben erst radikalisierten Schichten der griechischen Arbeiterklasse, die gerade das Referendum gewonnen hatten, verstanden haben, was da vor sich ging?
Nun, sie haben verstanden, dass die Regierung die Kontrolle über ihre eigene Mehrheit verloren hatte. Die Medien haben diesen Job für uns übernommen, indem sie sich auf Lafazanis konzentrierten und sich ihre Berichterstattung darum drehte, wer mit „Nein“, „anwesend“ oder „abwesend“ gestimmt hatte. Ich muss außerdem noch hinzufügen, dass unter den Abwesenden vier Abgeordnete der maoistischen Strömung KOE und Yanis Varoufakis selbst befanden, der anscheinend „familiäre Verpflichtungen“ hatte. Die Medien haben uns also die Arbeit abgenommen und es war nun jedem klar, dass es innerhalb der Syriza-Fraktion eine Spaltung gab. Unverzüglich kam aus der rechten Ecke von Syriza die Forderung nach einem umgehenden Rücktritt all derjenigen, die nicht zugestimmt hatten, von all ihren Positionen einschließlich ihrer Sitze im Parlament. Die Zerrüttung von Syriza war also kein Geheimnis – wenn auch die Taktik dahinter nicht offensichtlich war.
Die symbolträchtigste und wichtigste Abstimmung wird jetzt stattfinden. Die Abstimmung in der vergangenen Woche betraf die Vorschläge für die Verhandlungen. Die nächste Abstimmung über das am Sonntag unterzeichnete Abkommen entscheidet über die Zukunft von Syriza und des gesamten Landes. Und allen Informationen nach, die ich bisher habe, wird diese eindeutig werden und im kollektiven Gedächtnis ähnlich haften bleiben wie die berühmten Abstimmungen im Mai 2010 und im Februar 2012, als alle Abgeordneten und ihr individuelles Abstimmungsverhalten genau beobachtet wurden.
Was hältst du von dem Argument, das beispielsweise Alex Callinicos vertritt, mit dem du vor ein paar Tagen diskutiert hast, das darauf lautet, dass dies der Moment war, in dem die Linke Plattform die Legitimation durch das Referendum hatte und dass sie ihre Gelegenheit versäumt hat?
Ich glaube es ist zu früh, um zu beurteilen, ob wir verloren haben oder nicht. Solche Dinge werden nicht in einem einzelnen Moment entschieden – zumindest nicht in diesem speziellen Moment. Aktuell läuft ein sich entwickelnder Prozess und ich denke der richtige Schock wird die Allgemeinheit mit dem neu unterzeichneten Abkommen erreichen.
Was ich zu diesem Zeitpunkt sagen kann, ist, dass die Linke Plattform sich darauf verständigt hat, die Partei zurückzugewinnen, und nach einem Parteitag zu verlangen. Ich glaube es ist ziemlich klar, dass diese Kehrtwende Syrizas nur von einer Minderheit innerhalb der Partei unterstützt wird. Natürlich wissen wir zu gut um unglaublich einfallsreiche und unbegrenzte bürokratische Einflussmöglichkeiten auf innerparteiliche Prozesse. Es ist jedoch für mich schwer, vorzustellen, dass die Mehrheit der Syriza-Mitglieder es gutheißt, was geschehen ist. Grundsätzlich wird die Führungsebene sich entschlossen gegen den Ruf nach einem Parteitag stellen. Wir werden sehen, was passiert, denn an sich erlaubt uns die Satzung die Einberufung eines Treffens des Zentralkomitees und so weiter.
Objektiv betrachtet allerdings hat der Zerfallsprozess von Syriza bereits begonnen. Syriza, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr, und die Spaltung ist absolut unumgänglich. Die einzige Frage ist, wie alles vonstattengehen wird und welche Formen es annimmt.
Was du hier beschreibst, ist eine Linke Plattform, die als disziplinierter Block handelt. Du deutest also an, dass es keine interne Spaltung gibt und dass die Abstimmung auch kein Anzeichen für eine Solche war, sondern ein taktisches Manöver.
Es gab vereinzelte Verluste, aber sie hielten sich in Grenzen und wir hatten Erfolg damit, den Zusammenhalt der linken Plattform zu wahren. Ganz klar, es war ein Fehler, dass wir unseren Alternativplan nicht früher präsentiert haben. Es wurde jedoch ein Papier der Parlamentariergruppe zur Fraktionssitzung eingereicht und als gemeinsame Erklärung der Linken Plattform präsentiert, einschließlich der Linken Strömung und des Roten Netzwerks. Es ist absolut entscheidend, die einheitliche Linie dieser zwei Teile beizubehalten. Aber noch viel entscheidender für die Syriza-Linke ist es, geschlossen vorzugehen.
Ich habe Anrufe erhalten und es gibt alle möglichen Initiativen, auch außerhalb der Linken Plattform, die versuchen auf die Situation zu reagieren. Wir wissen schon jetzt, dass bei der Tendenz der sogenannten Dreiundfünfzig (dem linken Flügel der Mehrheit) eine offizielle Auflösung stattgefunden hat und dass es bedeutende Neuausrichtungen auf dieser Seite geben wird. Das Wichtigste ist für uns, dass wir uns als legitime Vertretung des Nein-Lagers, des Anti-Austerität-Lagers präsentieren, also der Mehrheit der griechischen Gesellschaft, die objektiv gesehen durch das, was passiert ist, verraten wurde.
Ist die Führung satzungsgemäß in der Lage, die Partei zu säubern?
Sie ist sicherlich in der Position die Regierung zu säubern, und das ist gut so. Das bedeutet natürlich für die Minister aus der Linken Plattform – und dabei kann es sich nur noch um Stunden handeln – dass sie aus dem Kabinett ausgeschlossen werden. Was die Partei angeht, müssen wir abwarten.
Aber es gibt Mechanismen, die sie nutzen könnten.
Es ist sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, jemand aus der Partei auszuschließen. Aber wir werden sehen, wie man diese Mechanismen auf der Ebene des Zentralkomitees beeinflussen wird.
Und ist es möglich, Leute zur Abgabe ihrer Mandate zu zwingen?
Nein, ist es nicht. Das ist absolut unmöglich. Es gab eine Art Satzung, die von allen Syriza-Kandidaten angenommen wurde, und die besagt, dass sie ihr Mandat zurückgeben sollten, wenn sie mit der Entscheidungsfindung der Mehrheit nicht einverstanden sind. Die Entscheidungen der Regierung wurden aber von keiner Parteiinstanz abgesegnet. Das Zentralkomitee der Partei, welches das einzige vom Parteitag gewählte Organ ist, wurde seit Monaten nicht mehr versammelt. Die Legitimität dieser Entscheidungen ist also nicht existent, nicht innerhalb der Partei und erst recht nicht in der griechischen Gesellschaft.
Könnte die Parteiführung denn Leute ausschließen, wenn es Neuwahlen geben sollte?
Das ist offensichtlich ihr Plan. Es gab sogar im Vorlauf des Referendums Gerede darüber, dass dies passieren sollte, als während der finalen Phase der Verhandlungen die Sackgasse immer klarer wurde – da gab es Leute, die forderten, dass Tsipras Neuwahlen verkünden sollte und in der Zwischenzeit die Partei von den Kandidaten der Syriza-Linken gesäubert werden sollte. Ich denke das wird die Art Plan sein, die sie im Kopf haben. Es wird also ein Wettrennen zwischen Funktion und Legitimität der Partei einerseits und andererseits der Art und Weise werden, wie man das politische Programm und den Zeitplan beeinflussen kann beziehungsweise wann man Neuwahlen fordert.
Wie schätzt du die Vereinbarung ein, die am letzten Wochenende zwischen der griechischen Regierung und der Eurogroup geschlossen wurde?
Das Abkommen ist auf allen Ebenen eine vollständige Fortsetzung der Schocktherapie, der Griechenland die letzten fünf Jahre kontinuierlich unterzogen worden ist. Es geht sogar noch weiter als alles bisher Abgestimmte. Es beinhaltet die Sparmaßnahmen, die seit Monaten kontinuierlich von der Troika vorangetrieben wurden, mit hohen Primärüberschusszielen durch höhere Einnahmen aus Mehrwertsteuer sowie in den letzten fünf Jahren geschaffenen Sondersteuern, weiteren Rentenkürzungen und weiteren realen Lohnkürzungen, die mit der Reform der Gehaltsskala einhergehen werden.
Was jetzt noch hinzugefügt wurde und dem Abkommen einen besonders üblen Beigeschmack gibt, ist das Folgende: Erstens wurde zementiert, dass der IWF auf unbestimmte Zeit involviert bleibt. Zweitens werden die Institutionen der Troika auf Dauer in Athen vertreten bleiben und drittens wird Syriza davon abgehalten, zwei ihrer Hauptversprechen einzulösen, wie etwa die Wiedereinführung von Arbeitsrechten – es gab vage Absichtserklärungen im Sinne bewährter europäischer Verfahren, aber letztlich wurde klar gemacht, dass die Regierung nicht zur früheren Gesetzgebung zurückkehren konnte, was selbstverständlich auch den Mindestlohn betrifft.
Das Privatisierungsprogramm wurde auf ein unglaubliches Niveau hochgeschraubt – wir sprechen hier von einem Privatisierungsvolumen von rund 50 Milliarden Euro – der gesamte öffentliche Besitz wird also verkauft. Und nicht nur das: Alles wird an eine Institution überwiesen, auf die Griechenland keinen Einfluss hat. Es gab Gerüchte darüber, dass diese ihren Sitz in Luxemburg haben sollte – tatsächlich wird sie ihren Hauptsitz in Athen haben – aber sie wird dennoch vollkommen außerhalb jeder politischen Kontrolle liegen. Es handelt sich hierbei um den üblichen Treuhandprozess für die Privatisierung des ehemaligen DDR-Staatsbesitzes.
Die härteste Maßnahme von allen ist die, dass – mit Ausnahme des Gesetzes über humanitäre Maßnahmen, einer reduzierten Version des Syriza-Programms, die im Grunde symbolisch ist – der gesamte Rest der wenigen verabschiedeten wirtschaftlichen und sozialen Gesetze, welche die Regierung verabschiedet hatte, von ihr wieder zurückgenommen werden muss.
Was ist mit den Punkten, die Liberale und Sozialdemokraten nutzen, um politisch korrekte Argumente für Sparmaßnahmen zu liefern, also Verteidigungshaushalt und Orthodoxe Kirche?
Über die Kirche wird nichts gesagt. Es werden tatsächlich Einschnitte im Verteidigungshaushalt vorgeschlagen und es gab eine vage Diskussionen darüber, die Rückzahlung der Schulden verträglicher zu gestalten, während ausdrücklich jede Abschreibung abgelehnt wird, um es auf den Punkt zu bringen.
Das wird so gut wie nichts ändern, da die Zinssätze der griechischen Schulden bereits sehr niedrig sind und die jährlichen Rückzahlungen bereits über einen großen Zeitraum verteilt sind. Daher gibt es wenig Möglichkeiten, die Schuldenlast auf diese Weise zu verringern. Es ist hauptsächlich ein rhetorischer Kniff, der es Tsipras erlaubt, zu behaupten, dass man nun die Notwendigkeit erkannt hätte, mit der Schuldenproblematik umzugehen. Reine Rhetorik, leere Worte.
War es deiner Einschätzung nach ein Fehler der Regierung und der Linken, bezüglich Kirche, Armee und Verteidigungshaushalt nichts zu unternehmen und dadurch die Argumente der Gegenseite zu bestärken?
Das hatte ehrlich gesagt nicht gerade Priorität. Die griechischen Schulden sind hauptsächlich aus der gesamtwirtschaftlichen Lage entstanden, aus unnachhaltigem Wachstum, angetrieben durch die Kredite der vergangenen Jahre und außerdem aus der Tatsache heraus, dass der griechische Staat weder Vermögen noch die Mittel- und Oberschicht ordentlich besteuert hat. Dort liegt das wirkliche Problem, nicht in dem Mythos mit der Kirche.
Das ist schwieriger. Man kann nicht einfach über Nacht beschließen, die Kirche zu besteuern, da die Vermögenswerte der Kirche unheimlich divers sind. Das meiste besteht in Form von Unternehmen und Erträgen aus Landbesitz und Immobilien. Es gibt also einen Mythos, obwohl man eigentlich mit einer ordnungsgemäßen Besteuerung dieser Einnahmen und Vermögenswerte tatsächlich die Kirche an sich besteuern würde.
Es ist also gar nicht so, das die Regierung Angst vor den politischen Folgen eines härteren Umgangs mit der Kirche gehabt hätte, sowohl für ANEL als auch aus dem gesamten Land?
Also, es gibt ja wirklich viele Dinge, die man an der aktuellen Regierung kritisieren kann, aber ihr Versuch, einen Teil der Verantwortung auf ANEL abzuwälzen, ist sicherlich mit das Irrelevanteste.
Ich würde sogar sagen, dass das schockierendste Vorgehen im Bereich der Verteidigungs- bzw. Außenpolitik – zum Beispiel die Fortführung des Militärabkommens mit Israel und das gemeinsame Abhalten gemeinsamer Übungen auf dem Mittelmeer mit den Israelis – von führenden Syriza-Vertretern durchgesetzt wurde. Beispielsweise von Yannis Dragasakis – es war ziemlich bezeichnend, dass er die griechische Regierung beim Empfang der israelischen Botschaft zur Feier von 25 Jahren normaler diplomatischer Beziehungen zwischen Griechenland und Israel vertrat.
Was sagst du zu der Behauptung, die manche Leute aufzustellen versuchen, dass Tsipras es geschafft hätte, all den technischen Diskussionen wieder einen politischen Charakter zu geben? Es heißt er habe es geschafft, die andere Seite zu demaskieren und zu zeigen, wie sie wirklich sind, sodass Merkel und andere als die Monster dastehen, die sie tatsächlich sind und so weiter.
Das stimmt schon, auch wenn es unbeabsichtigt war. Ein Genosse schickte mir eine Nachricht, in der es hieß, die Syriza-Regierung hätte es tatsächlich geschafft, die EU bei den Griechen noch viel mehr in Ungnade zu bringen, als es Antarsya oder KKE, die seit zwanzig Jahren mit Anti-EU-Rhetorik arbeiten, jemals geschafft hätten.
Lass uns darüber sprechen, was jetzt ansteht. Die Abstimmung über das neue Sparpaket diese Woche – bei dem du dir sicher bist, dass die Linke Plattform es ablehnen wird – und ein Sonderparteitag mit dem Versuch, die Mehrheit zurückzugewinnen, auf dem aber auch mit Spaltungen und Ausschlüssen zu rechnen ist. Was dann? Eine Neuordnung der Linken mit Elementen von Antarsya?
Es wäre ein wenig verfrüht, über solche Aussichten zu diskutieren.
Sind die Beziehungen zwischen Linker Plattform und Antarsya denn besser geworden?
Was entscheidend war, ist die Tatsache, dass die meisten Teile von Antarsya wirklich mit enorm viel Energie den Kampf um das Referendum geführt haben und es an vielen Orten regionale gemeinsame Komitees der „Nein“-Kräfte gab, in der Hauptsache bestehend aus Syriza und den angesprochenen Teilen von Antarsya. Ich meine also, dass hier eine politische Möglichkeit liegt, die erkundet werden sollte.
Ich bin jedoch nicht allzu optimistisch, was Antarsya an sich angeht, da ich denke, dass es immer noch ein traditionell ultralinker Kitt ist, der diese Vereinigung zusammenhält. Wir können schon jetzt sagen, was sie zu dieser Niederlage sagen werden, nämlich, dass ihre Theorien bestätigt sind, dass dies ein Versagen des gesamten linken Reformismus ist und dass wir eine wahrhaft revolutionäre Partei bräuchten. Sie selbst wären selbstverständlich die Avantgarde, die den Kern einer solchen Partei bildet, und diesem Pfad werden sie folgen. Ich denke, dass es schon eine gewisse Neuzusammensetzung geben wird, aber wohl in überschaubarem Ausmaß.
Was ist mit potenzieller Aktivität der sozialen Bewegung heute, etwa einem Streik im Öffentlichen Dienst?
Das ist die noch unbekannte entscheidende Größe. Wie sieht das Gesamtbild jetzt aus? Wir haben ein neues Memorandum und wir haben eine Neuordnung der parlamentarischen Mehrheit, die hinter diesem Memorandum steht. Das wird symbolisch bei der kommenden Abstimmung bestätigt werden, wo der wir den Großteil der Syriza-Abgeordneten erneut mit den Pro-Austeritäts-Parteien werden stimmen sehen. Und es wird erneut eine Kluft zwischen der politischen Vertretung dieses Landes und seinen Menschen geben. Dies ist also der Widerspruch, der aufzulösen ist.
Hier haben die Nazis jetzt ganz klar freies Feld. Sie werden sicherlich versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Sie haben bereits gegen die griechischen Vorschläge gestimmt, sie werden mit Sicherheit gegen das neue Memorandum stimmen und sie werden es mit Sicherheit als erneuten Verrat darstellen. Die große Frage ist nun, wie stark die Mobilisierung gegen diesen Tsunami neuer Maßnahmen sein wird, der wieder die Arbeiter trifft – und selbstverständlich die absolute Dringlichkeit der Neuformierung einer kämpferischen Linken gegen Austerität. Das ist natürlich die größte Herausforderung.
Wir wissen, dass es einige Elemente für eine Neuformierung der Linken gibt und wir wissen, dass die Hauptverantwortung dafür im weitesten Sinne auf den Schultern der Syriza-Linken lastet. Im engeren Sinne liegt eine noch größere Verantwortung bei der Linken Plattform, da sie der strukturierteste, konsequenteste und politisch klarste Teil dieses Kräftespektrums ist. Das wird also die Prüfung der kommenden Monate.
Lass uns einen Schritt zurückgehen und uns den Prozess als Ganzes ansehen, ich will zurückkommen auf das erste Interview, das du Jacobin gegeben hast: Zunächst auf die weit gefasste strategische Frage über die gleichzeitige Arbeit der Linken Plattform innerhalb der Regierung und in den sozialen Bewegungen. Wie sieht deine Bilanz aus?
Lass uns mit dem Gesamtbild beginnen. Was ich in diesem Interview gesagt hatte, war, dass es nur zwei Möglichkeiten für die Situation in Griechenland gibt: Konfrontation oder Kapitulation. Heraus kam die Kapitulation, aber wir hatten auch Momente der Konfrontation, in denen die Regierung eher schlecht als recht geführt hat. Das war die Probe aufs Exempel. Die Strategie des „guten Euro“ und der „guten Europäer“ ist offensichtlich gescheitert, was vielen Menschen gerade dämmert. Im Prozess um das Referendum wurde das sehr klar, und die Probe wurde äußerst drastisch. Die Lektion daraus war hart, aber notwendig.
Die zweite These, die ich damals formuliert hatte, war die, dass politischer Erfolg nötig ist, auch auf Wahlebene, um neue Zyklen der Mobilisierung anzustoßen. Ich meine, auch das hat sich in zwei entscheidenden Momenten bewahrheitet.
Der Erste waren die drei Wochen nach den Wahlen, als die Stimmung sehr kämpferisch und konfrontativ war und man sich sehr viel zutraute. Er endete mit dem Abkommen vom 20. Februar. Von diesem Moment an fand ein Rückfall in eine Stimmung der Passivität statt, in Angst und Unsicherheit darüber, was im Gange war. Der zweite Moment war natürlich das Referendum. Hier konnten wir beobachten, was eine politische Initiative mit konfrontativem Moment für Kräfte freisetzen und wie sie als Katalysator für einen Radikalisierungsprozess der breiten Masse dienen kann. Diese Erkenntnis müssen wir mitnehmen.
Nun zum Urteil über soziale Bewegungen und die Linke Plattform im Besonderen. Nun, angesichts der schwachen Regierungsbilanz können wir festhalten, dass es keine speziellen Regierungsinitiativen gab, die einer öffentlichen Mobilisierung konkret die Tür geöffnet hätten. Solche Maßnahmen wurden nie unternommen.
Syriza hat fast nichts aus ihrem Wahlprogramm umgesetzt. Das beste, was die Minister der Linken Plattform erreichen konnten, war das Blockieren bestimmter Vorgänge, speziell die Privatisierung des Energiesektors, die zuvor angestoßen worden war. Sie haben ein wenig Zeit gewonnen, das war jedoch alles. Was wir in dieser Zeit auch deutlich beobachten konnten, war, dass die Regierung, die Führung sich völlig von der Partei abgesondert hat. Dieser Prozess hatte bereits begonnen – darüber haben wir in unserer letzten Unterhaltung gesprochen – nun aber ist er sozusagen auf einem Höhepunkt.
Verstärkt wurde dies dadurch, dass der gesamte Verhandlungsprozess an sich bei den Menschen Passivität und Ängstlichkeit ausgelöst und die kämpferischsten Teile der Gesellschaft an den Rand der Erschöpfung getrieben hat. Vor dem Referendum war die Stimmung ganz klar derart, dass wir dieser Art Waterboarding-Prozess sicherlich nicht mehr lange würden standhalten können. Irgendwo muss ein Ende sein.
Das habe ich persönlich auch nicht kommen sehen. Ich dacht, alles würde schneller gehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das manövrieren in der Sackgasse sich so hinziehen und unseren Spielraum für eigenen Initiativen so beschränken würde.
Nun ist selbstverständlich der Moment der unausweichlichen Selbstkritik gekommen, der gerade anläuft. Die Linke Plattform hätte in dieser Zeit in Sachen alternativer Vorschläge mehr tun können. Der Fehler ist unübersehbar, da ein entsprechendes Papier existierte und man nur intern gezögert hat, was den richtigen Zeitpunkt für die Veröffentlichung anging.
Wir waren ruhiggestellt und überrumpelt von dieser Endlosschleife aus Verhandlungen, dramatischen Momenten und so weiter und erst als es bereits zu spät war, in der besagten Fraktionssitzung, wurde eine gekürzte Version der Vorschläge endlich öffentlich gemacht und zog seine Kreise. Das ist etwas, das wir viel früher hätten tun sollen.
Was ist deine Einschätzung der Angriffe auf die Aussagen von Costas Lapavitsas, dass Griechenland nicht bereit für den Grexit sei und es dadurch praktisch keinen Ausweg gäbe? Ein Problem dieser Formulierung – auch wenn sie rein faktisch sicherlich richtig ist, da es keine Vorbereitungen auf einen Grexit gab – ist, dass sie ihre Aussage selbst bestätigt, da diejenigen, die den Grexit wollen, niemals in die Lage kämen, ihn vorzubereiten.
Ich meine, Costas’ Aussage wurde falsch interpretiert. Zunächst einmal ist Costas einer der Fünf, die das Papier der Linken Plattform direkt unterschrieben haben, aus dem klar hervorgeht, dass selbst jetzt noch Alternativen möglich sind.
Was Costas mit seiner Erklärung hinter verschlossenen Türen in der Parlamentariergruppe betonen wollte, war Folgendes: Ein Grexit müsse vorbereitet werden, und es gab eine politische Entscheidung dafür, nichts vorzubereiten, und dadurch im entscheidenden Moment jedwede Möglichkeit einer Alternative auszuschließen.
Also alle Brücken hinter sich abzubrechen.
Ganz genau. Es war genau diese Strategie, die systematisch von der Regierung verfolgt wurde. Besonders fixiert darauf war meiner Ansicht nach Giannis Dragasakis – er machte jeden Schritt in Richtung einer öffentlichen Kontrolle der Banken unmöglich. Er ist im Prinzip die Vertrauensperson der Banker und der großen Banken in Griechenland und hat absolut dafür gesorgt, dass das Herz des Systems, also die Bindung privater Interessen an den Staat, unverändert geblieben ist, seit Syriza an die Macht kam.
Du kannst also bestätigen, dass anfänglich Vorbereitungen für den Grexit auf dem Tisch lagen und verworfen wurden?
Nur sehr vage. In vertraulichen Kabinettsversammlungen, dem sogenannten Regierungsrat, an dem nur zehn Minister teilnehmen, hatte Varoufakis im Frühjahr die Notwendigkeit betont, den Grexit als Möglichkeit anzusehen und ihn entsprechend vorzubereiten. Ich glaube es gab einige Überlegungen zu einer Parallelwährung, aber alles blieb vage und schlecht vorbereitet. Wie ich schon gesagt habe, stellt Varoufakis es so dar, dass er im Vorfeld des Referendums an einem Alternativplan gearbeitet hätte. Das ist allerdings auch ein Eingeständnis der Verspätung, mit der all das angestoßen wurde.
Was – abgesehen vom Problem der Geschwindigkeit und der Entmutigung – kannst du heute besser einordnen als zu Beginn des Prozesses, was hast du damals nur teilweise oder nicht verstehen können?
Ich habe das Band in meinem Kopf über die letzten Jahre unzählige Male zurückgespult, um die entscheidenden Verzweigungen nachzuvollziehen. Ich würde sagen, dass für mich persönlich der entscheidende Moment in Griechenland die Zeitspanne nach den Massenmobilisierungen im Herbst 2011 und vor der Wahlperiode des Frühjahrs 2012 war. Wie du vielleicht weißt, war ich damals in engem Kontakt mit Costas Lapavitsas und anderen Genossen, darunter die damalige Führungsebene der Linken Plattform, um über Initiativen zur Schaffung eines gemeinsamen Projekts der gesamten europa-skeptischen Linken zu beraten.
Die Diskussionen waren tatsächlich weit fortgeschritten, es gab sogar denn Entwurf eines Papiers von Panagiotis Lafazanis und anderen Unterzeichnern aus dieser Diskussionsrunde. Die Idee war, eine gemeinsame Plattform für Diskussion und Aktion ins Leben zu rufen, bestehend aus der Linken Plattform von Syriza, gewissen Teilen von Antarsya und einigen Kampagnen und sozialen Bewegungen.
Diese Initiative wurde nie verwirklicht, da sie in der finalen Phase kategorisch von der größten Gruppe in Antarsya, der NAR („Neue Linke Strömung“), abgelehnt wurde, was von ihrer Unfähigkeit zeugte, die Dynamik der Situation und die Notwendigkeit einer Neuaufstellung der Kräfte und der Art ihrer Intervention in der Linken zu verstehen. Als diese Chance verstrichen war, wurde schließlich die einzig verbleibende Möglichkeit umgesetzt. Die bestehenden Kräften der radikalen Linken kamen auf den Prüfstand und irgendwie schaffte es nur Syriza, die Energie aufzufangen und dem Bedürfnis nach einer Alternative politischen Ausdruck zu verleihen.
Rückblickend könnte man sagen, dass manche Teile der griechischen Linken, die weniger in Parteipolitik involviert waren, eine Initiative ähnlich Podemos hätten ergreifen können. Etwas realistischer vielleicht eine Initiative ähnlich wie der katalonischen CUP, mit Teilen der radikalsten Linken, aber bewegungsorientierter.
Wie gesagt gab es jedoch keine derartigen Gruppen, die dazu bereit gewesen wären. Alle waren zu sehr in existierende Parteienstrukturen eingebunden und der einzige Versuch, die Karten neu zu mischen schlug fehl, in diesem Falle aufgrund des Übergewichts der traditionell Ultra-Linken.
Gibt es noch etwas, das du sagen möchtest?
Ja, ich würde noch gerne einen generellen Denkanstoß dazu geben, was es heißt, in einem politischen Kampf bestätigt zu werden beziehungsweise zu scheitern. Ich denke es ist wichtig, dass man sich als Marxist eine historische Herangehensweise an diese Begriffe aneignet. Einerseits kann man behaupten, man wäre bestätigt worden, da sich das, was man gesagt hat, als wahr herausgestellt hat.
Das ist die typische „Ich habe es von Anfang an gesagt“-Strategie. Wenn sich allerdings aus dieser Position keine Antriebskraft ableiten lässt, ist man politisch gescheitert. Denn wenn man machtlos ist und sich als unfähig erwiesen hat, seine Position in eine Handlungsweise für die Massen zu übersetzen, wurde die Position offensichtlich nicht bestätigt. Dies zum einen.
Das andere ist, dass nicht jeder gleichermaßen und gleich schwer gescheitert ist. Das möchte ich betonen. Ich glaube, es war absolut entscheidend, den Kampf innerhalb von Syriza zu wagen.
Eines muss ganz klar gesagt werden: Was war die andere Option? Sowohl KKE als auch Antarsya haben, wenn auch auf äußerst verschiedene Art und Weise, in dieser entscheidenden Situation bewiesen, wie irrelevant sie sind. Für uns hätte die einzige Alternative darin bestanden, früher mit der Führung von Syriza zu brechen. Wenn man die Dynamik der Situation im entscheidenden Moment zwischen Ende 2011 und Anfang 2012 in Betracht zieht, hätte uns eine solche Entscheidung marginalisiert. Das einzige konkrete Resultat hiervon wäre gewesen, dass zu den bereits bestehenden zehn oder zwölf Gruppen der Antarsya eine hinzugekommen wäre, und Antarsya statt 0,7 Prozent möglicherweise 1 Prozent erzielt hätte. Mehr kann ich mir nicht vorstellen.
Das wiederum hätte bedeutet, die Syriza komplett Tsipras und der Mehrheit zu überlassen, oder zumindest den Kräften außerhalb der Linken Plattform.
In der griechischen Gesellschaft ist nun klar, dass die einzig sichtbare Opposition zur Regierungspolitik auf linker Seite die KKE ist. Das kann man nicht leugnen, politisch ist sie jedoch vollkommen unbedeutend. Zur Rolle der KKE im Referendum sind wir gar nicht gekommen, das war eine einzige Karikatur ihrer Bedeutungslosigkeit. Sie haben dazu aufgerufen, die Stimmzettel ungültig zu machen, und zwar mit eigenen Stimmzetteln und einem „Doppel-Nein“ (zur EU und zur Regierung). Das wurde nicht einmal von ihren eigenen Wählern befolgt. Nur rund 1Prozent der Abstimmenden, wahrscheinlich sogar weniger, haben diese ungültigen Stimmzettel benutzt.
Neben ihnen gibt es die Linke Plattform. Die Griechen wissen – und die Medien wiederholen es fortwährend – dass Lafazanis und die Linke Plattform Tsipras ein Dorn im Auge sind. Nun können wir auch Zoe Konstantopoulou dazurechnen. Das haben wir aus dieser Situation gewonnen. Wir haben eine Basis, von der aus wir einen neuen Anlauf nehmen können – mit einer Kraft, die immer an vorderster Front dieser politischen Auseinandersetzung gekämpft hat und diese beispiellose Erfahrung in sich trägt. Allen ist klar, dass im Fall einer Niederlage unsererseits tatsächlich nur eine Ruinenlandschaft für die Linke übrig bleibt.
Aus dieser Perspektive, einer Perspektive des Wiederaufbaus der antikapitalistischen Linken – ohne so tun zu wollen, als wären wir die einzige Kraft, die eine Rolle spielen wird – sehen wir ganz klar, was auf dem Spiel steht, und wie viel Verantwortung wir damit tragen, wie wir im Hier und Jetzt handeln.
Das Gespräch führte Sebastian Budgen. Der Text erschien zuerst auf englisch auf Jacobinmag.com: https://www.jacobinmag.com/2015/07/tsipras-varoufakis-kouvelakis-syriza-euro-debt/
Foto: SiV-Athens
Schlagwörter: Alexis Tsipras, Antarsya, Arbeitskampf, EU, Eurokrise, Europäische Zentralbank, EZB, Gewerkschaften, Griechenland, Klassenkampf, Linke, Opposition, Privatisierung, Referendum, Revolution, Syriza, Tsipras, Varoufakis, Yanis Varoufakis