Nach den Gewalttaten in München, Würzburg, Reutlingen und Ansbach hetzen Politikerinnen und Politiker wieder gegen Flüchtlinge und wollen die Sicherheitsbehörden weiter stärken. Doch mehr Verbote, Polizei, Überwachung oder schnellere Abschiebungen sind genau der falsche Weg, um Gewalt zu verhindern.
Es war eine Woche der blutigen Gewalt in Deutschland. Den Opfern und ihren Familien gehören unsere Trauer und Anteilnahme. Doch Politikerinnen und Politiker missbrauchen die Gewalttaten für ihre eigenen Ziele. Nach den schrecklichen Gewalttaten von München, Würzburg, Reutlingen und Ansbach überbieten sie sich mit immer neuen Vorschlägen, wie die angeblich »bedrohte Sicherheit« wiederhergestellt werden kann: Verbot von »Killerspielen«, Schärfere Waffengesetze, mehr Personal für die Polizei, eine Ausweitung der Videoüberwachung, mehr Befugnisse für die Geheimdienste, schnellere Abschiebungen von Geflüchteten, eine »Reservisten-Armee« zur Unterstützung der Polizei und der Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
Der falsche Weg gegen Gewalt
Man könnte meinen, manche Politikerinnen und Politiker haben nur darauf gewartet. Doch mehr Verbote, Polizei, Überwachung oder schnellere Abschiebungen sind genau der falsche Weg, um Gewalt zu verhindern. Drei der vier Gewalttaten ereigneten sich in Bayern. Das Bundesland hat die meisten Polizisten in Deutschland, ein flächendeckendes Netz von Videoüberachtung – alleine in München erfassen nach Recherchen der »Süddeutsche Zeitung« 9200 Kameras den öffentlichen Raum. Der bayrische Geheimdienst ist bundesweit der größte und der mit den meisten Befugnissen. Er darf auf Vorratsdaten zugreifen, sogenannte Online-Durchsuchungen vornehmen, Wohnungen überwachen lassen und vieles mehr – allesamt Kompetenzen, die in anderen Bundesländern nur Staatsanwälte und Polizeibehörden haben. Bayern ist auch das Land mit der repressivsten Asylpolitik. Dort wurden im vergangenen Jahr 4195 Ausländer abgeschoben – etwa jeder vierte Ausreisepflichtige. »Wir schieben jeden ab, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, wöchentlich gibt es Sammelabschiebungen«, sagte ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums gegenüber der Welt. Trotzdem wurden die Gewaltverbrechen nicht verhindert.
Hetze statt Ursachenforschung
Die politische Rechte und Teile der Eliten nutzen die Gewalttaten jetzt, um gegen Flüchtlinge und Muslime zu hetzen. Doch die Taten haben weder etwas mit Religion, noch mit Migration zu tun. Nicht bei den Geflüchteten liegt ein »erschreckendes Gewaltpotenzial«, sondern die unmenschlichen Asylpolitik der Bundesregierung ist das Problem. Die Berichterstattung in den Medien ist irreführend. Denn überwiegend sind Flüchtlinge Opfer von Gewalt und nicht Täter. Fast jede Nacht gibt es Anschläge auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte. Die Bedingungen und Auslöser die Menschen in die Aggression und in die Gewalt treiben sind komplex. Aber sie entfalten sich in einer kapitalistischen Gesellschaft, die Menschen zutiefst entfremdet, die von Rassismus durchdrungen ist und die sich im Rahmen des »Krieges gegen den Terror« immer weiter militarisiert.
Die Debatte über die Ursachen von Gewalt, Terror und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, wird weitergehen. Wir haben uns deswegen mit den wichtigsten Fragen genauer beschäftigt. Wir freuen uns, auf Reaktion, Anmerkungen und Kritik.
Brauchen wir eine weitere Verschärfung der Sicherheitsgesetze?
Das in Deutschland die sogenannten Sicherheitsgesetze bereits jetzt schon zu den schärfsten in der EU gehören, geht in der Debatte völlig unter. Schon nach dem 11. September 2001 nutzte der damalige sozialdemokratische Innenminister Otto Schily die Gunst der Stunde und peitschte zwei »Sicherheitspakete« durchs Parlament. Seitdem haben die Behörden ein riesiges Arsenal an Möglichkeiten: Vom großen Lauschangriff bis zur Rasterfahndung. Besonders betroffen sind Menschen ohne deutschen Pass. Der Terrorismusverdacht kann für eine Ausweisung ausreichen. Eine rechtliche Überprüfung muss nicht abgewartet werden. Das heißt: Die Unschuldsvermutung gilt für Zugewanderte nicht mehr.
Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass selbst die schärfsten Sicherheitsgesetze Terrorismus und Gewalt nicht verhindern. Auch die Erfahrungen in Frankreich machen dies deutlich. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Hollande hält das Land seit den Terroranschlägen vom November 2015 im Ausnahmezustand. Mit diesem Beschluss werden demokratische Grundrechte eingeschränkt, beispielsweise das Versammlungsrecht. Doch damit nicht genug: Die Behörden können nun Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss durchführen, die persönliche Bewegungsfreiheit durch Hausarreste einschränken, Internetseiten sperren und willkürlich Ausgangssperren für ganze Stadtviertel verhängen. Trotz diesen drakonischen Maßnahmen konnte der Attentäter von Nizza 84 Menschen ermorden. Nur zwölf Tage nach dem Attentat von Nizza stürmten Bewaffnete eine Kirche nahe Rouen und töten einen Pfarrer auf grausame Weise.
Sind Geflüchtete besonders gewalttätig?
Drei der vier Gewaltverbrechen in der letzten Woche wurden von Flüchtlingen begangen. Doch anstatt über die Gründe dafür und die miserable Situation vieler Geflüchteter in Deutschland zu sprechen, nutzen einzelne Politikerinnen und Politiker die Verzweiflungstaten für ihre Hetze und schüren Angst vor weiterer Gewalt. So erklärte Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) im Tagesspiegel: »Wir haben völlig verrohte Personen importiert«. Der CDU-Innenexperte im Bundestag, Armin Schuster, forderte gegenüber der »Stuttgarter Zeitung«: »Wir brauchen eine Abschiedskultur«. Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer spielt auf dieser Klaviatur und nennt die Sicherheitslage »ernst und bedrohlich«. Es helfe nicht, an der Realität vorbei zu diskutieren, sagte er dem »Münchner Merkur«. »Bei uns leben viele Flüchtlinge, die ein schweres Schicksal haben und denen wir helfen sollten. Aber unter ihnen gibt es leider Menschen mit einem erschreckenden Gewaltpotenzial.«
Doch Seehofer vertauscht hier Ursache und Wirkung. Das Gewaltpotential liegt nicht bei den Geflüchteten, sondern in der unmenschlichen Asylpolitik der Bundesregierung. Nach Angaben des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) hatte der Täter von Ansbach, Mohammad Daleel, ein 27 Jähriger Syrer, kurz vor seiner Tat eine Abschiebeanordnung erhalten. Im Zuge seines Asylverfahrens hatte Daleel erklärt, er fürchte sich vor Tod und Demütigung in seiner Heimat. So steht es in der Akte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), aus der die »Bild«-Zeitung umfangreich zitiert. Demnach sagte Mohammad Daleel den deutschen Beamten: »Ich will keine Waffen gegen Menschen tragen. Ich habe Angst vor einer Rückkehr nach Syrien, weil ich zu einem Mörder werden könnte.« Seine Frau und Kinder seien gestorben, als das Haus der Familie bombardiert worden sei. Dabei habe er schwere Verletzungen erlitten. Tatsächlich fanden Gerichtsmediziner in den Beinen und Füßen von Mohammad Daleel Granatsplitter, die von einer älteren Verletzung stammten. Kurz vor seinem Attentat hat er sich bei einem Fast Food Restaurant beworben – und wurde abgelehnt. Der junge Mann litt unter Depressionen. Er war wegen zwei Selbstmordversuchen öfter in psychiatrischer Behandlung. Trotzdem wollte die zuständige Behörde den 27-jährigen nach Bulgarien abschieben. Gegen die Abschiebung versucht er sich zu wehren – vergeblich. In zwei Wochen hätte er das Land verlassen müssen.
Das Mohammad Daleel womöglich aus dieser persönlichen Frustration oder seiner anhaltenden Traumatisierung heraus gehandelt haben könnte, scheint für CSU-Chef Seehofer undenkbar. Wenn Geflüchtete gewalttätig werden hat dies nichts mit Religion, aber viel mit den miserablen sozialen Verhältnisse zu tun: Nach wie vor müssen viele in den Unterkünften in der ständigen Angst leben, wieder in ein Leben voller Armut, Krieg und Unterdrückung abgeschoben zu werden. Die Zahl der Abschiebungen ist im letzten Jahr rasant gestiegen, 2015 gab es doppelt so viele wie 2014. Aber nicht nur die Abschiebepolitik setzt Geflüchtete unter Druck.
Die von der Bundesregierung beschlossenen Asylrechtsverschärfungen stigmatisieren Schutzsuchende. Viele Flüchtlinge müssen künftig länger in den oft katastrophal überfüllten Erstaufnahmelagern verbleiben, manche gar unbefristet. Die so genannte Residenzpflicht wurde wieder verschärft. Leistungskürzungen für Asylsuchende wurden beschlossen. Die Abschiebung kranker Menschen wurde erleichtert, das Recht auf Familiennachzug beschnitten und vieles mehr. Pro Asyl schreibt: »Die Gesetzesänderungen haben Folgen für alle Lebensbereiche von Flüchtlingen: Für die Asylverfahren, die Unterbringungspraxis, die Integrationschancen, die soziale und medizinische Versorgung von Flüchtlingen, die Verhängung von Abschiebungshaft, die Durchführung von Abschiebungen – und nicht zuletzt auch für das gesellschaftliche Klima.«
Diese von der deutschen Regierung herbeigeführten Umstände sind die Grundlage für Wut, Frustration und Aggressionen. Gleichzeitig ist die Berichterstattung in den Medien irreführend. Denn überwiegend sind Flüchtlinge Opfer von Gewalt und nicht Täter. Fast jede Nacht gibt es Anschläge auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte – die rassistischen Angriffe sind im Vergleich zu den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Statt den geflüchteten Menschen demokratische Mitsprache einzuräumen, werden ihre Massenunterkünfte immer öfter von privaten Sicherheitsfirmen überwacht, die mit der Situation häufig überfordert sind – erinnert sei hier an den Skandal im letzten Jahr bei dem der Wachschutz eines privaten Sicherheitsdienstes in mehreren Asylunterkünften in Nordrhein-Westfalen Flüchtlinge drangsaliert und gedemütigt hat. Die Bundesregierung muss diese unmenschlichen Zustände beenden, damit Aggressionen und Gewalt nicht weiter verstärkt werden.
Ist mehr Polizei die Lösung?
Nach dem Amoklauf in München waren dort 2300 Sicherheitskräfte aus ganz Deutschland im Einsatz. Die Operation stieß auf viel Lob. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Leistung der Sicherheitskräfte »großartig«. Doch wer Gewalt verhindern möchte, sollte nicht nach mehr Polizei rufen. Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaft an der Akademie der Polizei in Hamburg, sagte gegenüber dem Freitag: »Horst Seehofer hat eine signifikante Aufstockung in Bayern angekündigt. Und der Seeheimer Kreis in der SPD fordert 20.000 neue Polizisten. Kein Mensch fordert aber 20.000 Sozialarbeiter, Psychologen oder Integrationsspezialisten. Wenn wir die einstellen würden, hätten wir wohl bessere Erfolge.«
Die Polizei ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Tagtäglich gibt es Gewalt die von Polizistinnen und Polizisten ausgeht. Die TAZ schreibt: »Über 2.100 Polizisten wurden 2014 wegen Gewalttätigkeit angezeigt. Nur 33 wurden angeklagt. Ihre Opfer hingegen landen oft vor Gericht.«
Besonders betroffen von Polizeigewalt sind Geflüchtete und Ausländer in Deutschland. Das reicht von selektiven Kontrollen, körperlichen, psychischen und sexuellen Misshandlungen bis hin zu Mord. Die Wahrnehmung rassistischer Polizeigewalt in der Öffentlichkeit ist in Deutschland sehr gering. Nur wenige Fälle werden von den Medien und der Politik aufgegriffen und gelangen an eine breite Öffentlichkeit. So beispielsweise der Fall von Oury Jalloh in Dessau im Jahr 2005, der in Polizeigewahrsam in einer Zelle verbrannte oder der Brechmitteleinsatz der Polizei in Bremen im Jahr 2004, durch den Laye Condé starb. Doch das sind keine Einzelfälle: »Hab den weggeschlagen. ‚Nen Afghanen. Mit Einreiseverbot. Hab dem meine Finger in die Nase gesteckt. Und gewürgt. War witzig.« So prahlte ein Hannoveraner Bundespolizist 2014 über seinen Umgang mit einem Verhafteten, den er dann noch »an den Fußfesseln« durch die Wache geschleift haben will. In einem anderen Fall verschickte der Beamte das Foto eines am Boden liegenden Mannes und gab damit an, den jungen Marokkaner dazu gezwungen zu haben, kriechend Reste von gammeligem Schweinefleisch vom Boden zu essen. Sein Opfer habe dabei »gequiekt wie ein Schwein«, freute sich der Beamte. Aufgedeckt hatte den Fall der NDR. Was folgte, war ein Aufschrei der Empörung. Politikerinnen und Politiker sowie die Polizeigewerkschaften verurteilen den »Folterskandal«.
Doch wie bei vielen anderen Fällen vorher, wurde auch bei diesem Beamten das Strafverfahren eingestellt (siehe Studie von Amnesty International mit dem Titel »Täter unbekannt – Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland«). Eine Anfrage der LINKEN in der Hamburger Bürgerschaft ergab, dass in den Jahren 2003 bis 2009 allein in dem kleinen Stadtstaat 2066 Ermittlungsverfahren gegen 3015 Polizisten wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet wurden. Das Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft erhob in gerade einmal 13 Fällen Anklage, was einer Quote von 0,43 Prozent entspricht. Im Zivilbereich liegt die Quote der Verurteilungen bei Straftaten Experten zufolge bei rund 50 Prozent. Auch in den anderen Bundesländern liegt die Anzahl der Verurteilungen von Polizisten deutlich unter der Quote von Zivilisten. Bei der Bundespolizei dagegen werden gar keine Statistiken über Körperverletzungen im Amt erstellt. Auf eine Anfrage der Linksfraktion im Frühjahr 2007 antwortete die Bundesregierung: »Gemessen daran, dass Körperverletzungen im Amt Ausnahmetatbestände in der bundespolizeilichen Aufgabenwahrnehmung bilden, ist ein derartiger Aufwand unverhältnismäßig und wird insofern durch die Bundesregierung nicht betrieben.«
All dies zeigt, die Aufgabe der Polizei ist nicht der Schutz der Bevölkerung. Im Gegenteil: Die Polizei ist Teil des Unterdrückungsapparats des Staates. Sie soll die Entscheidungen der Parlamente – vom Bau eines Bahnhofs wie bei »Stuttgart21« bis hin zur Abschiebung von Flüchtlingen – dort durchsetzen, wo es Widerstand dagegen gibt.
Kann ein Verbot von »Killerspielen« Amokläufe verhindern?
Nach dem Amoklauf in München, stellte Innenminister Thomas de Maizière einen Zusammenhang zwischen Amokläufen und bestimmten Computerspielen her. Er sagte, es sei »nicht zu bezweifeln, dass das unerträgliche Ausmaß von gewaltverherrlichenden Spielen im Internet auch eine schädliche Wirkung auf die Entwicklung gerade junger Menschen hat«. Auch nach dem Amoklauf in Winnenden, bei dem der 17-jährige Tim K. 15 Menschen und zuletzt sich selbst tötete, meinte der damalige innenpolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Hans-Peter Uhl (CSU) gegenüber der »Thüringer Allgemeinen«: »Wir brauchen das Herstellungs- und Verbreitungsverbot von Killerspielen. Und zwar nicht vom Alter abhängig, sondern generell.«
Für diese beliebte These – 60 Prozent der Bevölkerung stimmen ihr zu – gibt es allerdings keinen Beleg. Die Wirkung von »Ballerspielen« auf das Gewaltpotenzial wird schon länger wissenschaftlich untersucht: »Langfristig konnte noch keine Steigerung der Aggressivität nachgewiesen werden«, stellte der Kommunikationswissenschaftler Jörg Müller-Lietzkow nach dem Amoklauf in Emsdetten klar. Die Aussichtslosigkeit, die der Amokläufer von Emsdetten, Bastian B., gefühlt habe, sei »nicht spiele-induziert«, erklärte der Medienpädagoge Professor Winfred Kaminski. Wer vor allem Spielverbote fordere, wolle sich seiner Verantwortung entziehen, meinte er damals.
Dennoch beklagen Politiker, dass Jugendliche viel Zeit mit Computerspielen verbringen – und streichen gleichzeitig Gelder für andere Freizeitmöglichkeiten wie Jugendzentren oder bei der Jugendarbeit. Da liegt der Verdacht nahe, dass Politikerinnen und Politiker mit Forderungen nach Verboten bestimmter Computerspiele vom eigentlichen Problem ablenken wollen.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte den Amoklauf von München und sprach den Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Doch wenn es ihr ernst wäre, wirklich etwas gegen Gewalt zu unternehmen, dann sollte sie zum Beispiel, die Gewalt verharmlosenden Werbeauftritte der Bundeswehr in Schulen kritisieren. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nutzt der Staat die Verunsicherung von jungen Menschen, um sie als Berufssoldaten zu rekrutieren. Eine solche »Karriere« kann schnell darin enden, in anderen Teilen der Welt Menschen zu töten oder selbst getötet zu werden. Die Bundeswehreinsätze in aller Welt sind die ganz realen »Killerspiele« der Bundesregierung.
Was sind die Auslöser von Amokläufen?
Fachleute beschreiben mehrere Auslöser von Amokläufen: eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte.
Seit dem Massaker an der Columbine High School (USA) im Jahr 1999 sind die so genannten »school shootings«, Amokläufe an Schulen, ins Blickfeld geraten. Einige Umstände im Leben der Täter treten gehäuft auf:
- Mobbing in der Schule
- unangemessener Leistungsdruck, sowie daraus resultierende Zukunftsängste
- mangelnde Kommunikation und Integration im Elternhaus beziehungsweise im sozialen Umfeld
- Vereinsamung, Entwurzelung oder Isolation
- »Versager«- oder Einzelgängerschicksale
- Konflikte mit nahestehenden Personen
- intensive Gewaltphantasien
- Kompensation von erfahrenen Kränkungen oder Minderwertigkeitsgefühlen durch extreme Handlungen
- die Nachahmung ähnlicher, vorangegangener Taten
- das Bedürfnis nach Erregen von Aufmerksamkeit
- fehlende Kontrolle über das eigene Leben soll durch Macht über andere kompensiert werden
Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Amokläufe zugenommen hat. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Entfesselung der Märkte und Jugendgewalt. Der von Neoliberalen beschleunigte Sozialabbau hat öffentliche soziale Netzwerke zerstört und den sozialen Zusammenhalt im Privaten untergraben. Gesellschaftliche Entwicklungen setzen sich zwar nicht eins zu eins in individuelles Verhalten um, aber es gibt einen Zusammenhang. Es bedarf keiner virtuellen »Ballerspiele«, um Brutalität in die Köpfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu pflanzen. Dafür sorgt der »real existierende« Kapitalismus mit seiner gewalttätig ausgetragenen internationalen Konkurrenz um Märkte, Rohstoffe und Macht.
Wo sich Politik und Unternehmen aus ihrer sozialen Verantwortung verabschieden, wo Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, bleiben Menschen auf der Strecke – nicht nur ökonomisch, sondern auch emotional. Das schafft Raum für Egoismus und Hass, der sich gegen andere entlädt. Entschuldigt oder relativiert sind die brutalen Morde, von Amokläufern damit nicht. Es geht jedoch darum, sich nicht mit einem Gesellschaftssystem abzufinden, das Menschen in die Perspektivlosigkeit und Isolation treibt.
Wer war der Amokläufer von München?
Amokläufe entstehen nicht aus einem vorübergehenden Wutanfall heraus. Wie andere vor ihm, hat auch der Amokschütze aus München, seine Tat geplant und längere Zeit vorbereitet. Die Familie von David S., dem Münchner Attentäter, floh in den 90er Jahren aus dem Iran, er selbst war hier geboren. Er wuchs im Münchner »Problem-Kiez« Hasenbergl auf – er nannte es »Hartz-IV«-Viertel – ein Stadtteil geprägt von Plattenbauten und Hochhäuser mit hohem Migranten-Anteil. Im reichen München ist es das Viertel mit den meisten überschuldeten Menschen – wer hier wohnt, hat es bei der Jobsuche schwer. Dort und später auch in seiner neuen Schule wird er immer wieder gehänselt und gemobbt, zweimal wird er bei der Polizei aktenkundig – allerdings als Opfer. In Videoaufnahmen die kurz nach dem Amoklauf entstanden sind bezeichnet sich David S. als »Deutscher« und rief »Scheiß-Türken«. Bekannte beschreiben ihn als »nationalistisch« und geben an, dass er mit der rechtsradikalen AfD sympathisierte. Er hatte nicht nur den Amoklauf an der Winnender Albertville-Realschule studiert, sondern auch den Massenmord des Faschisten Anders Behring Breivik. Dieser hatte am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya 77 Menschen getötet. Seinen eigenen Amoklauf beging David S. auf den Tag genau fünf Jahre später. Laut einem Zeugen hat sich David S. seine Opfer gezielt ausgesucht: »Er hat Menschen durchgewunken, weggeschickt. Er wusste, wen er verschont und wen nicht.« Alle neun Opfer haben einen Migrationshintergrund. Trotzdem sprechen die meisten Medien nicht von einer rassistischen Tat. Dass mehrere Jugendliche mit Migrationshintergrund zu den Todesopfern gehören, bewertet die Polizei als Zufall. Doch David S. ist nicht der erste Amokläufer mit einem reaktionären und rassistischen Weltbild. Welche Motive ihn genau dazu bewegt haben zum Mörder zu werden, wird sich vielleicht herausstellen, wenn sein Abschiedsbrief oder »Manifest«, welches die Polizei sichergestellt hat, veröffentlicht wird.
Der Amokläufer von Emsdetten Bastian B. hingegen hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorgeht, was ihn umtrieb: »Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, dass ich ein Verlierer bin. (…) Ich erkannte, dass die Welt, wie sie mir erschien, nicht existiert, dass sie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen »Freunde«. Hat man eines davon nicht ist man es nicht wert beachtet zu werden.«
Einen Sinn im Leben konnte er nicht finden: »Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um mit 65 in den Ruhestand zu gehen und fünf Jahre später abzukratzen?« Dieser Gesellschaft, so schrieb er, wolle er sich nicht anpassen. Weitere Teile des Briefes bestehen aus reaktionären Beschreibungen seiner Rachegefühle und der Diffamierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Jugendkulturen, die er für seine Lage verantwortlich macht. Sich selbst heroisierte er als militanten Einzelgänger, der es allen zeigen werde.
Kinder und Jugendliche müssen in einer auf Konkurrenz beruhenden Ellenbogen-Gesellschaft aufwachsen, die steigenden Druck auf den Einzelnen ausübt. Sicher stehen viele Jugendliche unter ähnlichem Druck, ohne gewalttätig zu werden. Doch jeder reagiert auf andere Weise. Der Weg von Isolierung, Hass auf die Welt, Gewaltphantasien bis zum Amoklauf ist eine extreme Form fremdgerichteter Aggression. Andere Effekte dieser Normierung von Jugendlichen sind Magersucht, Bulimie, Selbstverletzungen, der Missbrauch von Psychopharmaka, Beruhigungsmitteln oder Drogenkonsum. In jedem Jahr endet diese »Aggression nach innen« für rund 600 Jugendliche im Suizid. Suizid ist damit die zweithäufigste Todesursache bei Kinder und Jugendlichen. Lösungen lassen sich nur dann finden, wenn erstens die sozialen Verhältnisse nicht ausgeblendet werden und zweitens von den Bedürfnissen der Jugendlichen ausgegangen wird. Schärfere Gesetze, mehr Verbote oder das Verwandeln von Schulen in Festungen gehen genau an diesen vorbei.
Brauchen wir schärfere Waffengesetze?
Nach dem Amoklauf von München sagte Vizekanzler Sigmar Gabriel gegenüber der Funke Mediengruppe: »Die Waffenkontrolle ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen weiter alles tun, um den Zugang zu tödlichen Waffen zu begrenzen und streng zu kontrollieren«. Erstaunlich das gerade Gabriel, der als Wirtschaftsminister für die Waffenexporte der Bundesregierung verantwortlich ist, diesen Zusammenhang herstellt. Das Jahr 2015 war für die deutsche Rüstungsindustrie bereits ein Rekordjahr und im ersten Halbjahr 2016 sind die Ausfuhren trotz großer öffentlicher Kritik noch weiter gestiegen.
Doch obwohl die Forderung nach schärferen Waffengesetze aus Gabriels Mund geheuchelt klingt, wäre es mit Sicherheit kein Fehler den Besitz und Erwerb von Schusswaffen weiter einzuschränken. Denn je weniger von ihnen im Umlauf sind, desto weniger Menschen werden durch Schüsse verletzt und getötet, sei es durch Unfälle oder bewusste Taten. Die Korrelation ist einfach: Der Besitz vieler Feuerwaffen geht mit hohen Todesraten durch deren Gebrauch einher. In einer Studie aus dem Jahr 2013 haben Wissenschafter der Medizinischen Universität von New York auf der Basis von offiziellen Statistiken zu Waffenbesitz und Mortalitätsraten die Daten von 27 Staaten verglichen. »Die aktuellen Daten deuten darauf hin, dass die Zahl der Feuerwaffen pro Einwohner stark mit den Todesopfern durch deren Gebrauch zusammenhängt und ein unabhängiger Prognosefaktor dafür ist«, resümieren die Autoren. An der Spitze beim Waffenbesitz liegen die USA mit 88,8 Feuerwaffen pro hundert Einwohner. Und auch bei der Opferrate von 10,2 Toten pro 100.000 Einwohner und Jahr sind die USA international Spitze. Faktisch völlig ohne Feuerwaffen kommen die Japaner aus. Pro hundert Einwohner gibt es hier lediglich 0,6 Feuerwaffen. Gleichzeitig gibt es hier auch nur 0,06 Todesopfer pro 100.000 Einwohner und Jahr. Das ist die positive Spitzenposition. Das mehr Schusswaffen zu höheren Todesraten führen, betrifft nicht nur den privaten Besitz, sondern gilt ebenso für die Polizei und andere Sicherheitsorgane. Eine Auswertung von internationalen Berichten über Amokläufe für den Zeitraum 1993 bis 2001 ergab, dass ein erheblicher Prozentsatz der Täter aus »waffentragenden« Berufen stammte (26 Prozent Soldaten und 7 Prozent Polizisten) oder »Waffennarren« waren.
Zu glauben Anschläge und Amokläufe könnten allein durch schärfere Gesetze verhindert werden, wäre jedoch ebenso falsch. Denn um Menschen zu töten oder zu verletzen, sind Schusswaffen nicht zwingend nötig. Dies zeigt nicht erst die Gewalttat von Würzburg vergangene Woche, bei der ein 17-jähriger bewaffnet mit einem Beil und einem Messer Reisende in einem Regionalzug angriff. Im Jahr 2009 drang im belgischen Dendermonde ein 20-jähriger in eine Kinderkrippe ein, tötete zwei Babys, die Erzieherin und verletzte 10 weitere Kleinkinder und 2 Erwachsene. Auch hier war keine Schusswaffe nötig. Der Täter rüstete sich ebenfalls mit mehreren Messern und einem Beil aus. Auch der Amokläufer in Japan, der vergangenen Dienstag in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung 19 Personen tötete und Dutzende verletzte, benutze für seine Gewalttat lediglich ein Messer. Weder durch strengere Kontrollen noch durch ein Verbot der Aufbewahrung von Handfeuerwaffen in Privathaushalten wären diese Taten zu verhindern gewesen. Das macht die Forderung nach schärferen Waffengesetzen nicht falsch, ein Allheilmittel ist sie hingegen nicht.
Warum wächst die Terrorgefahr und wie kann der Terror bekämpft werden?
Politisch motivierte Anschläge sind kein neues Phänomen. Wenn man die Zahlen der Terroropfer in Europa vergleicht, dann waren die 1970iger und 1980iger Jahre deutlich schlimmer. Zwischen 1972 und 1988 starben in Westeuropa jedes Jahr mehr als 150 Menschen durch Terrorangriffe. Seit 1993 ist das nur noch zweimal passiert – nach den Anschlägen in Madrid 2004 und Paris 2015. Wie wahrscheinlich ist es selbst Opfer eines Terroranschlages zu werden? In Deutschland ist es wahrscheinlicher am Essen zu ersticken, als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen.
Anders ist es für die Menschen in jenen Ländern, die ihm Rahmen des »Krieges gegen den Terror« zu Angriffszielen des Westens wurden. Die USA und ihre Verbündeten haben seit dem 11. September Afghanistan und dem Irak zwei mehrheitlich von Muslimen bewohnte Länder militärisch besetzt. Darüber hinaus haben sie Spezialeinheiten in zahlreiche muslimische Länder geschickt, einen verdeckten Drohnenkrieg gegen die Bevölkerungen Pakistans, Jemens, Somalias und des Sudans geführt, dessen Opferzahlen der Geheimhaltung unterliegen, und hunderte von Muslimen und Muslimas ohne gerichtliche Verurteilung inhaftiert und gefoltert.
Laut einer Untersuchung der Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) belaufen sich die Opferzahlen von 2001 bis 2014 im Irak, Afghanistan und Pakistan, bei konservativer Auslegung der Quellenlage, auf eine Million Tote und nochmal so viele Verletzte. Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Infrastruktur wurden zerstört.
Millionen von Menschen haben ihre Lebensgrundlage verloren und wurden zur Flucht getrieben. Der »Krieg gegen den Terror« ist die Hauptursache für den Anstieg des Terrorismus. Bereits die Gründung von Al-Kaida war die Folge westlicher und russischer Einmischung in Afghanistan und der Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien im Zuge des Golfkrieges. In Afghanistan sind die Taliban heute stärker denn je seit ihrem Sturz 2001. Zudem konnte Al-Kaida in vielen weiteren Ländern Fuß fassen. Der sogenannte »Islamische Staat« ist überhaupt erst infolge der US-Invasion im Irak 2003 entstanden, nachdem die Besatzer dort ein religiös-ethnisch ausgerichtetes politisches System etablierten, in dem der sunnitische Bevölkerungsteil ausgegrenzt und unterdrückt wird. Seit 2001 hat es mehr Selbstmordattentate gegen westliche Einrichtungen in Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Ländern gegeben als in all den Jahren davor. Auch die der US-Regierung nahestehende Zeitschrift »Foreign Policy« hat erkannt: »Mehr als 95 Prozent aller Selbstmordattentate sind eine Reaktion auf fremde Besatzung.« Seit Beginn des »Kriegs gegen den Terror«, sind die Selbstmordanschläge weltweit dramatisch gestiegen – von etwa 300 in den Jahren 1980 bis 2003 auf 1800 von 2004 bis 2009. Die große Mehrheit der Selbstmordattentäter stammt aus Regionen, die durch ausländische Truppen bedroht sind. Der logische Schluss wäre, dass der Westen seine Kriege im Nahen und Mittleren Osten beendet. Doch das Gegenteil geschieht: Die Spirale der Gewalt von imperialistischen Interventionen in der muslimischen Welt und dschihadistischen Terrorismus dreht sich weiter. Auch die Bundesrepublik ist durch die Bundeswehreinsätze am Hindukusch und im Irak immer mehr zur Kriegspartei geworden. Deswegen hat Oskar Lafontaine recht, wenn er sagt: »Wir können den Terrorismus in der Welt nur bekämpfen, wenn wir damit beginnen, unseren eigenen Terrorismus endlich einzustellen.«
Der einzig erfolgversprechende »Kampf« gegen den Terrorismus ist die imperialistischen Kriege im Nahen Osten zu beenden. Krieg und Terror sind zwei Seiten derselben Medaille: Mehr Krieg führt zu mehr Terror, was wiederum zu mehr Krieg führt. Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden – aber bestimmt nicht durch Waffenexporte, militärische Ausbildungsmissionen oder die Unterstützung von Luftangriffen gegen Städte und Dörfer. Das heißt: Abzug der Bundeswehr aus dem Ausland und Stopp jeglicher Waffenexporte. Statt Hasskampagnen und Generalverdacht gegen den Islam muss die Regierung allen Jugendlichen gleiche und gute Chancen von Bildung und Ausbildung geben. Das würde dem IS wirklich schaden. Es würde seine Chancen verringern, Anhänger unter jungen Muslimen zu finden. Wir müssen aufstehen gegen Rassismus, der Flüchtlinge und Muslime unter Generalverdacht stellt. Es ist die Aufgabe der Partei DIE LINKE und aller Linker sich für eine solche Perspektive einzusetzen.
Foto: quapan
Schlagwörter: Amoklauf, Antiterrorgesetz, Flüchtlinge, Gewalt, Islam, Krieg gegen Terror, Linke, marx21, München, Polizei, Terror, Terrorismus