Nach dem Protest gegen den G20-Gipfel entpuppen sich viele Behauptungen der Polizei als falsch. Was ist in Hamburg wirklich passiert? Gibt es eine neue Welle der Gewalt gegen die Polizei? Wie viele Verletzte gab es? War die Polizei das Opfer einer nicht mehr beherrschbaren Situation? Der Faktenfinder mit Infografik zum »G20-Protest« gibt Antworten
(Für eine größere Darstellung der Infografik bitte einfach mit der linken Maustaste auf das Bild klicken)
Gibt es eine neue Welle der Gewalt gegen die Polizei?
Die Zahlen von verletzten Polizeibeamten bei Protesten in der Vergangenheit zeichnen ein anderes Bild. Auch beim Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 kam es nach Darstellung der Polizei zu »massiven Übergriffen« auf Polizeibeamte. Der Spiegel erklärte damals: »Es waren Szenen, die das Land seit langem nicht mehr gesehen hatte: Hunderte Vermummte hielten eine ganze Stadt in Atem, ließen ihrer blinden Wut freien Lauf, zertrümmerten, was ihnen in den Weg kam und attackierten mit äußerster Brutalität die Polizei.«
Waren die Krawalle in Hamburg also schlimmer als beim G8-Gipfel 2008 in Rostock? Beim G8-Gipfel in Rostock war die Polizei mit 17.000 Beamten im Einsatz. 433 Beamte wurden nach Polizeiangaben verletzt – 2,5 Prozent der eingesetzten Polizeikräfte. Zum Vergleich: Beim G20-Gipfel in Hamburg waren 21.000 Beamte im Einsatz. Zu Beginn sprach die Hamburger Polizei immer von 479 verletzten Beamten. Doch von den 479 als verletzt gemeldeten Beamten, meldeten sich dem bayerischen Innenministerium zufolge 245 Beamte in den beiden Wochen vor den Demonstrationen krank oder verletzt. Bleiben also laut Polizeiangaben 234 verletzte Beamte während der Proteste – 1,1 Prozent der eingesetzten Polizeikräfte. Doch auch diese Zahlen belegen noch keine neue »Welle der Gewalt« gegen Polizeibeamte. Denn unter den 234 während der Proteste als verletzt gemeldeten, sind auch 130 Einsatzkräfte durch das eigene Tränengas verletzt worden. Abzüglich dieser Kräfte wurden 0,5 Prozent der eingesetzten Polizeikräfte verletzt. Doch auch diese Zahl gibt noch keinen Aufschluss über eine neue Qualität der Gewalt von Demonstrierenden gegen die Polizei. Das Innenministerium Brandenburg schreibt: »Die Verletzungen ergaben sich durch die Dauer des Einsatzes (u.a. Kreislaufprobleme), nicht nur durch Gewalteinwirkung von außen im Zusammenhang mit den Krawallen«.
So konnten 95 Prozent der als verletzt gemeldeten Polizeibeamten nach Behandlung vor Ort weiter arbeiten – nur 17 Beamte sind für mehrere Tage dienstunfähig gemeldet. Offiziell gelten davon zwei Beamte als schwer verletzt. Die 16 Bundesländer meldeten auf Anfrage von Buzzfeed keine schwer verletzten Polizisten. Insgesamt sind deutlich weniger Polizeibeamte verletzt worden als bei ähnlichen Protesten in der Vergangenheit, wie beispielsweise beim G8-Gipfel in Heiligendamm oder beim 1. Mai 2009 in Berlin als 8,3 Prozent der eingesetzten Beamten als verletzt gemeldet wurden. Rafaehl Behr, Professor an der Akademie der Polizei in Hamburg kommt zu folgendem Schluss: »Die Verletzten-Zahl muss dringend relativiert und eingeordnet werden«.
Diese Zahlenbeispiele machen deutlich, dass sich die Debatte völlig von der Wirklichkeit entkoppelt hat. Bekannt ist auch, dass die offiziellen Zahlen von Verletzten bei der Polizei mit Vorsicht zu gebrauchen sind. Im Nachgang zu den G8-Protesten in Heiligendamm kam heraus, dass die Polizei die Angaben stark übertrieben hatte: Polizeisprecher gaben zu Beginn über 1000 verletzte Polizeibeamte an. Diese Zahlen wurden dann deutlich auf 433 nach unten korrigiert. Auch die Art der Verletzungen wurden übertrieben. Die Rede war von »offenen Brüchen« und Schnittwunden und 50 angeblich schwerverletzten Polizeibeamten. Doch die Zahl der schwer verletzten Polizisten bei den G8-Protesten in Rostock hätte nach statistisch üblichen Kriterien deutlich niedriger angegeben werden müssen. Die TAZ schreibt: »Von den insgesamt 50 als schwer verletzt gemeldeten mussten nur zwei Polizeibeamte stationär im Krankenhaus behandelt werden. Nach den gesetzlich festgelegten Kriterien für die Registrierung von Unfallopfern gilt aber nur als schwer verletzt, wer stationär behandelt wird.«
Wie viele verletzte Demonstrierende gab es?
Dazu gibt es nach wie vor keine offiziellen Zahlen. Aber nach der Statistik der Hamburger Feuerwehr wurden vom 6.7. bis 9.7. insgesamt 305 Rettungsdienst-Einsätze gefahren. 116 Patienten konnten vor Ort behandelt werden. 189 Patienten wurden nach Angaben der Feuerwehr mit »demonstrationstypischen Verletzungen« in den umliegenden Hamburger Krankenhäusern behandelt. Sie kamen mit Knochenbrüchen an Armen und Rippen, Kopfplatzwunden, Schnittwunden oder Prellungen in die Notaufnahme. 19 Menschen waren so schwer verletzt, dass sie die Notaufnahme nicht verlassen konnten.
Gab es keine Polizeigewalt gegen Demonstrierende?
Hamburgs Bürgermeister, Olaf Scholz, hat vehement bestritten, dass die Polizei unverhältnismäßig gegen G20-Demonstranten vorgegangen sei, obwohl bereits jetzt 35 Verfahren gegen Beamte laufen. Trotz der anhaltenden Kritik an dem Polizeieinsatz hat er die Arbeit der Polizei während des G20-Gipfels verteidigt. Auf die Fragen, ob die Polizei zu hart vorgegangen sei und ob es Anzeichen für Polizeigewalt gebe, sagte er dem NDR: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.«
Die Bilder sprechen eine andere Sprache. Auch bei Demonstrationen mit friedlichen Teilnehmenden hatte die Polizei massiv Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. Scholz‘ Aussage steht zudem im Kontrast zu 35 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete, die derzeit in Hamburg laufen. In 27 Fällen gehe es um Körperverletzung im Amt, sagte ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde. Sieben der 35 Verfahren sind laut der Welt gar von Amts wegen eingeleitet worden, darunter in 4 Fällen wegen Körperverletzung im Amt. Das ist nur die Spitze des Eisberges: Es sind hunderte Fälle mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt und Übergriffe auf Demonstrierende und Pressevertreter aufgezeichnet. Eine Dokumentationsplattform sammelt nun die Vorkommnisse und bietet die Möglichkeit, Hinweise zu Quellen wie Videos und Fotos zu schicken: Auf der Webseite werden dann die Bild- und Tonaufnahmen dokumentiert und zusammengestellt. Bis jetzt (Stand 14.7.) sind mehr als 300 Einreichungen bekannt, die noch geprüft werden müssen, 60 Fälle von Polizeigewalt sind mit Videoaufnahmen oder Bildern dokumentiert.
Gab es »Agent Provocateur« in Hamburg?
Eines ist mehr als verwunderlich: Während die friedlichen Blockaden am Freitag mit massiver Polizeipräsenz eingeschüchtert wurden, konnte trotz riesigem Polizeiaufgebot in Hamburg, eine Gruppe von 60 vermummten Personen am Freitag Vormittag in Altona und Barmbek dutzende Autos anzünden. Aufnahmen von Anwohnerinnen und Anwohner zeigen, wie eine Gruppe unbehelligt die Straße hinunterzieht und mit wahlloser Zerstörungswut agieren könnte. Unklar ist hingegen, wer diese vermummten Personen sind. Allerdings ist es eine alte Taktik der Polizei »Agent Provocateur« einzusetzen. So geschehen bei den Gipfelprotesten in Genua 2001, aber auch bei den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm oder den Protesten gegen Stuttgart21.
Der Polizeieinsatz in Hamburg weist viele Ähnlichkeiten mit den Polizeitaktiken bei anderen G20-Gipfel auf: Aggressives Auftreten zu Beginn auch gegen friedliche Protestierende, die Gewalttaten von Einzelnen und des »Schwarzen Blocks« werden weitgehend zulassen, danach gibt es gezielte Verhaftung während der friedlichen Proteste, sowie eine massive Verhaftungswelle im Nachgang. Bei den letzten drei größeren G20-Proteste in London und Pittsburgh (2009) sowie in Toronto (2010) ist im Nachhinein herausgekommen, dass die Polizei bei allen Protesten im »Schwarzen Block« taktische Provokateure eingesetzt hat. In Kanada war es sogar die größte verdeckte Operation in der Geschichte des Landes. In Hamburg gibt es bisher nur Vermutungen. So war der Polizist der einen Warnschuss abgegeben hat, in zivil unterwegs. Der Einsatz von »Agent Provokateur« ist aber gerade bei der Hamburger Polizei gang und gäbe. In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt äußerte ein Polizist im Jahr 2012: »Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann.«
Wurde die Polizei von Häuserdächern aus mit Betonplatten und Molotowcocktails attackiert?
Vielen wunderten sich bei den Krawallen Freitagabend im Schanzenviertel, warum die Polizei nicht früher eingeschritten ist. Während die Tage zuvor eine aggressive Polizeitaktik auch gegen friedliche Demonstrationsteilnehmer vorherrschte, agierte die Polizei stundenlang absolut zurückhaltend. Polizeisprecher hatten dazu erklärt, die Einsatzkräfte hätten abgewartet, weil sie fürchteten, die »vermummten Gewalttäter« könnten »Steinplatten« von den Dächern werfen und das »Leben der Einsatzkräfte« gefährden. Behauptet wurde auch, dass die Polizei mit mehreren Molotowcocktails attackiert worden sei. Tatsächlich ist dokumentiert, wie ein Randalierer einen Gegenstand anzündet und ihn vom Dach wirft, dieser aber nicht explodiert. Doch ein Sachverständiger bezweifelt, dass es sich dabei um einen Molotowcocktail handelt. Die Hamburger Morgenpost zitierte die Einschätzung von Georg Dittié, Fachingenieur für Wärmebildtechnik. Dittié sagte, das von der Polizei vorgeführte und vielfach verbreitete Video des Wurfs eines brennenden Gegenstands auf einen Wasserwerfer zeige einen Böller. Darauf deuten sowohl die Infrarot-Emission auf dem Bild als auch das mehrfache Aufflackern des Feuers sowie die ausbleibende Explosion beim Aufprall auf dem Boden hin.
Ebenso ist die Schilderung, die Polizei hätte sich gegen die Randalierer auf dem Dach nicht durchsetzen können fraglich. Alle 13 Personen die im Verlaufe der Erstürmung des Daches, durch schwer bewaffnete Spezialkräfte in Gewahrsam genommen wurden, sind wieder frei. Gerichtssprecher Kai Wantzen erklärte, dass gegen die Menschen keine belastbaren Anhaltspunkte für die Beteiligung an Gewalttaten gibt, obwohl ein Polizeihubschrauber ununterbrochen die Szene filmte. Ein interessantes Detail: Der Besitzer des Hauses hatte die Polizei vorab informiert, dass das Baugerüst beim Gipfel für Probleme sorgen könnte und Hamburgs Polizeisprecher Timo Zill bestätigte sogar, dass die Polizei einen Schlüssel für das Haus schon im Vorfeld gehabt habe, genau so wie von anderen Häusern in der Schanze.
Der Protestforscher Dr. Dr. Peter Ullrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin, fasst es gegenüber n-tv wie folgt zusammen: »Die Polizeiführung hat offensichtlich auf der gesamten Linie versagt. Sie hat fast nichts getan, um die Eskalationsdynamiken zu unterbrechen, ja, sie hat sie massiv befeuert. (…) Die Polizei hat in Hamburg recht autoritär versucht, sich zur Herrin des Versammlungsgeschehens zu machen und massiv in Grundrechte eingegriffen. Sie hat sich angemaßt, zu bestimmen, welche Art von Protest wo und wie stattfinden soll. Immer wieder wurden Panikreaktionen provoziert. Unsere Demonstrationsbeobachtungen und viele Fotos und Videos, die mittlerweile im Internet kursieren, zeugen auch von nicht hinnehmbaren einzelnen Polizeiübergriffen. Und auch die Tatsache, dass die Polizei über Stunden den Ausschreitungen im Schanzenviertel nichts entgegenzusetzen hatte, wirft viele Fragen auf.«
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