Millionen Menschen sind auf der Flucht. Bedingungslose Solidarität mit diesen Menschen in Not ist ein zentraler Grundsatz linker Politik. Aber sollten wir von Klassenkampf sprechen, wenn Menschen dieser Not entfliehen? Unsere drei Autoren geben unterschiedliche Antworten
»Menschen auf der Flucht handeln nicht als Teil einer Klasse«
Debattenbeitrag von Ralf Krämer (Gewerkschaftssekretär und Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE) zur Frage: Ist Flucht Klassenkampf?
Zunächst mal ist wichtig, dass es sich hier um eine Frage der theoretischen Analyse handelt, nicht darum, ob oder wie solidarisch wir mit geflüchteten Menschen sind. Aus marxistischer Sicht stellen die Begriffe soziale Klasse und Klassenkampf eine Beziehung her zwischen der Stellung unterschiedlicher Gruppen von Menschen in den sozialökonomischen Produktionsverhältnissen, ihren daraus resultierenden Interessen und ihrem kollektiven Handeln in der Auseinandersetzung mit anderen, gegnerischen Klassen.
Klassentheorie
In allen durch kapitalistische Produktionsweise geprägten Gesellschaften besteht eine lohnabhängige bzw. arbeitende Klasse »an sich« bzw. gegenüber dem Kapital, sozusagen als sozialstatistische Kategorie. Es sind die Menschen egal, welchen Geschlechts, Alters oder Herkunft (und ihre Familienangehörigen), die durch Verkauf ihrer Arbeitskraft gegen Lohn bzw. Arbeitsentgelt ihren Lebensunterhalt bestreiten, vom Verkäufer im Supermarkt bis zur Technikerin bei Daimler. Ihnen gegenüber steht die Klasse, deren Reichtum auf dem Einsatz von Kapital und letztlich der Ausbeutung fremder Arbeit beruht, vom Unternehmer mit vielleicht 20 Beschäftigten bis zu den Eigentümern großer Konzerne bzw. Aktienpakete als der herrschenden Klasse oder Oligarchie im engeren Sinne. Teile der Bevölkerung gehören auch zu anderen Klassen oder Schichten.
Klassenformierung und Klassenmacht
Die gleichartige soziale Stellung der Lohnabhängigen bietet die Grundlage, Spaltungen zu überwinden, gemeinsame Interessen zu artikulieren und Kämpfe für ihre Durchsetzung zu führen: für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, soziale Absicherung, weitergehend auch um Gleichheit, Anerkennung und Teilhabe, Demokratie, Frieden. Klassenformierung und Klassenmacht erfordern Kommunikation, Organisierung und kollektives Handeln. Die unmittelbaren Klassenorganisationen sind die Gewerkschaften. Zunächst »bilden die Arbeiter eine über das ganze Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse (…) Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. (…) immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. (…) Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren.« (Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 470f.)
Solidarität und internationale Zusammenarbeit
Klassenbildung vollzieht sich in dem gesellschaftlichen und staatlichen Raum, in dem reale Gemeinsamkeiten der ökonomischen, sozialen, politischen und rechtlichen Lebensbedingungen und Verhältnisse sowie der Sprache, Medien und Kultur die Grundlage und den Rahmen dafür bieten, und in dem auch gemeinsame Gegner und Adressaten für Forderungen bestehen. Das ist zunächst die Ebene der Nationen bzw. Staaten. Die Formierung der Klassen, ihrer neuen Generationen, auch in neuen Betrieben und Branchen und unter sich ständig verändernden sozialen und politischen Verhältnissen ist ein nie abgeschlossener Prozess. Ebenso die Diskussion und der Kampf um die politische Ausrichtung der Klasse und ihrer Organisationen in Richtung Solidarität und internationale Zusammenarbeit.
Flucht als Klassenkampf?
Menschen auf der Flucht handeln nicht als Teil einer Klasse und kämpfen nicht gegen eine andere, auch wenn ihre Not Folge des globalisierten Kapitalismus oder imperialistischer Interventionen ist, sondern suchen individuell oder als Familie ein besseres Leben. Sie haben ihre Herkunftsgesellschaften und Klassen verlassen und müssen in denen ihrer Zielländer erst ankommen und ihren Platz finden. Solidarität mit Geflüchteten und die Integration eingewanderter Bevölkerung in die arbeitende Klasse, ihre Organisationen und Kämpfe ist die klassenpolitische Herausforderung. Sie wird nicht dadurch leichter, dass man Flucht als Klassenkampf deklariert.
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