Der Zentralrat der Juden in Deutschland ruft für den 14. September zu einer pro-israelischen Kundgebung in Berlin auf – unter der Parole »Steh auf! Nie wieder Judenhass!«
Hauptrednerin wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sein, die den Gaza-Krieg Israels uneingeschränkt vom ersten Tag an unterstützt hat.
In den deutschen Medien war in den letzten Wochen von einer »Welle des Antisemitismus« die Rede. Angela Merkel sieht gar den »Versuch, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zu erschüttern.« Sie will deshalb am 14. September auf einer zentralen Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin auftreten. Der Sprecher des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, meint, dass Juden in Deutschland gegenwärtig »die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära« erlebten.
Der deutsch-israelische Publizist Abraham Melzer hat dagegen in einem offenen Brief an den Jüdischen Zentralrat geschrieben, er sehe »nirgends eine Welle des Antisemitismus.« Er wünsche sich aber eine kritischere Haltung des Zentralrats der Juden zum Gaza-Krieg Israels.
Was sind die Fakten?
Es gab auf zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen nicht nur Kritik, sondern auch bitteren Hass gegen den Staat Israel, vor allem von in Deutschland lebenden Palästinensern. Es gab am Rande solcher Demonstrationen oder nach deren Beendigung auch vereinzelte antijüdische Äußerungen wie in Berlin, wo eine Gruppe von Demonstranten »Jude, Jude feiges Schwein« rief. In Wuppertal sollen laut Polizeiangaben drei junge Palästinenser Brandsätze gegen eine Synagoge geworfen haben, die allerdings keinen Schaden anrichteten.
Wie bei ähnlichen Angriffen auf jüdische Einrichtungen in Frankreich gingen solche antijüdischen Äußerungen auch in Deutschland von Menschen arabischer oder palästinensischer Abstammung aus. Wir lehnen als Sozialisten solche Verallgemeinerungen selbstverständlich ab. Allerdings ist die Differenzierung zwischen Israel als jüdischem Staat und der jüdischen Glaubensgemeinschaft zunehmend erschwert, da zum Beispiel die großen jüdischen Gemeinden in Deutschland sich vorbehaltlos mit der Politik des Staates Israel solidarisieren, der Staat Israel beansprucht, die Heimstätte aller Juden der Welt zu sein und schließlich weil die Friedensbewegung in Israel selbst (die die Ermordung und Vertreibung von Palästinensern durch den israelischen Staat verurteilt) bislang nahezu bedeutungslos blieb.
Deshalb ist es auch vereinfachend zu behaupten, hier handele es sich um eine Welle des (alten) Antisemitismus, wie er sich unter den Nazis darstellte. Der traditionelle Antisemitismus nährte sich aus Legenden wie der, dass Juden Brunnen vergifteten oder das »jüdische Finanzkapital« verantwortlich für alle Kriege sei. Die antijüdischen Einstellungen junger Maghrebiner in Frankreich oder Jugendlicher türkischer oder arabischer Herkunft in Deutschland, nährt sich aus der realen Erfahrung der Vertreibung und Tötung von Palästinensern durch den Staat Israel. Das rechtfertigt solche Einstellungen und Haltungen nicht. Aber es weist uns einen Weg, wie wir mit solchen Vorurteilen umgehen müssen, nämlich durch kritische Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand von Linken und von Linken jüdischer Abstammung. Israelkritische jüdische Stimmen wie die von Abraham Melzer oder Rolf Verleger leisten im Kampf gegen antijüdische Vorurteile junger Palästinenser zigmal mehr als Merkels Philosemitismus gepaart mit bedingungsloser Unterstützung der israelischen Kriegsmaschinerie.
Merkel will auf Berliner Demonstration sprechen
Jetzt von einer neuen Welle des Antisemitismus zu sprechen, die schlimmste zudem seit 1933, wird den Verhältnissen nicht gerecht. Weihnachten 1959 gab es antisemitische Schmierereien an einer Kölner Synagoge, in deren Anschluss es allein im Januar 1960 zu 700 ähnlichen antisemitischen Handlungen in der damaligen BRD kam. Der Unterschied zu heute liegt nicht nur in der schieren Menge von Fällen, sondern auch darin, dass damals Justiz, Polizei und Medien antisemitische Handlungen verschleiern halfen. Der Vorgänger von Frau Merkel, der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), verharmloste die Nachahmertaten von Köln als »Dumme-Jungen-Streiche« und sein Verteidigungsminister Strauß (CSU) machte die Kommunisten dafür verantwortlich, die das Ganze inszeniert hätten, um den westdeutschen Staat im Ausland zu schädigen.Schon die Tatsache, dass Merkel am 15. September in Berlin spricht, weist darauf hin, dass Antisemitismus heute in der Bundesrepublik von allen rassistischen Einstellungen diejenige ist, die von der politischen Öffentlichkeit, den großen Parteien und der Regierung am deutlichsten verurteilt und sanktioniert wird.
Drei Brandanschläge auf Moscheen im August
Im August gab es in Deutschland drei von der Öffentlichkeit kaum registrierte Brandanschläge gegen Moscheen. In Berlin-Kreuzberg ist eine der größten Moscheen in Deutschland fast völlig zerstört worden. In zwei anderen Moscheen in Bielefeld ist Sachschaden entstanden. Ein Sprecher der betroffenen Berliner Moschee hat sich bitter beklagt, dass sich in den Tagen nach dem Brand kein führender Berliner Politiker mit ihnen durch Anteilnahme solidarisiert habe. Man stelle sich einmal vor, eine große Synagoge wäre durch einen Brand angezündet und zerstört worden!Wissenschaftlichen Studien über Rassismus haben in den letzten Jahren eine Abnahme antisemitischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung festgestellt, umgekehrt aber einen Anstieg von Vorurteilen gegen Asylsuchende, gegen Sinti und Roma und gegen Muslime.Eine gerade veröffentliche Studie (Juni 2014) der Universität Leipzig, die sogenannte »Mitte-Studie«, ergab, dass 5 Prozent der Deutschen antisemitisch eingestellt seien, aber 36 Prozent »explizit islamfeindlichen Aussagen zustimmten« (2011 noch 22,6 Prozent) , 55,9 Prozent zeigten »antiziganische Einstellungen« (2011 44,2 Prozent) und 55 Prozent hatten starke Vorurteile gegen Asylbewerber (2011 46,7 Prozent). Auch die Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit von Heitmeyer u. a. zeigt über den Beobachtungszeitraum (2003 bis 2011) keinen Anstieg sondern eine (geringe) Abnahme antisemitischer Einstellungen.(Vgl. Deutsche Zustände, Folge 10, S. 29)
Eine »Welle des Antisemitismus«?
Interessant sind die Daten über Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in den letzten drei Jahren der Studie (2009-2011). Der Aussage »Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss« stimmten 2009 16.5 Prozent aller Befragten zu, 2011 waren es 13.0 Prozent. Der Aussage »Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden« stimmten 2009 21,4 Prozent zu, 2011 waren es 22,6 Prozent. (a.a.O. , S.38) Die Daten zeigen, dass sich Rassismus in Deutschland vornehmlich gegen Asylbewerber, Sinti und Roma und gegen Muslime richtet.Eine »Welle des Antisemitismus« gibt es dagegen nicht. Antijüdische Äußerungen und Handlungen von Palästinensern und aus muslimisch geprägten Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg lassen sich analytisch nicht ohne weiteres mit dem Begriff des traditionellen Antisemitismus fassen.Die »Welle des Antisemitismus von 2014« ist vielmehr eine Erfindung von pro-israelischen Medien und Politikern. Abraham Melzer sagte in seinem »Offenen Brief« dazu: Graumann beklage sich über mangelnde Solidarität der deutschen Bevölkerung angesichts des neuen Antisemitismus. Es sei »zynisch und dumm, … (der) Bevölkerung Antisemitismus vorzuwerfen, nur weil sie nicht bereit ist, den Wahnsinn der israelischen Regierung zu unterstützen.«Aber die Kritik an Israel wird immer lauter und sie soll zum Schweigen gebracht werden. In Deutschland und nur hier scheint dieses Manöver immer noch eine gewisse Wirkung zu versprechen, jedenfalls hoffen das Graumann, BILD und Merkel. Die Linke sollte sich davon nicht einschüchtern lassen und stattdessen ihre Kritik an der rassistischen Apartheidpolitik des Staates Israel schärfen und ihre Solidarität mit den kämpfenden Palästinensern verdoppeln.
Redaktioneller Nachtrag: Dem Artikel folgte auf Facebook eine rege Debatte, an der auch der Autor teilnahm. Ihr könnt die geposteten Meinungen hier nachlesen.
Schlagwörter: Antisemitismus, Berlin, Demonstration, Islamophobie