Es herrschen erneut bürgerkriegsähnliche Zustände in Nordkurdistan und der Türkei. Militärs auf den Straßen, Ausgangssperren und scharfe Schüsse auf Demonstrationen zeigen, wie bedrohlich die Situation für die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan geworden ist.
Es gibt Berichte von Polizeieinheiten, die „Alahu akbar“ und „Lang lebe Isis“ schreiend auf kurdische Demonstrationen zugestürmt sind. Die Zahl der Toten steigt und hat die 40 überschritten.
Der kurdische „Serhildan“ (Volksaufstand) wird nicht nur von türkischer Polizei und Militär, sondern auch von selbsternannten „Dorfschützern“ und IS-nahen Islamisten brutal bekämpft. Die Festnahme von drei deutschen linken Journalisten, die von den kurdischen Protesten berichteten und der Vorwurf, sie seien Spione und Provokateure, verdeutlicht die Repression des türkischen Staates. Der Versuch, die Aufstände als Verschwörung aus dem Ausland zu diffamieren, zeigt den Druck, unter dem Erdoğan sich mittlerweile befindet.
Doch die große Solidaritätswelle von türkischer Seite bleibt aus. Entweder hat der IS mit der Androhung von Anschlägen in der Türkei, im Falle türkischer Intervention, die Regierung schon in Schutzhaft genommen, oder die Gräben zwischen kurdischer und türkischer Bevölkerung sind doch noch zu groß. Die türkischen Medien versuchen fast geschlossen den Keil tiefer in die Gesellschaft treiben. Im Gegensatz zu den Gezi-Protesten wird nun sehr viel über die „kurdischen Aufstände“ berichtet; Aufständische als „Feinde der Türkei“ gebrandmarkt. Über ihre Unterstützung durch die türkische Linke hingegen wird geschwiegen.
Erdoğan unterstützt den IS
Die Strategie der türkischen Regierung ist durchsichtig. Erst unterstützte Erdoğan die Freie Syrische Armee (FSA), dann dschihadistische Gruppen und nun den IS als bevorzugten Bündnispartner gegenüber dem Regime Assads. Als der Druck aus dem Westen sich verschärft hat, änderte sich zumindest die offizielle Rhetorik. Waffenlieferungen, menschlicher Nachschub und Trainingslager auf türkischem Boden werden jedoch weiterhin toleriert oder sogar aktiv gefördert.
Die kurdische Bevölkerung Syriens und der Türkei registriert das natürlich. Die seit über einem Jahr laufenden Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung werden damit zur Farce. Der Versuch, die IS und die kurdisch-dominierte, selbstverwaltete Region Rojava sich aneinander abreiben zu lassen geht nach hinten los. Das Feuer von Kobanê ist auf die Türkei übergesprungen.
Gegen Intervention des türkischen Militärs
Laut Medien würden die kurdischen Truppen nun eine Intervention des türkischen Militärs, das schon an der Grenze zu Kobanê steht, fordern. Dies sei „blanker Hohn“ so Civaka Azad, das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit: „Die Menschen gehen nicht auf die Straßen, um die Türkei nach Kobanê zu bewegen. Sie gehen auf die Straßen, damit die Türkei endlich ihr Handeln und ihre schmutzige Politik in Kobanê und in ganz Rojava einstellt.“
Nach jahrzehntelanger Unterdrückung und Verfolgung durch den türkischen Staat wäre es auch verwunderlich, würden die Kurdinnen und Kurden auf einmal an ein selbstloses Eingreifen des türkischen Militärs glauben. Schwer vorstellbar, dass die türkische Armee nach Abwehr der IS-Kämpfer die Kontrolle wieder abgibt. Dass Ankara gerne die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava zerschlagen will, ist kein Geheimnis. Möglicherweise möchte Erdoğan solange abwarten, bis Kobanê so stark geschwächt ist, dass er sich im letzten Moment doch als Retter der Region inszenieren kann. Um danach die Region, unter türkischer Führung, als Pufferzone gegen das Bürgerkriegsland Syrien zu benutzen. Das Parlament hat dem Einsatz türkischer Bodentruppen auf irakischem und syrischem Boden bereits zugestimmt. „Dieses Gesetz richtet sich nicht gegen den IS, sondern gegen die PKK“, so der Kurden-Chef Cemil Bayik und wertet dieses als Kriegserklärung.
Erdoğan hofft auf Nato-Bündnisfall
Die türkische Regierung spielt auf Zeit und hofft derweil auf einen NATO-Bündnisfall. Erste Granaten sind schon auf türkischer Seite eingeschlagen. Solang diese jedoch nur in kurdischen Dörfern explodieren, wertet die türkische Regierung das nicht als Angriff auf türkisches Staatsgebiet. Gemeinsam mit den USA und weiteren Nato-Staaten könnte im Bündnisfall großflächig in der Region interveniert werden und gleichzeitig kurdische Regionen unter türkische Kontrolle fallen. In seiner ersten Rede nach den kurdischen Ausschreitungen vergleicht Erdoğan Assads Regime mit dem Terror der IS und prangert an, dass der Türkei gegen den „PKK-Terror“ auch niemand beigestanden habe.
Er knüpft seine Unterstützung im Kampf gegen den IS an den Sturz Assads. So legitimiert Erdoğan sein Nichtstun an der syrischen Grenze und wartet ab, bis der Widerstand in Kobanê zermürbt ist. Im Südosten der Türkei ist Ankara dagegen sehr aktiv geworden. Nach einigen Scharmützeln zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK, die in den letzten Jahren selten geworden sind, ließ Erdoğan mehrere Stützpunkte der Rebellenarmee bombardieren.
PKK droht der Türkei
Die Türkei sähe lieber die Zerstörung Kobanês als eine autonome kurdische Region, die erfolgreich dem IS getrotzt hat. Die Pufferzone mit türkischer Armee auf syrischem Boden und erneuter Unterdrückung der kurdischen Gebiete ist nach wie vor das offizielle Lieblingsszenario von Erdoğan. Für den Westen lässt sich die YPG/YPJ nicht so instrumentalisieren wie die Peschmerga-Miliz im Nordirak, daher fällt die Unterstützung der USA verhältnismäßig klein aus.
Aufgrund der Unterstützung des IS durch die türkische Regierung der ideologische Anführer der PKK Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer hinter Gittern sitzt, mit der Wiederaufnahme des Kampfes gegen türkisches Militär in der Osttürkei gedroht, sollte Kobanê fallen. Auch ein Zwei-Fronten-Krieg gegen den IS und das türkische Militär sei, nach eigenen Angaben, für die PKK handhabbar. Sie werde sich dabei aber weiterhin auf die Selbstverteidigung beschränken, bemerkte ein kurdischer Anführer in einem Interview.
Die heutige PKK ist weit weg von der stalinistischen Guerilla-Armee, die Kindersoldaten rekrutierte um einen kurdischen Nationalstaat zu schaffen, die sie einmal war. Ziele und Mittel haben sich grundlegend geändert. Die PKK verfolgt nunmehr das Ziel des „demokratischen Konföderalismus” und versucht über basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen, das Zusammenleben neu zu regeln und Nationalstaaten auf lange Sicht überflüssig zu machen.
Grenze öffnen für PKK
Die gesamte Interventionsdiskussion in Deutschland und auch der deutschen Linken geht an der eigentlichen Situation vorbei. Die Luftschläge des US-geführten Bündnisses helfen im Moment nach eigenen Angaben der YPG/YPJ bei der Verteidigung von Kobanê. Auf lange Sicht aber profitieren von den Luftschlägen am meisten das konterrevolutionäre Regime Assads und der IS, dem sich in den ersten Tagen der amerikanischen Luftschläge hunderte neue Leute angeschlossen haben.
Die PKK hat die wohl am besten ausgebildeten Guerilla- und Häuser-Kampfeinheiten der Region. Es würden tausende Bewaffnete aus anderen Regionen Kobanê zur Hilfe eilen, wenn man sie denn ließe. Aber das türkische Militär macht die Grenze dicht und beschießt jeden, der versucht die Grenze nach Kobanê zu überschreiten. Ein paar hundert Meter weiter jedoch können IS-Kämpfer ohne Probleme die Grenze passieren.
Deswegen muss die Forderung an die türkische Regierung sein, einen Korridor für kurdische Kämpferinnen und Kämpfer herzustellen, die aus der Süd-Ost-Türkei nach Kobanê oder Syrien wollen und die aktive und passive Unterstützung für den IS zu beenden. Die kurdischen Gebiete können nur durch kurdische Milizen zurückerobert und befriedet werden. Jegliche westliche militärische Intervention geht mit Besatzung, Unterdrückung und Neoliberalisierung einher.
DIE LINKE sollte die Bundesregierung unter Druck setzen
Die Forderungen aus Kobanê selber nach panzerbrechenden Waffen sind angesichts der Lage dort verständlich und berechtigt. Doch die Kräfteverhältnisse im deutschen Bundestag reichen für die LINKE nicht aus, um militärische Einsätze und Waffenlieferungen ausreichend kontrollieren zu können und müssen daher abgelehnt werden. Die deutschen Waffen für die Peschmerga sind das beste Beispiel, wie schnell Tabus gebrochen werden, und wir offensichtlich die falsche Miliz unterstützt wird. Bei der Flucht der Jesiden von dem IS im Sommer waren die Peschmerga Hasenfüße. Nur die PKK kam den Jesiden zur Hilfe. Da diese jedoch international nach wie vor als „terroristisch“ eingestuft wird, hat der Westen lieber eine loyale Miliz unterstützt.
Dass es der Bundesregierung nicht um die Menschen ging, sagte Verteidigungsministerin von der Leyen bereits in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu diskutieren.“ Hier ist eine Mittäterschaft der Linkspartei fehl am Platz.
Die LINKE sollte sich stattdessen auf die Rolle der Türkei fokussieren. Die lässt die Region Rojava bewusst ausbluten. Nach eigenen Angaben der in Kobanê kämpfenden YPG/YPJ könne sie mit Hilfe der PKK die Stadt allein verteidigen. Allein ein Korridor für humanitären und logistischen Nachschub für die Region würde ausreichen um die Stadt zu halten und den IS zurück zu drängen. Das Versprechen, dies zu gewähren, wurde von der Türkei nicht eingehalten. Stattdessen wird diskutiert, türkische Militärflughäfen für die USA zu öffnen.
Hier muss die deutsche Linke ansetzen und Druck auf den Nato-Partner ausüben. Eine Aufhebung des PKK-Verbotes würde nicht nur die Lebens- und Betätigungsbedingungen von kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland verbessern, sondern könnte, flankiert von einem Abzug der deutschen Patriot-Raketen, immensen Druck auf Ankara ausüben, der zu einer Veränderung der türkischen Politik beitragen kann. Eine Aufhebung des PKK-Verbots, der Abzug der deutschen Patriot-Raketen aus dem syrischen Grenzgebiet, ein Stopp der Blockade um Kobanê und ein Stopp der faktischen Unterstützung der IS müssen auf die Agenda der internationalen Solidarität.
Foto: Sozialfotografie [►] StR
Schlagwörter: Erdoğan, IS, Isis, Kobane, Kurden, Kurdistan, Linke, NATO, PKK, Rojava, Türkei