Um die Notwendigkeit von Ausgangssperren in der Pandemiebekämpfung zu begründen, wird oft auf die Erfahrung von Portugal verwiesen. Dabei zeigt ein genauerer Blick auf das Land nicht nur, dass Ausgangssperren wenig Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben, sondern auch, was stattdessen getan werden muss. Von Yaak Pabst
Angesichts steigender Corona-Fallzahlen und dem exponentiellem Wachstum der Virusmutation B.1.1.7 in Deutschland diskutiert die Bundesregierung über Ausgangssperren. Mehrere Bundesländer haben bereits nächtliche Ausgangssperren oder -beschränkungen verhängt. Auch Angela Merkel meint: »Ausgangsbeschränkungen können ein ganz wirksames Mittel sein.« Und besonders Karl Lauterbach (SPD) ist sich sicher: »Portugal hat durch einen kurzen harten Lockdown B117 besiegt und bisher keinen Rückfall. War vorher Hotspot der Welt. Ausgangssperren in allen stärker betroffenen Regionen waren ein zentraler Bestandteil.« Stimmt das? Sind Ausgangsbeschränkungen wirklich ein wirksames Mittel? Und beweisen die Entwicklungen in Portugal genau das? Ein genauer Blick (nicht nur auf Portugal) zeigt: So einfach ist es nicht.
Ausgangssperren in Portugal
In der Tat wurde Portugal von B.1.1.7 hart getroffen: Auf dem Höhepunkt der dritten Welle registrierte das Land 13.000 Neuinfektionen und 221 Covid-19-Tote pro Tag. Um zu verstehen, wie heftig diese Zahlen sind: Auf die Bevölkerungszahl von Deutschland hochgerechnet wären das ein 7-Tage-Schnitt von mehr als 110.000 Neuinfektionen und rund 1800 Tote pro Tag. Höhepunkt in der Bundesrepublik waren bisher 25.000 Neuinfektionen und 900 Tote pro Tag. Doch die Menschen in Portugal haben das exponentielle Wachstum des Virus gebrochen. Das Land hatte Ende Januar noch eine 7-Tage-Inzidenz von 840. Nach zwei Monaten diszipliniertem Kampf liegt sie bei nur noch 28 (Stand 28.03.2021).
Die gute Nachricht: Auch B.1.1.7 kann besiegt werden. Nur mit den Ausgangssperren hat das Ganze wenig zu tun. Warum? Ausgangssperren waren in Portugal schon vor der zweiten und der dritten Welle in Kraft. Sie wurde in unterschiedlichen Abstufung, meist jedoch an Wochentagen von 23 Uhr bis 5 Uhr und an Wochenende von 13 Uhr bis 5 Uhr verhängt. Sie schützten die Menschen dort weder vor der zweiten, noch vor der verheerenden dritten Welle.
Verpflichtung zum Homeoffice
Aber was brachte dann die Wende in Portugal? Bei einem genaueren Blick auf die Mobilitätsdaten fällt auf, dass die Mobilität in der Bevölkerung ab dem 15. Januar 2021 deutlich zurückgeht. Das war der Moment, als die Regierung eine »Verschärfung« des Lockdowns beschloss – unter anderem mit Maßnahmen wie der Schließung von Schulen, Kitas, Bars und Restaurants (welche die ganze Zeit offen waren) und einer Verpflichtung zum Homeoffice. Aber was war besonders effektiv?
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Ein Blick auf die Mobilitätsdaten kann Hinweise geben. Ein Wert fällt dort nämlich besonders auf: In der Zeit vom 15. Januar bis 15. März 2021 sank die Mobilität im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz gegenüber der Zeit vor der Pandemie auf bis zu minus 46 Prozent in der Spitze – ein Wert, der zuvor nur am Neujahrstag erreicht und nur im ersten Lockdown übertroffen wurde. Was noch wichtiger ist: Nahezu den ganzen Februar über lag dieser Wert kontinuierlich bei über minus 40 Prozent und auch im darauffolgenden Monat März bei deutlich über minus 30 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert in den letzten vier Wochen nur bei weniger als minus 20 Prozent. Ebenso nicht unwichtig: Die Mobilitätstrends für Orte wie Restaurants, Cafés und Einkaufszentren gingen in diesem Zeitraum von minus 22 Prozent auf minus 67 Prozent zurück. Ausgangssperren wurden von der Regierung jedoch schon vor dem 15. Januar 2021 beschlossen, nämlich am 28.10.2020.
Ausgangssperren haben wenig Einfluss
Das zeigt: Ausgangssperren haben wenig Einfluss auf das Infektionsgeschehen und sind keine zentrale Variable, um die Pandemie nachhaltig einzudämmen. Nicht nur die Erfahrungen in Portugal zeigen das. In allen europäischen Ländern, in denen Ausgangssperren angewandt wurden, hatten sie wenig Einfluss darauf, dass exponentielle Wachstum des Virus zu brechen – das gilt für Italien, Frankreich, Spanien aber auch für Polen, Tschechien oder Belgien. In all diesen Ländern gab es nationale Ausgangssperren. Trotzdem wurden diese Länder sowohl von der ersten und zweiten Welle als auch jetzt von der dritten Welle hart getroffen.
Um ein sich exponentiell verbreitendes Virus zu stoppen, braucht es keine Ausgangsperren, sondern das schnelle Unterbrechen von Infektionsketten. Kontakte zu reduzieren ist dabei ein wichtiges Element. Wo entstehen also viele Kontakte? In der Langzeitbefragung COSMO wird das Offensichtliche nochmals herausgestellt. Dort heißt es mit Blick auf das Hochinzidenzgebiet Thüringen: »Viele Kontakte bestehen außerdem weiterhin am Arbeitsplatz – 55 Prozent der befragten berufstätigen Thüringer/innen haben täglich mit mehr als 5 Personen so nahe körperlichen Kontakt, dass eine Ansteckung mit dem Coronavirus möglich wäre.«
Lockdown nur in der Freizeit?
Für diese Erkenntnis bräuchte es allerdings nicht einmal Studien – es reicht eigentlich der gesunde Menschenverstand: Es ist absurd, Menschen zu verbieten, sich in ihrer Freizeit draußen aufzuhalten, und gleichzeitig Millionen von Beschäftigten zu zwingen, in Werkshallen und Dienstleistungsbetrieben mit hunderten Menschen in einem Raum weiterzuarbeiten.
Man kann aber auch auf die Wissenschaft hören. Der Physiker und Aerosol-Experte Gerhard Scheuch redet nicht um den heißen Brei. Er sagt: »Nächtliche Ausgangssperren sind absurd!«. Für ihn ist die Corona-Krise ein »Innenraum-Problem«. Dies ist übrigens schon seit dem Frühjahr 2020 bekannt, als in einer Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus China festgestellt wurde, dass bei über 7000 Infektionen nur eine einzige davon im Freien stattfand.
Kontaktbeschränkungen reichen nicht
Die Übertragung des Virus über Aerosole findet auch über indirekte Ansteckungen statt. Im Deutschlandfunk erklärt Gerhard Scheuch: »Stellen Sie sich vor, ich sitze acht Stunden in einem Büro und arbeite und ich puste meine Viren in den Raum und lüfte nicht. Dann verlasse ich das Büro, abends kommt die Putzkolonne, kein Mensch ist in dem Büro, man ist niemandem begegnet, man hat keine Maske auf. Die Putzkraft putzt das Büro und infiziert sich, obwohl sie überhaupt niemandem begegnet ist. Deswegen werden wir dieser Pandemie nur alleine über Kontaktbeschränkungen nicht Herr, weil diese Aerosole einen ganz anderen Ansteckungsweg verfolgen. Das muss gar nicht ein direkter Kontakt sein, das kann auch durchaus ein indirekter Kontakt sein.«
Diese Position ist keine Einzelmeinung. Die Gesellschaft der Aerosolforschung hatte bereits im November 2020 ein Positionspapier herausgebracht, in dem ganz deutlich beschrieben worden ist, dass das Infektionsrisiko ein Innenraumproblem ist. Das genau aus diesem Grund die »Innenräume« der Arbeitswelt in den Blick genommen werden sollten, statt über Ausgangssperren zu diskutieren, liegt eigentlich auf der Hand.
Ausgangssperren sind eine Klassenfrage
Es sollte also klar sein, dass »physische Distanz« und »Kontaktreduzierung«, wie viele Virologen und Medizinerinnen schon erklärt haben, keine Isolation in der eigenen Wohnung voraussetzt. Im Gegenteil: Solange Abstand zu anderen eingehalten wird, ist es sehr empfehlenswert sich nicht ständig in Innenräumen aufzuhalten. Dabei wirklich hilfreich sind technisch-medizinische Mittel, wie kostenfreie FFP-2 Masken oder Schnelltest für alle.
Ausgangssperren gehen am Problem vorbei, schaffen aber zahlreiche neue: Für viele Menschen, gerade alte und kranke, oder Menschen mit Kindern, bedeuten Ausgangsbeschränkungen soziale Isolation. Gleichzeitig sind Ausgangssperren natürlich eine Klassenfrage: In einer Villa mit Garten oder einer großen Wohnung mit Balkon lässt sich eine Ausgangssperre leichter ertragen als alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in einer Zweizimmerwohnung.
Angriff auf die Grundrechte
Hinzu kommt: Ausgangssperren sind keine Kleinigkeit, sondern ein weitreichender Grundrechtseingriff gegenüber der Bevölkerung. Der Blick in andere Länder zeigt auch, auf welch problematische Weise sie durchgesetzt werden: Spanien setzt die Armee ein und lässt die Bevölkerung per Drohnen überwachen. Israel hat seinem Geheimdienst Zugriff auf sämtliche Ortungsdaten der Mobiltelefone gewährt, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Alle Bewegungen der Bürgerinnen und Bürger werden überwacht. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Alle Regierungen, egal ob harte Bekämpferinnen des Virus oder nicht, nutzen die Pandemie, um ihre rassistische, unsoziale und undemokratische Politik zu verstetigen oder sogar auszubauen. Dies ist aber ein Kennzeichen des aus den Fugen geratenen Katastrophenkapitalismus und nicht ein unabdingbares Feature vernünftiger Seuchen-Prävention.
Menschen schützen statt Profite!
Dass Merkel und Lauterbach daran festhalten, dass Ausgangssperren das Mittel der Wahl sind, um B 1.1.7 wirksam zu bekämpfen, hat vor allem einen Grund: Sie wollen die Wirtschaftsbosse schonen. In den Innenräumen von Fabriken, Büros oder Logistikzentren sollen die Vielen weiterhin Profite für die Wenigen schaffen – egal, ob sie sich dabei einem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen.
Das ist gesundheitspolitisch eine Sackgasse und gesellschaftspolitisch ein Skandal. Der Lockdown der Bundesregierung ist deswegen so ineffektiv, weil er wesentliche Bereiche der Wirtschaft ausspart. Nur 13 Prozent der Wirtschaft sind direkt von einem Lockdown betroffen. 87 Prozent der Wirtschaft produzieren weiter, als gäbe es die Pandemie nicht. Die Debatte über Ausgangssperren lenkt von genau diesem Problem ab.
Foto: Gerd Altmann auf Pixabay
Schlagwörter: Ausgangssperre, Corona