Die Rechte in Deutschland attackiert die 68er-Bewegung und fordert eine »konservative Revolution«. Wie soll die Linke reagieren? Acht Thesen zur Verteidigung der Revolte von 1968 und zur Notwendigkeit eines neuen linken Aufbruchs. Vom marx21-Netzwerk
1. Die Linke muss den Protest von 1968 gegen die Angriffe von rechts verteidigen.
»Wir müssen 1968 hinter uns lassen«, meint der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, und fordert dafür gar eine »konservative Revolution«. Stichwortgeber dieser Linie war Jörg Meuthen, Bundessprecher der AfD. Er sagte auf dem Parteitag 2017 in Stuttgart: »Unser Parteiprogramm ist ein Fahrplan in ein anderes Deutschland. Und zwar in ein Deutschland weg vom links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland, von dem wir die Nase voll haben.« Beide ignorieren, dass in den 50 Jahren seit 1968 die CDU und die CSU 29 Jahre an der Macht waren – 28 davon in den letzten 35 Jahren. Die CSU hat in Bayern seit 1968 genau 50 Jahre lang das politische Geschehen kontrolliert, 38 Jahre davon mit absoluter Mehrheit. Von einer »Dominanz« der Linken kann also nicht die Rede sein.
Der Angriff der Rechten zielt vor allem auf das, wofür die 68er-Bewegung steht: Für Massenproteste gegen die Herrschenden, für Frauenemanzipation, Klassenkampf, Antirassismus und die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Die 68er wollten eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Genau deswegen ist 1968 immer noch ein großer Dorn im Auge der Rechten. Wie soll die Linke damit umgehen? Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske meint, der Angriff auf 1968 sei »eine Kampfansage« und den »Kulturkampf« müsse man annehmen. Recht hat er. Die Linke muss die 68er-Revolte und ihre Errungenschaften verteidigen. Gegen die konservativ-reaktionäre Wut auf die roten 68er brauchen wir einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch von links.
2. Eine linke Verteidigung von 1968 muss über die liberal-bürgerliche Deutung der 68er-Bewegung als Motor der »Liberalisierung der Demokratie« hinausgehen. Die Proteste von 1968 waren antiimperialistisch, antikapitalistisch und revolutionär.
Die heute vorherrschende Interpretation der »roten 68er« ist eine liberal-bürgerliche. Nach dieser Deutung hat die 68er-Bewegung im besten Fall die Gesellschaft liberalisiert und modernisiert. 1968 wird als das eigentliche »Gründungsdatum der liberalen Demokratie« betrachtet. In Deutschland entzündeten sich die Proteste tatsächlich zunächst an den autoritären Strukturen der konservativen Nachkriegsordnung (»Adenauer-Staat«) und am Vietnamkrieg der USA. Sie begannen somit als radikal-demokratische und pazifistische Proteste. Doch schlugen sie 1968 um in antiimperialistische und antikapitalistische Kämpfe. In ihrer großen Mehrheit richtete sich die Revolte von 1968 auch gegen die stalinistische Herrschaft im »Ostblock«. Im August 1968 solidarisierte sich die Bewegung mit der reformkommunistischen Bewegung in der CSSR (heutiges Tschechien und Slowakei) und gegen den Einmarsch russischer Truppen zu deren Niederschlagung.
In der liberal-bürgerlichen Lesart werden die Hoffnungen der 68er auf eine Weltrevolution und den Sturz des Kapitalismus als »gefährliche Utopien« betrachtet, die in das politische Sektentum der 1970er-Jahre und den Terror der Rote-Armee-Fraktion (RAF) mündeten. Das ist falsch. Nur eine winzige Minderheit der Aktiven wählte den Weg des Terrorismus. Die Mehrheit der 68er engagierte sich nach 1968 in den »neuen sozialen Bewegungen« und prägte sie. In Deutschland gehören dazu unter anderem die Lehrlingsbewegung, die Frauenbewegung, lokale Kämpfe gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, die linke Opposition in den Gewerkschaften, die Anti-Nazi-Bewegung und die Anti-Atom-Bewegung. Diese Bewegungen verstanden sich in den Anfängen als sozialistisch und erkämpften weitreichende Reformen. Eine linke Verteidigung von 1968 sollte dies nicht verschweigen. Es ging den Aktiven nicht um die »Liberalisierung der Demokratie«, sondern um den Sturz des Kapitalismus mit den Methoden des revolutionären Kampfes.
3. 1968 war nicht nur eine Revolte der Studierenden. Die Proteste waren der Startschuss für eine Welle von Arbeiterkämpfen auf der ganzen Welt.
Im Sommersemester 1966 kam es in Berlin zum ersten großen Sitzstreik mit einem begleitenden »Teach-In«. Die Inspiration für diese Protestform kam von den Studierenden der Berkeley-Universität in Kalifornien. Dort erkämpften sich Tausende Studierende das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit gegen die Rassendiskriminierung in den USA. 1967/68 wurde zum Jahr der Studierendenrevolten, die dann im Mai 1968 in Frankreich zum Auslöser des größten Generalstreiks der französischen Geschichte wurden. Im Herbst 1969 kam es in Italien zu anhaltenden spontanen Massenstreiks. Der durch die Studierendenrevolte ausgelöste Aufschwung von Klassenkämpfen war nicht überall gleich stark und er endete zumindest im Westen vorläufig mit der Nelkenrevolution in Portugal von 1974-76. Diese war durch antikoloniale Bewegungen in Portugals afrikanischen Kolonien ausgelöst worden und weitete sich in einen allgemeinen Soldatenaufstand der portugiesischen Armee und den Sturz eines halb-faschistischen Regimes aus.
4. In Deutschland wurde der wegen »Linksabweichlertum« 1961 aus der SPD ausgeschlossene SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) zur Speerspitze der Bewegung.
Ohne den SDS wäre aus den verschiedenen Protesten, wie jene gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, die technokratische Hochschulreform und die Große Koalition (1966-69), keine mehrere Jahre aktive, sich zunehmend politisierende revolutionäre Studierendenbewegung entstanden. Rudi Dutschke und der von ihm beeinflusste antiautoritäre Flügel im SDS spielten dabei eine zentrale Rolle. Unter seiner Führung entwickelte sich zunächst innerhalb der neuen Studierendenbewegung eine radikale Kritik am parlamentarischen System, die sich in der Wiederentdeckung rätedemokratischer Traditionen ausdrückte.
5. Die schrittweise Auflösung des SDS (1969-70) war weniger Ausdruck eines Niedergangs der Bewegung, als ein Zeichen ihrer Weiterentwicklung.
1968 waren die Studierendenrevolte und der SDS als Hochschulbewegung an seine politischen Grenzen gekommen. 1969 schrieb die aus dem Berliner SDS hervorgegangene Gruppe PL/PI (Proletarische Linke/Parteiinitiative): »Die Studentenbewegung hat durch die Kämpfe in den Jahren 1968/69 das Bewusstsein erworben, dass die einzelnen Widersprüche, an denen sich ihre einzelnen Kämpfe entzündeten, nur durch das Proletariat gelöst werden können.« Die Frage drängte sich auf, wie eine politische Intellektuellenbewegung Zugang zur Arbeiterklasse finden könne; mit dem Ziel, sie in einen revolutionären Bildungsprozess einzubeziehen. Allerdings lag schon in der Fragestellung die Gefahr eines elitären Aufklärungssozialismus, die der Intelligenz eine besondere, führende Rolle im Klassenkampf zumisst. Und auch die gerade von Rudi Dutschke und dem antiautoritären Flügel so erfolgreich entwickelte und erprobte Kampfmethode der »exemplarischen und provokativen Aktion« ließ sich nicht ohne weiteres auf den betrieblichen Kampf übertragen. Die Aufgabe der Transformation der Studierendenorganisation SDS in eine Arbeiterorganisation (Partei) und der Studierendenrevolte in eine »Klassenrevolte des Proletariats« musste den SDS sprengen.
6. Der SDS und mit ihm die 68er-Bewegung in Deutschland hatten mehrere politische Schwächen, die ihren Zerfall und späteren Niedergang beschleunigten. Die erste und wichtigste Schwäche war die Tendenz zum Voluntarismus.
Im Herbst 1969 entstand unter dem Einfluss der Studierendenrevolte eine große Lehrlingsbewegung und es kam zum ersten Mal in der Nachkriegszeit zu einer Welle spontaner betrieblicher Streiks (»Septemberstreiks«). Überall bildeten sich studentische Zirkel, die nun begannen, »Betriebsarbeit« zu machen, mit dem Ziel, das Proletariat zu »revolutionieren«. Die Tendenz zum Voluntarismus, zur Ersetzung realer Widersprüche und vorgefundener Kräfteverhältnisse durch den reinen Willen der intellektuellen Elite, äußerte sich zunächst in einer vollständigen Fehl- und Überschätzung der Septemberstreiks als revolutionäre Streiks, nur weil sie nicht von den reformistischen Gewerkschaften getragen und organisiert waren. Die Überschätzung der eigenen Kräfte führte zu unrealistischen »Revolutionserwartungen«. Niederlage und Enttäuschung waren vorprogrammiert. So war es nur konsequent, dass der ehemalige Revolutionär Joschka Fischer 1981 einen Artikel mit dem Titel »Lebt wohl, Verdammte dieser Erde« verfasste und durch die Grünen zum Minister wurde. Den Kapitalismus hat er nicht verändert, aber sich selbst.
7. Die zweite zentrale Schwäche war die unkritische Unterstützung von politischen Führern antiimperialistischer Revolutionen wie Ho Chi Minh, Fidel Castro, Mao Tse Tung und Pol Pot sowie ihrer vermeintlich kommunistischen Parteien.
Beim Versuch, den weiteren Gang der 68er-Bewegung in Deutschland zu analysieren, stolpern viele Historiker über den plötzlichen Wandel des antiautoritären SDS mit seiner scharfen Kritik an autoritären Organisationsstrukturen aller Art in vollständig autoritäre maoistische, das heißt neostalinistische Parteien. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung liegt im anmaßenden Anspruch der intellektuellen Elite, das »unwissende« Volk und die Arbeiterklasse aufzuklären und so zu befreien, sowie in der Imitation der vermeintlich kommunistischen Parteien antiimperialistischer Führer wie Mao Tse Tung. Doch diese Parteien waren nur dem Namen nach Arbeiterparteien. In Wirklichkeit waren es Parteien der nationalen Intelligenz, gestützt auf bäuerlich-ländliche Massen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass eine Generation von Studierenden, die mit dem Reformismus der Sozialdemokratie und mit dem Stalinismus Moskauer Prägung gebrochen hatte, über die Hintertür der Ideen Mao Tse Tungs wieder bei einer Version des »Sozialismus von oben« landete. Das heißt sie endeten mit einem zeitlichen Verzug von ein paar Jahren entweder in bürgerlichen Berufskarrieren oder – was sich damit nicht widersprach – in der Partei der Grünen und somit der Versöhnung mit dem herrschenden politischen System. Der andere Flügel des SDS, der dort 1966 in die Minderheit geraten war, die »marxistischen Traditionalisten«, waren gegenüber Ho Tschi Minh oder Pol Pot keineswegs kritischer. Sie gingen in ihrer großen Mehrheit zur 1968 neu gegründeten DKP. Nach dem Fall des Ostblocks fanden nur wenige den Weg zu einem antireformistischen und antistalinistischen Marxismus zurück.
7. Die legitimen Erben der 68er-Bewegung sind weder die Grünen noch jene vernünftig gewordenen früheren Rebellinnen und Rebellen mit Minister- und Staatssekretärsposten.
Die maoistischen Kleinparteien der 1970er Jahre – sie hatten zusammen immerhin ca. 15.000 Mitglieder – waren aus heutiger Sicht eine Übergangsetappe zur Herausbildung der Grünen nach 1979. Der Prozess ihrer Auflösung erfolgte in Etappen. Und die verschiedenen Kleingruppen waren auch nicht alle gleich dogmatisch und lernunfähig. Aber ihre Grundorientierung an einem chinesischen »Kommunismus« war zumindest eine wesentliche Ursache ihres Scheiterns. Die zweite Ursache, die die erste noch beschleunigte, war der ab Mitte der 1970er-Jahre beginnende Niedergang der Klassenkämpfe des internationalen Proletariats. Die einsetzende Massenarbeitslosigkeit mit der Weltwirtschaftsrezession von 1973/4 hat das Kräfteverhältnis zwischen den großen Klassen zugunsten der Kapitalisten verschoben. Marxistische Ideen sind aber immer dann populär und nachvollziehbar, wenn die Hauptidee von Marx und Engels, nämlich die Theorie des Sturzes des Kapitalismus durch die Selbstbefreiung des Proletariats, also durch den eigenen Klassenkampf, erfahrbar wird. Die Partei der Grünen entstand aus den Ruinen und auf dem Rücken der 68er-Bewegung. Sie sind die »Erben« der 68er-Bewegung, aber sie sind illegitime Erben, die sich ungefragt und unberechtigt die Erbmasse angeeignet haben.
8. 1968 bietet einen Fundus an Erfahrungen für die Linke heute. Die Gründe, die zur Rebellion von 1968 geführt hatten, bestehen nicht nur weiter, die Widersprüche haben sich verschärft.
Auch wenn die Welt sich seit 1968 dramatisch gewandelt hat, sind viele Fragen und Probleme, die damals die Menschen auf die Straße trieben, immer noch aktuell: imperialistische Kriege – unter anderem in Afghanistan, Jemen, Syrien und der Ukraine –, Rassismus und der Kampf um gleiche Rechte für alle, die Ausbeutung und die mangelnde Demokratie in den Betrieben, Sexismus und Frauenunterdrückung sowie die weltweite Armut. Diese Widersprüche haben sich verschärft und neue sind hinzugekommen: die sich abzeichnende Klimakatastrophe, der Aufbau neuer atomarer Drohpotenziale, die neuen Rüstungswettläufe sowie die Dauerkriege im Mittleren Osten und in Teilen Afrikas sind untrügliche Anzeichen für eine bedrohliche Zuspitzung des zentralen Widerspruchs von Produktivkräften und kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Deshalb bleibt das Projekt der 68er aktuell: das Projekt des revolutionären Sturzes des Weltkapitalismus. Die nächste Revolte kommt bestimmt. Bereiten wir uns besser vor als beim letzten Mal.
Schlagwörter: 1968, Analyse, Deutschland, marx21, Rudi Dutschke, SDS, SPD, Studentenproteste