Die kubanische Regierung von Raúl Castro will in den nächsten Monaten 500.000 Staatsbeschäftigte entlassen und sich eine neue Mittelschicht schaffen. Im Interview erklärt der aus Kuba stammende Autor Samuel Farber die Hintergrunde. Ein Gespräch über Catros Sozialismus, das US-amerikanische Wirtschaftsembargo und die Haltung der Linken.
marx21: Was steht hinter der dramatischen Ankündigung, dass die kubanische Regierung eine halbe Million Staatsjobs abbauen will?
Samuel Farber: Das muss an erster Stelle im Zusammenhang mit dem Niedergang des kubanischen Regimes gesehen werden, der durch die schreckliche Wirtschaftslage noch beschleunigt wird. Das ist das Ergebnis einer Kombination verschiedener Faktoren. Einer besteht in den Irrationalitäten und Krisen, die von dem bürokratischen System selbst erzeugt werden. Ein anderer ist natürlich die Weltrezession mit ihren sehr negativen Auswirkungen auf die kubanische Wirtschaft.
Beispielsweise kommen zwar in etwa genauso viele Touristen nach Kuba wie vorher, aber die Einnahmen aus dem Tourismus sind gesunken. Und die Einnahmen aus der Nickelgewinnung, die in den vergangenen Jahren bedeutend wichtiger als der Tourismus war, sind wegen des starken Falls der Gebrauchsgüterpreise dramatisch gesunken – allerdings hat sich der Nickelpreis inzwischen wieder etwas erholt.
Das ist also eine ernsthafte Wirtschaftskrise, und seit ein paar Jahren hat das Regime schon davon geredet, dass es eine Million überschüssiger StaatsarbeiterInnen gibt – nicht eine halbe Million, sondern eine Million. Es könnte sich also um eine »Kompromisslinie« handeln, wenn nun »nur« eine halbe Million Menschen auf die Straße gesetzt wird. Von dieser halben Million sollen 250.000 Lizenzen für selbstständige Tätigkeiten bekommen und weitere 200.000 sollen in nicht staatlichen Betrieben arbeiten – was heißt, dass viele Staatsunternehmen in Kooperativen verwandelt werden, wo die Beschäftigten die Verantwortung für den Betrieb selbst tragen. Das wurde schon bei den Taxis vorexerziert, bei den Friseurläden und Kosmetiksalons. Jetzt soll das auf viel mehr Berufe und Zweige ausgeweitet werden. In der offiziellen Ankündigung der Entlassungen durch den größten Gewerkschaftsdachverband – sollte das übrigens nicht Aufgabe des Arbeitgebers sein? – wurden 50.000 ArbeiterInnen nicht erwähnt, vielleicht weil sie andere Staatsjobs bekommen sollen.
Das ist aber nicht der erste Schritt des Regimes in diese Richtung, oder?
Ich würde diesen neuen Schritt als einen wichtigen Meilenstein in einer Entwicklung bezeichnen, die schon vor einiger Zeit eingeleitet wurde. Vor ein paar Jahren begann die Regierung an Bauern Land zu verpachten – mit Zehnjahresverträgen und Verlängerungsmöglichkeit -, nachdem die Zuckerindustrie fast vollständig zusammengebrochen war und das Land zu Brachland werden drohte. Die Bauern sollten Privatbauern werden und frei über das Land verfügen. Aber sie sind nicht die Eigentümer. Sie zahlen Pacht an den Staat, um zuvor unbearbeitetes Land zu nutzen, und sie müssen den Hauptteil ihrer Erzeugnisse an den Staat zu festgelegten Preisen verkaufen.
Diese Erfahrung könnte ein Indikator für die großen Probleme sein, die auf Kuba zukommen, wenn eine halbe Million Staatsbeschäftigte zu Selbstständigen gemacht oder Betriebe in Kooperativen umgewandelt werden. Im Fall der privat betriebenen Landwirtschaft hatte die Mehrheit der Leute keine Erfahrung mit Landwirtschaft. Sie kamen aus den Städten und versuchten verzweifelt, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Sie konnten jedoch kaum Werkzeuge bekommen. Damit meine ich keine Hightech-Geräte oder Traktoren oder Ähnliches – ich meine ganz einfache Landwirtschaftswerkzeuge. Der Staat hat nur halbe Arbeit gemacht, die Ergebnisse sind deshalb nicht sehr beeindruckend. Ich vermute, dass es in den neuen Privatunternehmen zu ähnlichen Problemen kommen wird. Zum Beispiel sollen die Autowerkstätten für Selbstständige freigegeben oder in Kooperativen umgewandelt werden. Ein ehemaliger Staatsangestellter wird also zum Automechaniker. Woher wird er die Ersatzteile bekommen? Woher die passenden Werkzeuge, wenn nicht vom Staat?
An dieser Stelle kommt das Problem der Korruption ins Spiel. Korruption ist auf Kuba weit verbreitet, und die Leute müssen geradezu stehlen, um zu überleben. Die monatliche staatliche Ration deckt nur zwei Wochen ab. Zudem wird sie ständig gesenkt. Wenn jemand plötzlich zum Automechaniker wird, wird er noch größere Diebstähle begehen müssen, um als kleiner Geschäftsmann zu überleben.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass Leute Hilfe von außerhalb bekommen, vor allem von kubanischen Freunden und Angehörigen aus Südflorida. Das wäre aus Sicht der USA zwar illegal, aber nicht unbedingt auf Kuba, denn sie wollen, dass Kapital nach Kuba fließt. Die Folgen eines ausländischen Kapitalzuflusses führen allerdings auf noch unbekanntes Terrain. Die kubanische Regierung befindet sich in einer klassischen widersprüchlichen Situation in marxistischem Sinne. Sie muss diese Maßnahmen ergreifen, aber die Folgen könnten das System untergraben. Sie kommt also vom Regen in die Traufe.
Bisher gab es 591.000 Menschen in Privatunternehmen. Dazu gehören die um ihr Überleben kämpfenden Bauern, die ich soeben erwähnt habe, aber auch 143.000 Selbstständige in den Städten. Dazu kommen demnächst weitere 250.000 Menschen als Selbstständige plus 200.000 in Kooperativen. Wenn du nur über Privatunternehmen redest, wird es 450.000 Privatbauern plus 400.000 Selbstständige geben, die legal andere Menschen beschäftigen dürfen. Wir sprechen also von 850.000 Menschen bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 5 Millionen – das sind 17 Prozent. Sie schaffen also ein legales Kleinbürgertum auf Kuba – legal, weil eine Menge Leute schon vorher illegal so gearbeitet haben. Welche Folgen das haben wird, ist nicht klar, denn seit den 60er Jahren gab es solch eine Situation nicht mehr.
Es gab immer einen Flügel im US-amerikanischen politischen Establishment, der es für wichtig hielt, Geld in Privatunternehmungen auf Kuba zu pumpen, um so auf die Insel zu kommen. Wenn die kubanische Regierung das jetzt erlaubt, wird der Druck auf die USA steigen, die Wirtschaftsblockade zu lockern.
Ist Raúl Castro verantwortlich für den neuen Wirtschaftskurs? Oder liegen die Anfänge schon in Fidel Castros Amtszeit?
All das hat erst unter Raúl Castro begonnen, auch die private Landwirtschaft. Raúl Castro hat faktisch im Jahr 2006 und offiziell 2008 das Ruder übernommen, er war somit die entscheidende Person für das Tagesgeschäft. Raúl war schon seit Langem ein großer Bewunderer des chinesischen Modells, noch wichtiger ist aber die schwere Wirtschaftskrise auf Kuba. Es ist unklar, welche Rolle Fidel Castro dabei gespielt hat und welche Rolle er demnächst spielen wird.
Die Medien haben die neuen Entwicklungen auf Kuba in der Regel als Wende vom Sozialismus hin zum Kapitalismus beschrieben. Lässt sich das so sagen?
Ich habe schon immer gesagt, dass Kuba nichts mit Sozialismus zu tun hatte und hat. Leider haben weite Teile der Linken Staatseigentum mit Sozialismus durcheinandergebracht. Wenn wir über Sozialismus sprechen, sollten wir darüber reden, dass Land- und Stadtarbeiter – und ihre Klassenverbündeten wie die Bauern – gemeinsam die Gesellschaft lenken. Das gab es nie auf Kuba. Es stimmt, dass das Regime lange Zeit beliebt war, weil es den ärmsten Menschen eine wesentliche Hebung des Lebensstandards brachte – und für eine recht hohe soziale Mobilität sorgte, was manchmal übersehen wird. Allein wegen der enormen Auswanderung des Kleinbürgertums, des Großbürgertums und der Fachkräfte aus Kuba konnte eine große Zahl von Menschen diese Tätigkeiten übernehmen.
Entscheidend ist jedoch, dass Sozialismus nicht einfach eine Wirtschaft mit Staatseigentum ist, denn die Frage lautet: Wer kontrolliert den Staat? Die arbeitenden Menschen auf Kuba jedenfalls nicht, sondern eine Bürokratie, die um die Kommunistische Partei Kubas herum aufgebaut ist. Deshalb wird auch nicht der Sozialismus ersetzt. Eine herrschende Staatsbürokratie hat entschieden, als Juniorpartner ein neu geschaffenes Kleinbürgertum in die Ökonomie einzugliedern. Dabei werden einige neue Kleinbürger erfolgreich sein und sich in eine Gruppe privater Kapitalisten entwickeln, was es seit den 1960er Jahren nicht mehr auf Kuba gab.
Die Bürokratie wird die Macht mit dieser neuen Gruppe teilen – Wirtschaftsmacht – und es könnte sich eine Situation wie in China entwickeln. Aber dann gibt es auch noch die Frage der politischen Macht, und die Zentralbürokratie ist nicht bereit, die Macht mit frischgebackenen Kapitalisten zu teilen, es sei denn, sie passen sich bedingungslos an die herrschende Bürokratie an. Das ist in China geschehen – dort werden Kapitalisten Mitglied und Funktionäre der Kommunistischen Partei.
Was sollten Sozialisten angesichts dieser Analyse zur US-amerikanischen Blockade Kubas sagen?
Mir scheint, dass kann nicht oft genug wiederholt werden, völlig unabhängig von der Krise auf Kuba und unabhängig von den vielen Verbrechen und Untaten der Bürokratie. Wir sollten weiterhin darauf bestehen, dass die kriminelle Wirtschaftsblockade Kubas beendet wird. Die Vereinigten Staaten haben nicht das Recht, sich in die inneren Angelegenheit Kubas einzumischen und mithilfe ihrer Wirtschaftsmacht ihr bevorzugtes kapitalistisches System auf Kuba zu errichten. Es geht darum, das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung zu bekräftigen und die Vorherrschaft des US-Imperialismus zu beenden.
Es gibt aber noch einen praktischen Grund: Das kubanische Regime hat die US-Blockade Jahre über Jahre als Ausrede benutzt, um dahinter die diktatorische Natur des Staats und wirtschaftliche Unfähigkeit zu verbergen. Aus prinzipiellen wie praktischen Gründen denke ich deshalb, dass es dringend Zeit für die Beendigung dieser seit über 50 Jahren bestehenden Blockade ist.
Werden die Entlassungen im Staatssektor Widerstand hervorrufen?
Ich vermute, dass eine Menge Leute im Regen stehen gelassen werden, weil viele dieser Unternehmen keinen ausreichenden Zugang zu den notwendigen Ressourcen haben werden. Was die »Kooperativen« betrifft, so werden diese von oben aufgebaut. Das werden keine Kooperativen sein, die im Zuge eines Aufschwungs der Arbeiterbewegung entstehen wie zum Beispiel in Großbritannien und den skandinavischen Ländern, als eine Kooperativenbewegung im Verein mit der aufkeimenden Arbeiterbewegung entstand. Koopmitglieder auf Kuba könnten weder Zugang zu Mitteln haben noch die politische Motivation, um zu überleben.
Was wird mit denen geschehen, die scheitern? Die Auswanderung aus Kuba war für ziemlich lange Zeit ein Sicherheitsventil. Aber zu emigrieren ist eine schwierige bürokratische Prozedur und sehr teuer. Auf Kuba gibt es keine Reisefreiheit.
Bisher wurden Unzufriedenheit und Abscheu über das politische System bis zu einem gewissen Grad in kriminelle Aktivitäten gelenkt. Besonders vielversprechend hinsichtlich der Alternativen ist die außerordentlich große Entfremdung der Jugend, vor allem der schwarzen Jugendlichen. Es gibt eine Hiphop-Bewegung auf Kuba, die den Abscheu der jungen Schwarzen insbesondere gegen Polizeischikane und Polizeiübergriffe ausdrückt.
Frustration und Entfremdung der Jugend könnte sich also in politischem Protest äußern. Aber ich möchte nicht wie so viele Linke voraussagen, was passiert, weil wir uns wünschen, dass es passiert. Leider entwickeln sich die Dinge nicht so.
Aber die objektive Möglichkeit der Radikalisierung und eines höheren Niveaus des Kampfes wird sich deutlich erhöhen mit dieser Art von Maßnahmen, die das Regime jetzt ergreift. Da habe ich keinen Zweifel.
Die Fragen stellte Alan Maass
Zum Text: Der Text erschien zuerst auf Amerikanisch bei www.socialistworker.com. Aus dem Amerikanischen von Rosemarie Nünning
Zum Autor: Samuel Farber ist langjähriger Sozialist. Er wurde auf Kuba geboren und wuchs dort auf. Er ist Verfasser unzähliger Artikel und Bücher über das Land. Zuletzt erschienen ist das Buch »The Origins of the Cuban Revolution Reconsidered«.
Video (Auf Englisch)
Foto: Gone with Camera roll (be back with her)
Schlagwörter: Kuba, Kubanische Revolution, Sozialismus