Den Komponisten Richard Wagner auf seine antisemitischen Auslassungen zu reduzieren, ist zu einfach. In jungen Jahren war er ein bürgerlicher Revolutionär und musikalisch ebnete er den Weg in die Moderne. Von Simon Behrman und Rosemarie Nünning
Die musikalischen Dramen Richard Wagners, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, zählen zu den bekanntesten Werken der klassischen Musik. Sie werden regelmäßig in allen großen Opernhäusern aufgeführt und die Eintrittskarten sind sofort ausverkauft. Dennoch bleibt Wagner ein höchst umstrittener Künstler. Für viele sind er und seine Musik untrennbar mit Antisemitismus und Nationalsozialismus verknüpft.
In Israel dürfen seine Werke faktisch nicht aufgeführt werden. In nahezu allen Dokumentationen über Hitler wird Wagner als ein geistiger Ziehvater des nationalsozialistischen Deutschlands und Hitlers Hingabe an die Werke des Komponisten erwähnt. Tatsächlich gibt es bedauerlicherweise auf vielen Ebenen Verbindungen zwischen Wagner und den Nazis, dennoch wäre es zu einfach, sein Leben und Werk nur als eine Art Vorläufer des Faschismus zu betrachten. Vor allem wird dies den wirklich revolutionären Aspekten in Wagners Leben nicht gerecht.
Europäische Musik in der Krise
Als Richard Wagner in den 1840er Jahren die musikalische Bühne betrat, befand sich die europäische Musik in der Krise. Das Erbe Beethovens warf einen langen Schatten. Mit ihm schien Musik als Ausdruck großer Themen und heroischer Ereignisse seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Die Nachfolger, wie Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann, wendeten sich daraufhin sehr viel intimeren Formen zu. Auf der anderen Seite wurden volkstümlichere Komponisten wie Gioachino Rossini, Giacomo Meyerbeer und Niccolò Paganini berühmt.
Das Zeitalter einer Musik, die einer in Bewegung geratenen Geschichte Ausdruck verleiht, schien sein Ende erreicht zu haben. Diese Entwicklung spiegelt den Niedergang der großen europäischen Revolutionszeit wider, die im Jahr 1789 begonnen und mit Napoleons endgültiger Niederlage im Jahr 1815 geendet hatte.
Wagner, der »rote Demokrat«
Anfangs experimentierte Wagner mit verschiedenen Kompositionsstilen, meist in Anlehnung an die italienische und französische Oper. Er hatte sich inzwischen auch einen Namen als Kapellmeister der Dresdner Hofoper gemacht. Politisch radikalisierte er sich, er schloss Freundschaft mit dem Anarchisten Michael Bakunin, der sich seinerzeit in Dresden aufhielt, sowie dem Musikdirektor August Röckel und dem Architekten Gottfried Semper, beides überzeugte Republikaner. In Dresden war Wagner bald als »der rote Demokrat« bekannt.
Als im Jahr 1848 erneut die Revolution in Europa ausbrach, erfasste sie im Mai 1849 auch Dresden. Wagner warf sich an vorderster Stelle in den Aufstand. Er verteilte Flugblätter und hielt Wache auf dem Dresdner Kreuzturm. In den Akten des Justizministeriums wurde seinerzeit die Beschuldigung erhoben, Wagner habe seinen Garten zur Verfügung gestellt, um dort »Besprechungen über Volksbewaffnung zu halten«, gemeinsam mit Röckel Handgranaten bei einem Gelbgießer bestellt und Semper zum Bau besserer Barrikaden angeregt.
In einem Gedicht schrieb er unmittelbar nach dem Aufstand: »Schwört bei den frischen Hügeln, hebt die Rechte: / Zu dulden nicht mehr Herren oder Knechte. / Als Menschen jeden Menschen gleich zu achten, / Als Bruder jeden Menschen zu betrachten.« Nach der Niederschlagung der Revolution musste er ins Exil in die Schweiz fliehen. Später spielte er seine Teilnahme an dem Aufstand herunter.
Antisemitische Wende
In dieser Zeit vollzieht Wagner eine politische Wende. Zwei Jahre lang versuchte er, die Niederlage zu verarbeiten. Er veröffentlichte anonym einen Artikel mit dem Titel »Das Judentum in der Musik«. In diesem scheußlichen antisemitischen Traktat schmäht er jüdische Komponisten wie Mendelssohn-Bartholdy als wurzellos und deshalb unfähig, wahrhaft große Kunst zu schaffen.
Diese, schrieb er, sei national im Charakter und müsse in der Volkstradition wurzeln. Damit vertrat er nun eine Politik der Demoralisation: Für die Niederlage der bürgerlichen Revolution suchte er einen Sündenbock unter den Unterdrückten, anstatt weiter gegen die Unterdrücker zu kämpfen.
Wagners ersehnte Götterdämmerung
Gleichzeitig begann Wagner mit der Arbeit an seinem monumentalen vierteiligen Opernzyklus »Der Ring des Nibelungen«. Auch dieser lässt sich als Antwort auf das Scheitern der Revolution von 1848 interpretieren, weist aber progressivere Züge auf. Es geht um Liebe, Habgier und Verrat. Im Mittelpunkt dieser Sage steht der Diebstahl von Gold. Das Gold lag auf dem Grund des Flusses Rhein und wurde wegen seiner Schönheit gehütet und angebetet.
Die Figur des Nibelungen Alberich entsagt der Liebe, um das Gold zu entwenden und seine Macht zu entfesseln. So schwingt er sich zum Herrscher seiner Gefährten, der Nibelungen, auf. Das Zwergenvolk, das tief unter der Erde in Nibelheim lebt, muss nun unter seiner Knute das Gold verarbeiten. Die Musik, die die Sklavenarbeit begleitet, ist inspiriert von den metallischen Geräuschen des Londoner Hafens, den Wagner besichtigt hatte. Laut seiner Ehefrau Cosima habe er festgestellt: »Der Traum Alberichs ist hier erfüllt, Nibelheim, Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall der Druck des Dampfes und Nebel.«
Im »Ring« wird das Gold noch weiter entwertet, als der kriegerische Gott Wotan damit den Bau der Götterburg Walhalla bezahlt. Wotan kann jetzt die Herrschaft der Götter über die Welt errichten und die Natur dem Gesetz unterordnen. Am Ende des Epos wird die Herrschaft der Götter und der Habgier gestürzt (die Götterdämmerung) und die Menschheit kann sich mit der Natur versöhnen. Kein Wunder, dass George Bernard Shaw den »Ring« als eine antikapitalistische Parabel begriffen hat.
Revolution und Reaktion
Wagner verbindet in seiner Reaktion auf die gescheiterte Revolution von 1848 einen romantischen Antikapitalismus, der sich auf eine mythische vergangene Naturwelt bezieht, mit einem aggressiven Ultranationalismus. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und das Scheitern der Revolution danach brachten ein ähnliches ideologisches Gebräu und den Nationalsozialismus hervor. Die Identifizierung der Nazis mit Wagner ist deshalb kein Zufall.
Diese Nähe wurde noch unterstrichen durch die enge Verbindung der Wagner-Familie mit dem Naziregime, weshalb Wagner und die Nazis als Teil eines dem Wesen nach deutschen Antisemitismus gesehen werden. Kurioserweise waren zwei wichtige Akteure bei der Herstellung dieser Verbindung aber britischer Herkunft: Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der ein einflussreiches Werk des Rassenantisemitismus schrieb, und seine (erst nach Richard Wagners Tod geborene) Schwiegertochter Winifred Wagner, die zur persönlichen Freundin Hitlers wurde.
Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Wagner und den Nazis: Hitler und seine Partei waren immer Reaktionäre und überzeugte Feinde einer Revolution gewesen. Wagner hatte zunächst mit Leib und Seele für die Revolution gekämpft und sich erst später zu einem politischen Reaktionär entwickelt. Der Konflikt zwischen revolutionärer Politik, Enttäuschung über ihr Scheitern und dem Sog der Reaktion ist ein faszinierendes Motiv in Wagners Schaffen und insbesondere im »Ring«. Mit diesem Werk erneuerte Wagner eine Tradition, die mit Beethoven untergegangen war: Die Musik als Ausdrucksmittel für große historische Themen.
Wagner strebt nach dem Gesamtkunstwerk
Wagners spätere Arbeiten waren geprägt von seinem Streben, das »Gesamtkunstwerk« zu schaffen. Diese Idee umfasste zwei Aspekte: Erstens versuchte er verschiedene Künste – Musik, Drama, Prosa – in einer einzigen ausdrucksvollen Form zu vereinen. Zweitens wollte er die Trennung zwischen Kunst und Alltagsleben überwinden. Wagner beschrieb seine Werke als einen Spiegel, den er dem Publikum vorhalte und durch den die Menschen ihre Welt besser verstehen könnten.
Die volkstümlichen Themen in vielen seiner Werke sollen deshalb nicht einfach nur ein Blick in eine mythische Vergangenheit sein, sondern die Spannungen im Herzen der modernen Gesellschaft beleuchten. Mithilfe der Welt der nordischen Mythen kritisiert er im »Ring« den modernen Kapitalismus. In »Parsifal«, seinem letzten Werk, bedient sich Wagner der Legende vom christlichen Heiligen Gral, um das allgemeinere Thema der verlorenen Unschuld und der Erlösung zu behandeln. Ein weiteres Leitmotiv in »Parsifal« ist die Frage von Rasse und Blutreinheit. Zu dieser Zeit hatte der Rassismus bereits die Revolution als Hauptthema seiner Kunst ersetzt.
Wegbereiter der Moderne
Und dennoch setzt Wagner mit »Parsifal« die musikalische Revolution fort, die er mit dem »Ring« begonnen hatte. Auch »Tristan und Isolde«, eine Feier der erotischen Liebe, wies über den ausgeprägten Romantizismus in Beethovens Spätwerken hinaus. Der berühmte, unaufgelöste Einleitungsakkord aus »Tristan« öffnet die Tür zur Atonalität und der modernen Klassik des 20. Jahrhunderts. »Parsifal« regte den französischen Komponisten Claude Debussy zu seinem ätherischen Stil an. Ironischerweise war die »Neue Musik«, die die Nazis später als »entartete Musik« verboten, die logische Folge von Wagners Revolution in der Musik. Das verdeutlicht, dass Wagner immer ein künstlerischer Revolutionär war, egal wie reaktionär er politisch wurde. Hitlers Verehrung für Wagners Werke und die gleichzeitige mörderische Kampagne gegen die »entartete Kunst« belegen nur das Banausentum der Nazis.
Es kann nicht darum gehen, Wagners Kunst und Politik völlig getrennt zu betrachten. Gerade bei jemandem, der so dezidiert seine Ansichten über die Welt in seine Kunst gegossen hat, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Leidenschaften und Widersprüche machen ihn zweifellos zu einem unangenehmen Zeitgenossen, sowohl wegen seiner politischen Einstellung als auch wegen seines persönlichen Lebens. In seinen Werken jedoch schlägt sich das auf bewegende Weise nieder, in der Wahl der Themen, der sinnlichen und hypnotischen Komposition, der spannenden Erzählung.
Wagner der Mensch und Wagner der Künstler sind zu komplex und faszinierend, um ihn den Kleingeistern des Faschismus zu überlassen.
Zu den Personen:
Rosemarie Nünning ist Mitglied der LINKEN in Berlin. In ihrer spärlichen Freizeit hört sie gern klassische Musik.
Simon Behrman ist Verfasser des Buches »Shostakovich: Socialism, Stalin & Symphonies« (Redwords 2011). Er schreibt regelmäßig für die englische Zeitschrift »Socialist Review«.
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Schlagwörter: Antisemitismus, Faschist, Faschisten, Hitler, Kultur, Musik, Nationalismus, Nationalsozialismus, Nazi