Die Weltmeisterschaft in Katar läuft wie erwartet super. Unser Autor nimmt uns mit auf eine Reise durch die Untiefen bürgerlicher Moral. Eine Glosse von Daniel Kipka-Anton
Unsere Reise beginnt in Köln. Im »Supermarkt-Check« der Menschenrechtsorganisation Oxfam schneidet die Rewe-Kette, mit Hauptsitz in der Karnevalsmetropole, als Vorletzter der großen deutschen Lebensmitteleinzelhändler ab. Systematische Tarifflucht, kontinuierlicher Abbau der betrieblichen Mitbestimmung und die Missachtung von Arbeits- und Menschenrechten in den Lieferketten haben dem Konzern diesen Spitzenplatz beschert.
Weiter geht die Reise nach Ankara. Denn fast zeitgleich zur bedeutungsschwangeren Verkündung des Rewe-Konzerns, die sowieso bald auslaufende Marketing-Partnerschaft mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sofort zu beenden, weil diese doch nicht mit der »One Love« Armbinde aufläuft, befindet sich Innenministerin Nancy Faeser in der Türkei, um mit der einer Regierung Shakehands zu betreiben, die währenddessen Kurd:innen in Nordsyrien bombardieren lässt.
Auf nach Katar!
Zusammen mit Faeser fliegen wir weiter nach Katar, um dem ersten Vorrundenspiel der deutschen Mannschaft beizuwohnen. Die unbeugsame Innenministerin trägt zum Spiel eben jene nichtssagende »One Love«-Armbinde, die sich die Millionäre unten auf dem Platz aufgrund der Androhung einer gelben Karte durch die Fifa nicht zu tragen trauen. Auf der Ehrentribüne gibt es dann gemeinsame Fotos mit Gianni Infantino, dem Boss ebendieser Fifa, der feixend auf Faesers Armbinde zeigt.
Harry Kane spotted wearing £520,000 'rainbow' Rolex watch at World Cup after armband ban. pic.twitter.com/0dYpmYvz3x
— SPORTbible (@sportbible) November 25, 2022
Ganz mutig: Der englische Spieler Harry Kane protestiert gegen die Unterdrückung seiner moralischen Werte
Die Millionäre auf dem Platz liefern nach einer platten Geste für die Fotograf:innen – mit der sie ausgerechnet sich selbst zum Opfer stilisieren – im durch riesige Klimaanlagen auf angenehme 24 Grad Celsius heruntergekühlten Khalifa International Stadion eine Grottenleistung ab – also quasi doch noch ein sportlicher Boykott. Gebaut wurde das Stadion, wie alle bei dieser WM, von Gastarbeiter:innen aus Nepal, Indien, Bangladesch, Sri Lanka und anderen fernen Ländern. Tausende starben dabei. Die Geldgeber für den Bau sitzen derweil in den hohen Türmen nahe dem schönen Mainufer in Frankfurt, darunter Deutsche Bank und Commerzbank.
Von Bangladesch zum Tegernsee
Doch bevor es für uns zurück nach Deutschland geht, machen wir noch einen Abstecher nach Bangladesch. Denn dort kommen nicht nur die Bauarbeiter:innen her, sondern auch die Trikots der Millionäre, mit denen sie durch die schicken neuen Stadien rennen, für Produktionskosten von unter 10 Euro pro Stück hergestellt – den Stundenlohn der Näher:innen kann man sich ausmalen.
Nach dem kleinen Rundflug landen wir vergnügt am Tegernsee, wo der Millionär, vorbestrafte Steuerhinterzieher und ehemalige FCB-Präsident Uli Hoeneß verlauten lässt, dass es der Nationalmannschaft an Mut gefehlt habe, der Fifa mit dem bunten Armband die Stirn zu bieten. Derweil verlängert der FC Bayern seinen dreistelligen Millionen-Deal mit Katar – ein Sponsoring-Vertrag, den einst Hoeneß ausgehandelt hat.
Zurück in Berlin atmen wir einmal durch und verdrängen für eine Sekunde die Bilder von Wirtschaftsminister Robert Habeck, der sich vor wenigen Wochen noch vor den Herrschern des Emirats verbeugte, um nun mit geschwollener Brust zu verkünden: »Ich hätte die Armbinde getragen«.
Shitshow bürgerlicher (Doppel)-Moral
Ein wenig müde nach dieser hochflexiblen Tour de Moral durch die Welt des Fußballs, halten wir nüchtern fest: Die gesamte Posse dieser WM ist eine einzige Shitshow bürgerlicher (Doppel)-Moral. Wie sollte es auch anders sein in einem Profisport, der darauf angewiesen ist, den Überbietungswettbewerb um TV-Gelder, Trikotverkäufe, Spieler:innengehälter und Transfersummen in immer absurdere Dimensionen zu treiben, um nicht unterzugehen?
Jede moralische Kritik von herrschenden Politker:innen, Konzernbossen und erst recht Bayern-Präsidenten an dieser WM ist, milde gesagt, mehr als wohlfeil. Solange ihr Handeln derselben Maxime folgt, wie das der Kataris (Profit um jeden Preis), können sie sich ihre Armbinden sonstwo hinstecken.
Der einzig echte und glaubwürdige Protest gegen die WM kommt von den Fans, die den internationalen Fußballsport lieben, aber diesem Turnier halbleere Stadien und unterirdische Einschaltquoten bescheren. Denn sie merken: Katar 2022 ist vielleicht eine offensichtliche Fehlvergabe, aber das kranke System des marktgetriebenen Profifußballs ist in jedem Land ein Problem. Das war 2014 so, als Indigene in Brasilien für den Bau von Hotels vertrieben wurden. Das war 2018 so, als die WM dem auch damals schon autokratisch herrschenden Imperialisten Putin eine Bühne bot. Und es wird 2026 wieder so sein, wenn die WM unter anderem in den USA stattfinden wird – der wohl moral-freiesten Nation überhaupt. Die Frage ist: Wird es genügend Armbinden geben, um dem etwas entgegenzusetzen?
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