Brandanschläge, Morddrohungen – und eine Ermittlungsquote von null Prozent. Wiederholt sich in Neukölln die Kumpanei zwischen Nazis und Behörden wie beim NSU? Ein Interview mit Ferat Kocak
Während dieses Interview zur Autorisierung bei Ferat Kocak vorlag, brannten erneut drei Autos, eins davon in seinem unmittelbaren Umfeld in Neukölln.
marx21: Anfang August hat die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen in einer Serie rechter Anschläge in Berlin-Neukölln übernommen. Warum?
Ferat Kocak: Einer der mutmaßlichen Täter dieser Anschlagsserie hat 2017 in einer Vernehmung von einem leitenden Staatsanwalt gesagt bekommen, dass er sich keine Sorgen machen müsse, weil er als AfD-Mitglied auf seiner Seite sei. Das hat der mutmaßliche Täter einem anderen AfD-Mitglied per Messenger mitgeteilt. Von diesem Chat erfuhr die Staatsanwaltschaft in den Ermittlungen nach einem Anschlag auf mich 2018. An die Öffentlichkeit kam das, weil meiner Anwältin die Akteneinsicht in der Anschlagssache verweigert wurde. Sie erhob eine Fachaufsichtsbeschwerde gegen den leitenden Staatsanwalt und nachdem die Generalstaatsanwältin sich den Fall angesehen hatte, zog sie ihn jetzt an sich.
Was sagst Du zu diesem Vorgang?
Wir wissen schon lange, dass es Verbindungen zwischen Polizisten und der rechten Szene in Neukölln gibt. Dieser Vorgang zeigt jetzt, dass wir ein rechtes Problem nicht nur in der Exekutive, sondern auch in der Judikative haben. Und das kam allein deshalb heraus, weil wir die ganze Zeit den Finger in die Wunde gelegt haben. Wir brauchen dringend einen Untersuchungsausschuss über rechte Strukturen in den Ermittlungsbehörden.
Um die Größe des Problems zu verstehen: Die fragliche Anschlagsserie hält seit über einem Jahrzehnt an. Wie viele Anschläge zählt Ihr insgesamt?
Die Serie teilt sich in zwei Zeiträume mit einer kurzen Pause dazwischen. Allein in der zweiten Serie seit 2016, in der auch ich zum Ziel geworden bin, nennen die Behörden offiziell 70 Anschläge, davon viele Brandanschläge.
Rechter Terror in Neukölln
Der allererste Anschlag galt einem chilenisch-deutschen Freundschaftsverein in Gropiusstadt. Später traf ein Brandanschlag das Haus der sozialdemokratischen Jugendorganisation Falken in Neukölln. Es kam nur durch Glück niemand ums Leben, weil eine geplante Übernachtung mit vielen Kindern spontan vorher abgesagt worden war. Diese Adresse stand auch auf der Terrorliste des NSU.
Würdest Du den Begriff Terror für das verwenden, was in Neukölln passiert?
Ja. Bei den Brandanschlägen wird in Kauf genommen, dass Menschen sterben. Zudem gibt es viele Morddrohungen. Außerdem gibt es weitere Angriffe wie die Entwendung von Stolpersteinen, die an Opfer des NS-Regimes erinnern. Aus Sicht der Täter soll das alles zeigen: Wir sind hier und wir sind gegen euch. Sie wollen Angst machen und einschüchtern.
Gibt es Unterschiede zwischen den beiden Anschlagserien?
Ja. Die erste Anschlagsserie, die vor allem in Südneukölln stattfand, zielte immer auf Einzelpersonen, mit dem Ziel, sie einzuschüchtern. Die zweite Serie, jetzt auch in Nordneukölln, soll eine gesamte Community einschüchtern. Neben Hakenkreuzmarkierungen finden wir auch Parolen wie »Ausländer raus« an arabischen oder türkischen Geschäften. Die Polizei spricht aber nur von »Schmierereien«. Da fängt das Problem an: Der Terror wird nicht als Terror wahrgenommen.
Gab es jemals Hinweise auf die Täter?
In meinem Fall schon, in allen anderen Fällen nicht. Antifa-Recherchen zeigen aber, dass eine bestimmte Tätergruppe schon seit der ersten Serie involviert ist. In meinem Fall gibt es konkrete Hinweise, weil beide mutmaßlichen Täter schon länger dabei abgehört worden waren, wie sie versucht haben, herauszufinden, wo ich wohne.
Werden Spuren übersehen?
Die Polizei hat die Betroffenen in den anderen Fällen immer damit abgefertigt, dass die Täter so schlau seien, keine Spuren zu hinterlassen. Von den Betroffenen selbst dagegen gibt es immer wieder Hinweise, dass die Polizei Spuren gar nicht aufgenommen hat. Ohne Beweismittel ist es natürlich schwierig, auf die Täter zu kommen.
Hatten die Anschläge bisher irgendwelche Folgen für die mutmaßlichen Täter?
Nein. Wir sprechen in einer seit über zehn Jahren andauernden Terrorserie von einer Ermittlungsquote von null Prozent. Jetzt gibt es ein Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter in meinem Fall, aber wegen eines geringeren Delikts: Sie sind bei diesen sogenannten Schmierereien beobachtet worden. Ansonsten sind die mutmaßlichen Täter immer davongekommen, obwohl der Täterkreis bekannt ist.
Lass uns über den jüngsten Anschlag reden: Im Juli brannte ein Lieferwagen vor einer syrischen Bäckerei aus. In welche Richtung ermittelte die Neuköllner Polizei?
Ich muss kurz ausholen: Seit dem Anschlag auf mich mache ich eine Social-Media-Kampagne, in der ich alles über diese Terrorserie selbst sammle und poste, um die Neuköllnerinnen und Neuköllner zu informieren. Deswegen war ich noch am selben Tag vor der Bäckerei und habe den Lkw und die Hakenkreuzmarkierungen gefilmt. Die Sicherheitsbehörden haben diese Markierungen angeblich nicht gesehen. Danach hat mich die Polizei angerufen und gefragt, ob die Markierungen auch nach dem Anschlag angebracht worden sein könnten. Ich wurde als Zeuge vorgeladen und befragt, woher ich meine ganzen Bilder bekomme.
Polizei macht lieber Razzien in Neukölln
Dann hat ein bekannter Journalist in einem Fernsehinterview die mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus (MBR) gefragt, ob nicht auch arabische Clans, die sich gegenseitig bedrohen, für den Anschlag verantwortlich sein könnten.
Opfer werden zu Tätern gemacht. Das klingt wie eine Wiederholung der NSU-Geschichte.
Genau. Die Polizei sagt zwar, sie ermittle in alle Richtungen, aber nach außen kommuniziert wird über Clan-Kriminalität und nicht über Hakenkreuze. Das belohnt die Nazis doppelt: Sie werden nicht nur nicht erwischt, sondern die Zielgruppe, die sie angreifen, wird zusätzlich unter Beschuss genommen. Das war in meinem Fall übrigens genauso. Die erste Frage, nachdem mein Auto brannte, war, ob das ein türkisch-kurdischer Konflikt sein könnte.
Die Neuköllner Polizei hat unterdessen mit öffentlichkeitswirksamen Razzien gegen die sogenannte Clan-Kriminalität Schlagzeilen gemacht. Was weißt Du über die Ergebnisse dieser Razzien?
Es handelt sich hierbei eigentlich um Angelegenheiten des Ordnungsamtes. Die Ergebnisse sind unverzollter Tabak, erhöhte Kohlenmonoxid-Werte, die direkt an der Glut der Shisha gemessen werden, und ähnliche Delikte. Seit zwei Jahren werden diese Razzien ohne Ergebnisse, die diese Polizeieinsätze begründen könnten, fortgeführt.
Wenn Du den Aufwand gegenüber den Anschlägen und der Clan-Kriminalität vergleichst: Wie bewertest Du die Prioritäten der Polizei?
Wäre mit demselben Einsatzwillen gegen Nazis vorgegangen worden wie gegen mutmaßlich kriminelle arabisch-kurdische Familien, dann hätten wir wohl kein Nazi-Problem mehr im Bezirk. Die Priorisierung der Polizei ist immer zugunsten einer Negativbilanz bei den Ermittlungen gegen Rechts.
Du hast den Brandanschlag auf Dich von vor zwei Jahren ja schon erwähnt. Der Verfassungsschutz hatte die mutmaßlichen Täter vorher beobachtet und die Polizei informiert. Diese unternahm aber nichts. Das klingt unglaublich – kannst Du bitte kurz erzählen, was Du inzwischen darüber weißt?
Die mutmaßlichen Täter waren über längere Zeit vom Verfassungsschutz observiert worden. Man wusste die ganze Zeit, dass ich ein Anschlagsziel bin. Es gibt Tonbänder, auf denen festgehalten ist, wie sie versuchen, herauszufinden, wo ich wohne. Und es gibt Tonbänder, die nachweisen, dass sie das herausgefunden haben. Trotzdem wurde ich von der Polizei nicht gewarnt. Die Begründungen dafür sind mir schleierhaft.
Keine Warnung vor dem Terror
Die erste lautete, dass ich nicht als gefährdet angesehen worden sei, weil ich mich nicht gegen rechts und für Geflüchtete eingesetzt hätte. Das stimmt nicht, ich bin seit 2016 im Bündnis Aufstehen gegen Rassismus aktiv und habe in meinen Social-Media-Accounts immer klar Position gegen rechts bezogen.
Die zweite Begründung war, dass der Polizeicomputer mich nicht identifizieren konnte, weil die mutmaßlichen Täter meinen Namen falsch geschrieben hätten. Auch das ist Unsinn, der Polizeicomputer findet auch ähnliche Namen, das hat ein Journalist inzwischen auch überprüft.
Die dritte Ausrede hieß dann, beim Verfassungsschutz ginge Quellenschutz vor Opferschutz. Aber der Verfassungsschutz hat nach eigener Aussage freigegeben, dass ich geschützt hätte werden können.
Die Polizei hat also bis heute keine einleuchtende Erklärung dafür geliefert, warum sie Dich nicht gewarnt hat?
Nein. Es gab sehr viele Begründungen, aber sehr einleuchtend und überzeugend waren sie nicht, da sie sich im Ansatz schon selbst widerlegen.
Hat sich die Polizei jemals dafür entschuldigt?
Nein.
Viele Menschen würden sich, wenn sie sich bedroht fühlen, instinktiv an die Polizei wenden. Und Du?
Ich werde bedroht. Ich bekomme ständig Anrufe und Droh-SMS, weil die Nazis meine Handynummer herausgefunden haben. Auch über Social Media werde ich bedroht. Das meiste davon sende ich an die Polizei. Aber sicher fühle ich mich nicht, seitdem ich weiß, dass die Polizei mich hätte warnen können, aber nichts getan hat.
Angst vor der Polizei
Meine Angst hat sich verschoben von den Nazis hin zu den Sicherheitsbehörden. Das ist ein Riesenproblem. Ich habe Angst, wenn vor dem Haus meiner Eltern ein Polizeiwagen steht. Das soll kein Generalverdacht sein, aber ich weiß ja nicht, wer da drin sitzt. Das geht nicht nur mir so, weil ich diesen Anschlag erlebt habe.
Was meinst Du damit?
Ich glaube, von Rassismus Betroffene fühlen sich generell nicht sicher gegenüber der Institution Polizei. Das fängt schon beim Racial Profiling bei Polizeikontrollen an. Kürzlich kam heraus, dass ein Polizist, der während der ersten Anschlagsserie Informationen an den Täterkreis weitergegeben hat, einen Geflüchteten zusammengeschlagen und rassistisch beleidigt hat. Der leitende Staatsanwalt, von dem ich schon gesprochen habe, hat den Aspekt des Rassismus aus der Anklageschrift gelöscht. Inzwischen wurde der Geflüchtete mit dem Segen des Innensenators abgeschoben, ohne dass der Fall aufgeklärt wurde. Ein Skandal reiht sich an den nächsten und der Innensenator kommt nicht voran mit immer neuen Ermittlungsgruppen. Die logische Folge ist, dass wir uns überlegen, wie wir uns selbst schützen. Ich will nicht paranoid klingen, aber wir wissen aus der NSU-Geschichte, dass eine ganze Reihe von Zeugen auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind.
Was gibt Dir Schutz und Sicherheit in Deiner Situation?
Die Öffentlichkeit. Ich bin auch deswegen so aktiv, weil ich den Schutz in der Öffentlichkeit suche. Ohne würde ich mich schlecht fühlen. Direkt nach dem Anschlag auf mich haben Gruppen wir das Bündnis Neukölln gegen rechts und Aufstehen gegen Rassismus Kundgebungen organisiert und Opferberatungsstellen wie MBR haben mir erklärt, was sie über die Hintergründe wissen. Das hat geholfen, wieder im Leben anzukommen.
Einzelfälle oder rechter Terror?
So ein Anschlag ist erstmal ein Schock. Er hat nicht nur mich getroffen. Meine Mutter hatte danach einen Herzinfarkt. Ich habe mir selbst Vorwürfe gemacht. Auch meine Partnerin, die ich damals neu kennengelernt hatte, leidet unter der Situation und wird bedroht. Die Öffentlichkeit brauche ich, um weitermachen zu können.
Oft werden rechte Beamte von politisch Verantwortlichen als Einzelfälle heruntergespielt. Wie bewertest Du die Verstrickung von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz in die Neuköllner Anschlagsserie?
Über wie viele Einzelfälle müssen wir reden, bis sie keine Einzelfälle mehr sind? Die Frage ist, ob die Einzelfälle in Verbindung stehen. Wir wissen, dass der Polizist, der Infos an die Nazis weitergegeben hat, auch Verbindungen zur AfD hat. Warum bekommen Aktivisten in Berlin Morddrohungen mit der Unterschrift NSU 2.0. die von einem Polizeicomputer in Hessen verschickt wurden? Darum fordern wir einen Untersuchungsausschuss, um diese Verstrickungen unter die Lupe zu nehmen. Es geht aber nicht nur um Berlin, das brauchen auch andere Bundesländer wie zum Beispiel Sachsen-Anhalt, damit der Tod von Oury Jalloh endlich aufgeklärt wird. Wir müssen die Kontrollfunktion des Parlaments vollständig ausnutzen.
Sind Dir weitere Verbindungen zwischen Polizei und rechten Netzwerken bekannt?
Es gibt zum Beispiel einen Berliner LKA-Beamten, der zum NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen eingeladen wurde, weil er einen V-Mann geführt hatte, der in Sachsen in den Kauf von Sprengstoff für den NSU verstrickt war. Und es gibt auch in Berlin die Tatsache, dass über den Polizeicomputer Daten abgerufen wurden, mit denen Drohungen versendet wurden. Es ist schon krass, was einzelne investigative Journalisten und Antifa-Recherchegruppen alleine zusammengetragen haben. Wieviel würde noch herauskommen, wenn ein Untersuchungsausschuss Einblick in die Akten nehmen dürfte?
Wie erklärst Du Dir die Existenz von rechten Netzwerken in der Polizei?
Die Polizei und auch die Bundeswehr sind Orte, wo Nazis ihren gewalttätigen Nationalismus ausleben können. Sie schützen die Nation, sie haben Zugang zu Waffen, es gibt klare autoritäre Strukturen. Das passt alles in ihr Weltbild. Es ist kein Zufall, dass wir keine linken, sondern rechte Strukturen in der Polizei haben.
Was muss aus Deiner Sicht mit der Polizei passieren, damit Du Dich sicher fühlst?
Wir müssen über die Rolle der Polizei in der Gesellschaft diskutieren. Da sind wir erst am Anfang. Es geht da nicht nur um Nazis. Das ganze Konstrukt ist ein Problem. Und das Eigenleben der Polizei macht es der Politik schwer. Die Leute sitzen zum Teil Jahrzehnte auf ihrem Posten und wollen ihn behalten. Abgeordnete dagegen werden für eine Legislatur gewählt. Ich will die Verantwortung des Innensenators nicht schmälern, aber die Aufgabe ist ein Brocken.
Abschaffung der Polizei
Wir müssen darüber reden, welche Verantwortung wir der Polizei geben wollen und welche nicht. Die Diskussion über die Abschaffung der Polizei in den USA ist genau der richtige Weg. Wir müssen über Alternativen nachdenken, Kriminalität zu bekämpfen. Zum Beispiel über die Freigabe von Cannabis. Im Görlitzer Park wird mit dem Mittel des Racial Profiling gegen eine Kriminalität vorgegangen, die eigentlich keine ist. Was braucht es also an Polizei und was kann man abschaffen? Was wir mit Sicherheit nicht brauchen, sind Geheimdienste. Aber als erstes brauchen wir einen Untersuchungsausschuss, der die Polizeistrukturen vollständig durchleuchtet.
Die Polizei ist dem Innensenator unterstellt. Was forderst Du von ihm?
Eigentlich muss er zurücktreten. Es sind zu viele Skandale, als dass er noch auf seinem Platz sitzen darf. Mindestens muss er in seinem Ressort aufräumen.
Zurück zum Ausgangspunkt: Was hat sich getan, seit die Generalstaatsanwaltschaft übernommen hat?
Erstmal nichts. Meine Anwältin und ich haben jetzt einen besseren Draht zu den ermittelnden Personen, das ist wichtig. Ich hoffe auch, dass wir damit Ermittlungserfolge erzielen können. Aber die Generalstaatsanwaltschaft alleine wird das nicht schaffen.
Interviewpartner:
Ferat Kocak ist stellvertretender Sprecher der LINKEN Neukölln und aktiv im migrantischen Netzwerk in und um die LINKE Links*kanax.
Das Interview führte Jan Maas.
Schlagwörter: Inland, Nazis, Neukölln, NSU, Polizei, rechter Terror