Demonstrationen fordern Wladimir Putins Russland heraus. Sie sind eine Reaktion auf jahrzehntelanges Versagen neoliberaler und stalinistischer Regime – aber sie verdienen eine bessere Führung.
Die Massenproteste in Russland sind eine Reaktion auf Armut, fehlende Demokratie und Ungleichheit unter Wladimir Putins Präsidentschaft.
Verschiedene Quellen weisen nach, dass Russland im Laufe der letzten 30 Jahre zum ungleichsten Land der Welt aufgestiegen ist. Nach einer Studie aus dem Jahr 2017 besitzen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 87 Prozent des gesamten Reichtums des Landes, verglichen mit 76 Prozent in den USA.
Die einfachen Menschen leiden unter steigender Arbeitslosigkeit, aus dem Ruder gelaufenen Covid-Infektionen, mangelhafter Gesundheitsversorgung und fallenden Löhnen.
Repressionen in Russland
Wenn die Menschen ihre Stimme erheben oder demonstrieren, werden sie mit harten Repressionen bedacht.
Während Putins Popularität dahinschmolz, wurden letztes Jahr neue drakonische Gesetze gegen Online-Kampagnen und Straßenproteste und zur Erweiterung der Polizeibefugnisse verabschiedet.
Vor dem Hintergrund bitterer, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 währender Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse ist Alexej Nawalny neuerdings die zentrale oppositionelle Figur gegen Putin.
Auf den Trümmern der Revolution
Das Ende der osteuropäischen Regimes war kein Schritt vom Sozialismus hin zum Kapitalismus. Das System in Russland nach 1928 war eine neue Form von Klassengesellschaft: Staatskapitalismus.
Auf den Trümmern der besiegten Russischen Revolution von 1917 hatte sich die Staatsbürokratie dank ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel zu einer neuen herrschenden Klasse emporgeschwungen.
Daher bedeutete die Einführung der Marktwirtschaft ab den ausgehenden 1980er Jahren eine Reorganisierung des bestehenden Systems, keine soziale Revolution.
Chris Harman, der damalige Herausgeber der britischen Zeitung »Socialist Worker«, beschrieb den Vorgang als »Seitwärtsbewegung« von einer Form des Kapitalismus zu einer anderen. Allerdings waren die marktwirtschaftlichen »Reformen« von massiven Angriffen auf einfache Menschen begleitet.
Neoliberale Erstürmung
Joseph Stiglitz, einst Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank, sprach sich in späteren Jahren gegen die neoliberale Erstürmung Russlands aus.
Er sagte: »Man erzählte den Menschen, dass der Kapitalismus ihnen neuen, ungeahnten Wohlstand bescheren würde.
In Wirklichkeit bescherte er ihnen beispiellose Armut, die sich nicht nur im fallenden Lebensstandard, sondern auch in kürzerer Lebenserwartung und weiteren wichtigen sozialen Indikatoren für Lebensqualität zeigte.
Der Anteil der Armen erreichte zwischen 40 und 50 Prozent, während mehr als ein von zwei Kindern in Familien unter dem Subsistenzminimum lebten.«
Jelzins Balanceakt
Boris Jelzin war der erste postsowjetische Präsident. Sein Herrschaft balancierte zwischen drei Gruppierungen.
Eine Gruppierung bestand aus ehemaligen Mitarbeitern des KGB und weiterer Sicherheitsdienste, die nach wie vor zentrale Schaltstellen in der Regierung besetzten.
Sie misstrauten Jelzin, von dem sie einen Ausverkauf des Landes an den Westen befürchteten. Im Gegenzug versuchte Jelzin sie beiseitezuschieben.
Eine weitere Gruppierung bestand aus Familienmitgliedern und anderen eng Vertrauten. Manche waren eng verbandelt mit den Vertretern des alten Regimes, wollten aber nicht, mit ihnen direkt in Verbindung gebracht werden.
Eine dritte Gruppierung bestand aus den Oligarchen, die sich die lukrativsten Sektoren der russischen Wirtschaft unter den Nagel rissen. Sie profitierten, während die »Schocktherapie« Millionen einfacher Menschen ruinierte.
Die Oligarchen von Russland
Die Oligarchen fraßen sich satt an den Privatisierungen, am Schacher und allgemeinem Wirtschaftschaos, die den Mächtigsten günstige Gelegenheiten boten für Bestechungen und Plünderungen.
Sie waren oft mit dem ehemaligen Kommunistischen Regime verbunden, hielten aber zugleich Ausschau nach Deals mit westlichen Konzernen und Politikern. Man denke an Oleg Deripaska, einstmals Russlands reichster Mann. Im Jahr 2008 kam heraus, dass Peter Mandelson, rechtes Labour Party-Mitglied und EU-Kommissar, sich mit Deripaska auf dessen Superjacht getroffen hatte.
Putin im Konflikt
Mandelson soll Deripaska Handelskonzessionen im Wert von bis zu 50 Millionen britische Pfund pro Jahr gegeben haben. Der damalige Schattenkanzler der Tories traf sich ebenfalls mit Deripaska, und auch deren Hauptspendensammler Andrew Feldman.
Die Oligarchen waren also teilweise mit den übrigen russischen Eliten verstrickt, hatten aber auch Eigeninteressen. Putin, im Jahr 1999 zum Präsidenten gewählt, hatte nur wenig Vertrauen in sie.
Bei der Festigung seiner eigenen Macht geriet er zusehends in Konflikt mit ihnen und liquidierte sie gelegentlich sogar – finanziell oder gar physisch. Das ist mit ein Grund, warum einige unter ihnen ihre Quartiere in London aufschlugen, das sie »Moskau an der Themse« tauften.
Die Wandlungen von Alexei Nawalny
Alexei Nawalny hat sich als ein Politiker herauskristallisiert mit der Fähigkeit, viele der im Volk vorherrschenden Anti-Putin-Stimmungen aufzugreifen. Aber er ist zugleich Sprachrohr mancher Sektoren der Reichen, die von Putin »vergessen« wurden.
Er hat mehrere politische Häutungen hinter sich.
Nawalny begann seine Karriere als klassischer Neoliberaler, der eine grenzenlose Marktliberalisierung forderte. Es sollte alles privatisiert werden und Arbeiterrechte gehörten abgeschafft.
Damit machte er sich nur wenige Freunde. Daher erfand er sich neu als russischen Nationalisten. Im Jahr 2006 förderte er den alljährlichen »Russischen Aufmarsch«, ein Anziehungspol für Antisemiten, Islamophobe und Faschisten.
Die Protestierenden skandieren »Russland für die Russen« und manche Redner pushten homophobe und rassistische Verschwörungstheorien. Auf manchen Demonstrationen, die er unterstützte, wurden Hakenkreuze zur Schau gestellt.
Im Jahr 2011 verglich Nawalmy in einem Video muslimische Migranten mit einer »Kakerlakenplage«.
Rassismus in Russland
Aber das Spielfeld ist mit Nationalisten und Rassisten bereits besetzt. So kam der Faschist Wladimir Schironowski bei den letzten Parlamentswahlen an dritter Stelle. Er genießt breite Unterstützung für sein ekelhaftes Programm.
Der Staat selbst verbreitet Hass gegen Muslime und Minderheiten.
In der Schlacht um Grosny im Jahr 1999-2000, als Putin gerade Präsident wurde, wurde die tschetschenische Hauptstadt vollkommen zerstört. Das sollte Warnung sein an alle Muslime, die ihre Unabhängigkeit vom russischen Staat forderten.
In jüngerer Vergangenheit hat der Staat terroristische Anschläge entweder selbst organisiert oder sie manipuliert, um Muslime zu dämonisieren und eine Erweiterung der staatlichen Befugnisse zu rechtfertigen.
Linkere Positionen
Während einer Protestwelle gegen Putin vor zehn Jahren entdeckte dann Nawalmy, dass linkere Positionen mehr Menschen ansprechen.
Er erweiterte daher seine Ansprache um das elastische Konzept von »Antikorruption«. Nawalmy greift auch solche Themen wie Lohnerhöhungen und bessere Renten für alle auf.
Manchmal wird er als Marionette des Westens porträtiert. Es stimmt, dass Joe Biden die Repression der jüngsten Proteste benutzt hat, um eine aggressivere Haltung gegen Russland als noch unter Trump zu begründen. Mit altbewährter Scheinheiligkeit beeilte sich das US-Außenministerium als Verteidigerin der Demokratie, die Angriffe auf Nawalmys Anhänger zu verurteilen.
Russischer Nationalismus
Aber Nawalmy ist mehr als nur ein Frontmann der USA und des nuklearen NATO-Bündnisses. Gegenwärtig hängt sein politisches Überleben von seiner Fähigkeit ab, russische nationalistische Ansichten zu vertreten.
Das Aufkommen einer genuin linken Opposition gegen Putin wird noch erschwert durch die vielen künstlichen Oppositionen, die im Lauf der Jahre in Erscheinung traten. Diese Gruppierungen vertreten einen scharfen Neoliberalismus oder aber eine Rückkehr zum Stalinismus.
Die letzte bedeutende Protestwelle ereignete sich im Jahr 2011. Es war die »Schneerevolution«, die auf die manipulierten Parlamentswahlen folgte. Darin gelangten drei Personen zur Prominenz, unter ihnen befand sich Nawalmy.
Opposition gegen Putin
Ein weiterer Prominenter war Boris Nemzow, in den 1990er Jahren wichtiger Unterstützer Jelzins und zeitweise Vize unter dessen Präsidentschaft. Er wurde zu einem offenen Kritiker Putins.
Aber seine Opposition basierte auf einer Programmatik der Rückkehr zu den frühen Jahren des ungebändigten freien Marktes, der das Leben so vieler Menschen zerrüttet hatte – das war nicht gerade eine attraktive Perspektive.
Nemzow wurde dann im Jahr 2015 ermordet, zwei Tage vor einer geplanten Demonstration gegen die Auswirkungen der Finanzkrise auf Russland und gegen die russische Einmischung in den Bürgerkrieg in der Ukraine.
Rückkehr zur Sowjetunion
Sergei Udalzow spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Er wird oft als »linker Oppositioneller« gegen Putin gesehen und leitet die Avantgarde der Roten Jugend.
Aber sein Linkstum reduziert sich auf die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur alten Sowjetunion. Udalzow posiert mit Bildern von Stalin und verteidigt die Grausamkeiten der 1930er Jahre, als die Errungenschaften der 1917er Revolution ausradiert wurden.
Seine Linke Front ist die wichtigste parlamentarische Opposition gegen Putin. Sie erreichte 13 Prozent bei den stark kontrollierten und gefälschten Parlamentswahlen im Jahr 2016.
Es gelingt ihr, die Entstehung einer wirklichen Linken zu behindern. In der Regel unterstützt sie Putin, eher als ihn zu bekämpfen. Aber manche Teile der Kommunisten scheinen mittlerweile Nawalny unterstützen zu wollen.
Ideen des Sozialismus
Die mutigen Proteste der letzten Monate verdienen eine viele bessere politische Vertretung als alle die Kräfte, die von sich behaupten, eine Opposition zu sein.
Weder ein reformierter Liberalismus noch eine Rückkehr zum Stalinismus wird das liefern, was die einfachen Menschen brauchen. Die Hoffnung liegt darin, dass mehr Arbeiter sich aktiv beteiligen an den Protesten gegen Putin und seine staatlichen Schergen.
Und darin, dass die echten Ideen des Sozialismus und der Geist von 1917 massenweise eine Wiedergeburt feiern.
Eine Analyse von Socialist Worker, aus dem Englischen von David Paenson.
Foto: Michał Siergiejevicz (CC BY 2.0)
Schlagwörter: Proteste, Putin, Russland