Es gibt viele konkurrierende Erklärungen für den Einmarsch Putins in die Ukraine. Aber die Entscheidung kann nur im Zusammenhang mit der imperialistischen Konkurrenz, die das Weltsystem beherrscht, verstanden werden. Von Tom Bramble
Die Medien und Politiker:innen haben eine Fülle von Theorien über die Invasion in die Ukraine. Einige behaupten, der russische Präsident Wladimir Putin, ein ehemaliger KGB-Agent, versuche, die UdSSR wiederherzustellen, was jedoch angesichts des Zustands der russischen Wirtschaft und des Kräfteverhältnisses in Europa kaum realistisch erscheint. Andere behaupten, Putin sei ein machthungriger Verrückter, der möglicherweise durch COVID-19 in den Wahnsinn getrieben wurde, als ob die Invasion auf die Launen eines Einzelnen zurückzuführen wäre. Dann gibt es noch die Erklärungen, die in einigen linken Kreisen kursieren: dass Russland angeblich zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen wurde, weil die Einkreisung durch die Nato ihm keine andere Wahl ließ, und dass der Einmarsch daher irgendwie verständlich ist.
In Wirklichkeit handelt es sich um einen Akt imperialistischer Aggression, der im Zusammenhang mit den umfassenderen Spannungen zwischen konkurrierenden Weltmächten zu verstehen ist. Der russische Revolutionär Wladimir Lenin vertrat vor 100 Jahren die Ansicht, dass der fortgeschrittene Kapitalismus von Konflikten zwischen den Großmächten heimgesucht wird, von denen jede einen größeren Anteil an den Weltmärkten und der Macht an sich reißen will, was aus der konkurrenzgetriebenen Dynamik des Kapitalismus resultiert. Imperialistische Länder fallen in schwächere Nationen ein und versuchen, ihre Herrschaft über sie zu erzwingen. Sobald die Welt unter den Großmächten aufgeteilt ist, kann der Gewinn des einen Imperialisten nur auf Kosten des anderen gehen. Das ist auch heute der springende Punkt.
Russland ist eine relativ schwache Macht unter den dominierenden imperialistischen Nationen. Seine Schwäche macht es aggressiver, denn Imperialisten niedrigerer Ordnung können ihren Status nur verbessern, indem sie den Status quo stören. Wenn es Russland gelingt, die Ukraine zu seinem Satelliten zu machen, wird das seine globale Macht stärken und es in der imperialistischen Hierarchie aufsteigen lassen. Dies bedeutet jedoch aus der Sicht der Herrschenden, dass sie in den Krieg ziehen müssen.
Die USA machen sich das Scheitern Russlands zunutze
Die USA und die Nato können dagegen den Anschein erwecken, sich defensiv zu verhalten, indem sie einfach den Status quo gegen eine militärische Aggression aufrechterhalten. Aber ihre scheinbar defensive Haltung ist nur deshalb so, weil die USA und ihre engen Verbündeten bereits große Teile der Welt kontrollieren. Die so genannte »regelbasierte internationale Ordnung«, die die USA nach eigenen Angaben aufrechterhalten, ist nur ein anderer Name für die wirtschaftliche, rechtliche und finanzielle Hegemonie Amerikas, wobei die »Regeln« zu ihrem Vorteil geschrieben wurden. Diese »Ordnung« erlaubt es den USA oft, andere Nationen in die Knie zu zwingen, auch ohne ihr Militär zu mobilisieren. Obwohl sie natürlich, wie im Irak und in Afghanistan, auch das tut.
China hat Russland als größte Herausforderung für Amerikas »regelbasierte Ordnung« abgelöst, aber auch Russlands Versuch, seinen früheren Ruhm wiederherzustellen, ist eine Herausforderung. Auch wenn diese Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Imperialisten nicht automatisch zu einem Krieg zwischen ihnen führen, muss der imperialistische Wettstreit unser Verständnis der aktuellen Situation in Europa und der zunehmenden Spannungen in Asien prägen.
Wladimir Putin, der 1998 zum Ministerpräsidenten ernannt und 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, war entschlossen, den Zusammenbruch der russischen Macht, der in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion einsetzte, aufzuhalten. Ende 1999 ließ er die Armee in Tschetschenien einmarschieren, um den dortigen nationalen Widerstand zu zerschlagen. Tausende starben, aber die russische Herrschaft wurde wiederhergestellt. Steigende Öl- und Gaspreise in den 2000er Jahren kurbelten die russische Wirtschaft an und halfen der Regierung, eine der größten Devisen- und Goldreserven der Welt aufzubauen. Das Wirtschaftswachstum bis 2014 ermöglichte es Moskau, mehr Geld für sein Militär, insbesondere sein Atomwaffenarsenal, auszugeben. Es verschaffte Putin auch Unterstützung in Teilen der Bevölkerung, insbesondere bei Rentner:innen, die die »hungrigen 1990er Jahre« erlebt hatten und nun höhere Renten genießen, und festigte eine Schicht loyaler Oligarchen und hoher Staatsbeamter. (Lies hier den marx21-Artikel »Russland: Ist Putinland abgebrannt?«.)
Die russische Armee in Syrien
Diese Entwicklungen ermöglichten es Putin, seinen Einfluss über Russlands Grenzen hinaus auszubauen. In Syrien pulverisierte die russische Luftwaffe 2015 in enger Zusammenarbeit mit iranischen Regierungsmilizen die Rebellen, die sich gegen den diktatorischen Präsidenten Bashir al-Assad erhoben hatten. Tausende von Zivilist:innen starben durch die Bombardierung und Millionen wurden vertrieben. Der dankbare Assad gab Russland die Erlaubnis, seinen Marinestützpunkt im Hafen von Tartus auszubauen, um ihn für größere Kriegsschiffe zu rüsten. In Libyen stellte sich Russland im selben Jahr hinter einen mächtigen Kriegsherrn, General Khalifa Haftar, den Chef der libyschen Nationalarmee und Rivalen der von der Nato unterstützten Regierung in der Hauptstadt Tripolis. Russland hofft, Haftar durch seine militärische Hilfe dazu zu bewegen, ihm Zugang zu den libyschen Tiefseehäfen sowie zu den beiden Luftwaffenstützpunkten zu gewähren, die Russland bereits nutzt.
Eine russische Söldnerfirma, die Wagner-Gruppe, die von dem engen Putin-Verbündeten Jewgeni Prigoschin geleitet wird, fungiert als verlängerter Arm der russischen Militärmacht in Afrika. Die Wagner-Gruppe bildet die Armeen mehrerer afrikanischer Regierungen im Umgang mit den von Russland gelieferten Waffen aus, bekämpft aktiv islamistische Kräfte, die zu einer Bedrohung für diese Regierungen geworden sind, und stellt loyalen Präsidenten und Premierministern Leibwächter und Sicherheitsberater zur Seite. Diese stehen im Dienste der russischen Oligarchen und schützen deren Investitionen in die Rohstoffindustrie des Kontinents, einschließlich Diamanten, Gold und Gas. Russland verfügt über eines der tödlichsten Atomwaffenarsenale der Welt und ist einer der größten Waffenlieferanten der Welt. Auf Russland entfallen mehr als 60 Prozent der indischen Waffenimporte; China, Vietnam und der Irak sind ebenfalls große Abnehmer. Russlands Ölexporte verschaffen dem Land Einfluss in der OPEC.
In dem Bestreben, ein Gegengewicht zu den USA zu schaffen, hat sich Russland um engere Beziehungen zu China bemüht und am Vorabend der diesjährigen Olympischen Winterspiele in Peking verkündeten die Präsidenten Putin und Xi demonstrativ, was sie als »grenzenlose Freundschaft« bezeichneten. Russland hat auch versucht, das politische Establishment Europas zu untergraben, indem es eine Reihe von rechtsgerichteten Personen und Parteien unterstützte, darunter Marine Le Pen in Frankreich und die Alternative für Deutschland in Deutschland sowie Ungarns »starker Mann«, Ministerpräsident Viktor Orban. Schließlich hat die Putin-Regierung versucht, Russlands zerstörerische Macht durch Cyberangriffe auf seine Rivalen im Ausland auszuweiten, wobei Regierungen, politische Parteien und Unternehmen sowie Stromnetze, Bankensysteme und andere lebenswichtige Infrastrukturen ins Visier genommen wurden.
Russlands Schwäche macht Putin aggressiver
Diese Entwicklungen zeigen, dass der russische Imperialismus nicht nur »reaktiv« oder defensiv ist. Wie jede imperialistische Macht versucht er, seine geopolitische Reichweite auszuweiten. Manchmal mag dies durch reine Finanzinteressen motiviert sein, aber letztlich geht es um den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fußabdruck des Landes in einer Welt, in der eine Schwächung den Untergang bedeutet.
Die Schwächen Russlands sind jedoch immer noch sehr offensichtlich. Am offensichtlichsten ist, dass es immer noch ein ziemlich armes Land ist, das in der Wirtschaftsrangliste nach unten gerutscht ist und von Ländern überholt wurde, die einst viel ärmer waren. Die verarbeitende Industrie wurde in den 1990er Jahren demontiert und hat sich, abgesehen von einigen wenigen Sektoren, nicht erholt, so dass die Wirtschaft in gefährlicher Weise von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Abgesehen von der Energie- und Waffenproduktion haben nur wenige russische Unternehmen Einfluss auf die Weltmärkte. Das Gesundheitswesen, die sozialen Dienste und die Umwelt sind in einem sehr schlechten Zustand. Die Ungleichheit ist gravierend: Der Anteil des Einkommens der obersten 10 Prozent der Bevölkerung ist mit 46 Prozent doppelt so hoch wie 1990 und deutlich höher als der EU-Durchschnitt von 35 Prozent. Die Einkommen des größten Teils der Bevölkerung stagnieren seit 2013. Die Konzentration des Reichtums ist noch höher. Infolgedessen ist die Unterstützung, die Putin in den 2000er Jahren genoss, im letzten Jahrzehnt zurückgegangen.
Putin hat sich zunehmend auf einen starken Nationalismus verlassen, um vom schlechten Lebensstandard abzulenken. Die Macht wurde auf eine kleine Clique um Putin zentralisiert, der dem russischen Volk außer Rhetorik über das große Russland und seine mächtige Vergangenheit immer weniger zu bieten hat. Die staatliche Repression hat die Opposition in den Untergrund getrieben, so dass Putins regelmäßige Wahlerfolge eher ein Zeichen dafür sind, dass es ihm gelungen ist, Widerspruch zu unterdrücken, als Unterstützung zu gewinnen.
Auch im Ausland hat Russland mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Es hat nur wenige feste Verbündete. Sein Versuch, die alten sowjetischen Strukturen durch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und ihren militärischen Arm, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, zu ersetzen, hat es nicht geschafft, mehr als ein paar arme Länder im Kaukasus und in Zentralasien sowie das benachbarte Belarus in seinen Einflussbereich einzubeziehen. Der Ersatz für den alten COMECON, die Eurasische Wirtschaftsunion, hat sich kaum besser geschlagen.
Eine Erneuerung muss kämpferisch sein
Russland ist es nicht gelungen, sich zu einem wirtschaftlichen Anziehungspunkt zu entwickeln. In ihrer Blütezeit dominierte die UdSSR die Handelsströme ihrer Nachbarländer. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion übt die Europäische Union eine viel stärkere Anziehungskraft auf sie aus: Auf die EU entfällt heute jeweils etwa die Hälfte der Ein- und Ausfuhren, auf Russland gerade einmal 15 Prozent. Auch China verdrängt Russland in Ländern, zu denen es historisch enge Beziehungen unterhielt, darunter Serbien und Kasachstan. Die Beziehungen zu China selbst haben sich im Vergleich zu den alten sowjetischen Zeiten, als China im Schatten Russlands stand, völlig verändert. Jetzt ist es Russland, das sich seinem östlichen Nachbarn beugen muss, weil Chinas explosives Wirtschaftswachstum Russland weit hinter sich gelassen hat.
Kurz gesagt, Russland hat erhebliche innenpolitische Probleme und konnte sich gegenüber seinen Nachbarn kaum durchsetzen. Diese Faktoren erklären, warum das Land gezwungen ist, sich bei der Durchsetzung seiner internationalen Interessen so sehr auf seine Streitkräfte zu stützen. In diesem Jahr wurden die damit verbundenen Gefahren schonungslos aufgedeckt.
Westliche Medien bezeichnen Putin routinemäßig als den »neuen Hitler«, während Putin den Westen als moralisch korrumpiert und im Niedergang begriffen verachtet. Doch die Beziehungen zwischen Putin und dem Westen waren nicht immer so. Kurz bevor er im Jahr 2000 zum ersten Mal die Präsidentschaft übernahm, sagte Putin dem britischen Interviewer David Frost: »Ich kann mir mein Land nicht isoliert von Europa und dem, was wir oft die zivilisierte Welt nennen, vorstellen.« Könnte Russland der Nato beitreten? »Ich wüsste nicht, warum nicht. Ich würde eine solche Möglichkeit nicht ausschließen.« Die USA erwiderten diese warmen Gefühle. Putin war, wie US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 erklärte, »ein Mann, mit dem wir Geschäfte machen können«. Flaggschiff-Publikationen wie die New York Times bewunderten ihn in ähnlicher Weise.
Die beiden Seiten arbeiteten an verschiedenen Fronten zusammen. Schon früh erkannten sie ihr gemeinsames Interesse am »Krieg gegen den Terror«, der dazu diente, sowohl Russlands Zerstörung Tschetscheniens als auch den Einmarsch der USA in Afghanistan zu legitimieren. Putin brachte wiederholt seinen Wunsch nach einer engeren Integration mit Europa zum Ausdruck, mit dem Russland, wie er sagte, »die Ideale der Freiheit, der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und der Demokratie« teile. Die Weltbank zeichnete Putin als Bollwerk gegen eine Rückkehr zur zentralen Planwirtschaft aus. 2011 gab Russland der Nato diplomatische Rückendeckung, indem es sich bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthielt, die Großbritannien und Frankreich die Möglichkeit gab, eine Flugverbotszone über Libyen zu verhängen, was den bevorstehenden Sturz von Russlands einstigem libyschen Verbündeten, Präsident Muammar Gaddafi, signalisierte. Im Jahr 2013 räumte die russische Außenpolitik den »Beziehungen zu den euro-atlantischen Staaten« höchste Priorität ein und noch 2015 drängte Putin auf ein Anti-Terror-Bündnis mit dem Westen.
Die Invasion hat die Grenzen der russischen Macht aufgezeigt
Hinzu kamen die engen persönlichen Beziehungen zwischen den Eliten. Viele russische Oligarchen verdankten ihr Vermögen den westlichen Architekten des Massenverkaufs von Staatsvermögen durch die Jelzin-Regierung in den 1990er Jahren. Die neu bereicherten Geschäftsleute investierten ihr Geld in Londoner und New Yorker Immobilien, Unternehmen, Bankkonten und Fußballmannschaften. Sie spendeten Geld an politische Parteien und wurden im Gegenzug bei gesellschaftlichen Veranstaltungen herzlich willkommen geheißen und erhielten Pässe und Titel.
Es gibt also keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Putins Russland und dem Westen. Es gibt keine klare Linie, wie US-Präsident Joe Biden behauptet, zwischen »Absolutismus« und »Demokratie«, sondern lediglich eine Einschätzung des jeweiligen imperialistischen Lagers, was ihm zum Vorteil gereicht. Dies erklärt auch, warum diese relativ herzlichen Beziehungen in den letzten Jahren einer größeren Verbitterung gewichen sind.
Der Zusammenbruch der UdSSR bot dem Westen die Möglichkeit, seinen Einflussbereich in Europa auszuweiten. Der Westen ergriff sie mit beiden Händen und erweiterte die Nato im Laufe der Zeit um fünfzehn neue Mitgliedstaaten, elf Länder, die früher dem Warschauer Pakt angehörten, und vier Länder, die früher Sowjetrepubliken waren. Die neuen Mitgliedstaaten waren fast ausnahmslos enthusiastisch pro-amerikanisch und feindlich gegenüber Russland eingestellt. Russland war gezwungen, die Situation zu akzeptieren, weil es zu schwach war, um sie aufzuhalten. Es war bestrebt, einen Platz in der nach wie vor von den USA dominierten europäischen und weltweiten Ordnung zu finden und dennoch wurde ihm die Aufnahme verweigert: Die Nato lehnte Russlands Angebote zum Beitritt ebenso ab wie seine Bemühungen um eine stärkere wirtschaftliche Integration in Europa und seinen Vorschlag, eine gemeinsame Anti-Terror-Allianz zu bilden. Die konsequente Brüskierung der Nato rief in Russland wachsende Ressentiments hervor. Die Anerkennung dieser Tatsache rechtfertigt nicht die russische Invasion der Ukraine, aber sie liefert den Kontext. Zwei imperialistische Blöcke sind nicht in der Lage, die Macht in Europa zu teilen, so dass ein Konflikt unvermeidlich ist. (Lies hier den marx21-Artikel »Krieg in der Ukraine: Die Dynamik der Eskalation«.)
Der imperialistische Konflikt begann sich in den Jahren 2007-08 zu verschärfen. Im Februar 2007 kritisierte Putin in einer wegweisenden Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Aggression der USA in den internationalen Beziehungen scharf. Im April 2008 stellte US-Präsident George W. Bush auf dem Nato-Gipfel in Bukarest den Beitritt der russischen Nachbarn Georgien und Ukraine in Aussicht – nur um ihn angesichts der energischen Einwände Putins zu verschieben. Georgien jedoch nahm den Nato-Gipfel zum Anlass, die separatistische russischsprachige Region Südossetien anzugreifen. Russland schlug zurück, indem es sich der Sprache bediente, mit der die Nato 1999 ihre Unterstützung für die Bombardierung Serbiens gerechtfertigt hatte – »Schutzverantwortung« – und schickte seine Armee nicht nur nach Südossetien, sondern auch nach Abchasien, um die georgischen Streitkräfte innerhalb von fünf Tagen zu vertreiben. Die USA, die immer noch im Nahen Osten feststeckten, konnten nur tatenlos zusehen und ermöglichten Russland einen bemerkenswerten Sieg, der die klare Botschaft vermittelte, dass das Land bereit war, militärische Gewalt einzusetzen, um eine weitere Expansion der Nato in seiner Region zu verhindern.
Georgien war der Beginn eines ehrgeizigeren Russlands. Ausländische Abenteuer boten eine Möglichkeit, den Nationalismus zu schüren und die interne Opposition als unpatriotisch zu verteufeln. Die Militäreinsätze boten Russland auch die Möglichkeit, die neuen militärischen Waffen des Landes im Einsatz zu testen. Im Jahr 2014 wurde die Ukraine zur Frontlinie im wachsenden Konflikt zwischen Russland und der Nato. Das Land ist reich an Bodenschätzen, darunter Edelgase wie Neon, Argon, Krypton und Xenon, die für die Herstellung von Halbleitern benötigt werden. Die Ukraine ist auch ein wichtiger Weizenproduzent und hat eine immense strategische Bedeutung für Russland. Der unmittelbare Wettbewerb bestand darin, ob die Ukraine sich der Europäischen Union oder der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft Russlands zuwenden sollte. (Lies hier den marx21-Artikel »Die Ukraine und die nationale Frage«.)
Putin ist Kapitalist, durch und durch
Die ukrainische Bevölkerung war nicht bereit, in diesem Kampf passiv zuzuschauen. Die Anziehungskraft der viel wohlhabenderen EU war wesentlich stärker, auch wenn die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft noch in weiter Ferne lag. Und so gingen nach der Entscheidung des mit Russland verbündeten Präsidenten Viktor Janukowitsch, den Antrag der Ukraine auf Beitritt zur EU aufzugeben und stattdessen dem russischen Wirtschaftsblock beizutreten, Tausende auf die Straße, um zu protestieren. Die gewaltsame Unterdrückung ließ die Menge anschwellen, die dann den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews besetzte. Ihre Motivation war nicht in erster Linie der Beitritt zu einem Militärblock – die Unterstützung der Nato-Mitgliedschaft war immer noch eine Minderheitsposition – sondern ein Ende der Korruption und eine Verbesserung des Lebensstandards, der zu den niedrigsten in Europa gehörte und immer noch gehört. Da es keine nennenswerten linken Kräfte gab, hatte die Rechte leider freie Hand, um auf dem Platz eine reaktionäre Atmosphäre zu schaffen und die Feindseligkeit gegenüber der russischsprachigen Minderheit des Landes zu kultivieren, die sie als Kolonisatoren bezeichnete. Nach dreimonatigen Protesten musste Janukowitsch fliehen und nach einer Übergangsregierung übernahm der EU-freundliche Geschäftsmann Petro Poroschenko die Macht.
Als Vergeltung für die Demütigung des von Russland favorisierten Präsidenten beorderte Putin russische Spezialeinheiten in die ukrainische Donbass-Region, wo sie rechtsgerichtete russischsprachige Separatisten im Kampf gegen die Regierung unterstützten. Gemeinsam schlugen sie die Versuche der ukrainischen Armee, sie zurückzudrängen, mühelos nieder, und das anschließende Friedensabkommen von Minsk II gewährte den Separatisten im Osten eine weitgehende Autonomie und damit einen größeren russischen Einfluss. Gleichzeitig drangen russische Soldaten in die Krim im Süden der Ukraine ein und besetzten sie. Dies führte zur Annexion der Krim durch Russland und zur Rückgabe des Schwarzmeer-Marinestützpunkts Sewastopol an Russland.
Daraufhin verhängten die USA, die EU, Kanada und andere Länder Sanktionen gegen Dutzende von hochrangigen Freunden Putins, wodurch ausländische Investitionen in Russland abgewürgt wurden. Diese Sanktionen wurden mehrmals verlängert und erneuert, am dramatischsten im Frühjahr 2018, nach der versuchten Ermordung eines ehemaligen russischen Spions im Vereinigten Königreich. Zusammengenommen beendeten diese Entwicklungen die Fantasie der russischen Integration oder des Bündnisses mit dem Westen und signalisierten einen Wechsel zu einer konfrontativeren Haltung. Dies spiegelt sich in den aufeinanderfolgenden Verteidigungs- und Sicherheitsberichten der amerikanischen und der russischen Regierung wider, in denen die jeweils andere Macht als wachsende Bedrohung eingestuft wird.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine muss in diesem breiteren Kontext der globalen imperialistischen Konkurrenz verstanden werden. Er ist nicht, wie von Russlands Apologeten behauptet, eine direkte Folge der Nato-Erweiterung. Im Februar gab es keine unmittelbare westliche Bedrohung für Russland: Die Nato war nicht im Begriff, in Russland einzumarschieren, und die Nato war auch nicht im Begriff, die Ukraine beitreten zu lassen, weil sie nicht zur Verteidigung der Ukraine in den Dritten Weltkrieg hineingezogen werden wollte. Natürlich hatte der Einmarsch auch nichts damit zu tun, russischsprachige Menschen in der Ostukraine vor einem Völkermord zu schützen oder die angebliche Nazi-Regierung in Kiew zu stürzen, zwei Lügen, die Putin zur Rechtfertigung des Einmarsches benutzt. In Wirklichkeit geht es um Russlands Wunsch, seinen Status als Weltmacht wiederzuerlangen, und die Ukraine ist ein Sprungbrett für dieses Projekt.
Strategischer Fehltritt in der imperialistischen Konkurrenz
Die Invasion ist eine Bewährungsprobe für den russischen Imperialismus, die Russland jedoch bisher nicht zu bestehen scheint. Putin und die Generäle glaubten, sie könnten in der Ukraine einen schnellen Sieg erringen.
Sie glaubten, dass die USA eine schwindende Macht seien, die durch die Misserfolge im Irak und in Afghanistan geschwächt sei, die von interner Instabilität und politischer Polarisierung geplagt werde und die daher nicht bereit sei, Russland mehr als nur Worte entgegenzusetzen. Sie glaubten, dass Biden, dessen Zustimmungswerte im Januar zu den schlechtesten in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte gehörten, sich auf seine umstrittene Kongressagenda und den katastrophalen COVID-19-Winterausbruch im eigenen Land konzentrieren wollte.
Putin glaubte auch, dass die Nato zu gespalten sei, um sich einer russischen Invasion zu widersetzen.
Die Trump-Administration hatte die Nato offen verhöhnt und sie als obsolet bezeichnet, was die Beziehungen zwischen Europa und den USA vergiftete. Deutschland, so glaubte man, wäre angesichts seiner engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und seiner langjährigen Position als Brücke zwischen Russland und den USA kein verlässlicher militärischer Partner für die USA in Osteuropa. Nach ihrem Treffen in Peking im Februar könnte Putin geglaubt haben, dass die Invasion von China stark unterstützt würde und dass es ihm helfen würde, Märkte und Finanzmittel bereitzustellen, um die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auszugleichen. Wahrscheinlich glaubte Putin auch, dass das russische Militär in der Lage wäre, die Ukraine zu besiegen, ein armes Land, das über weniger Ressourcen verfügt und das Russland 2014 im Donbass entscheidend besiegt hatte. Und möglicherweise glaubte der russische Präsident wirklich, dass die Ukrainer die Invasion begrüßen würden.
Putin marschierte ein, um seine Position in der imperialistischen Hackordnung zu verbessern
Keine dieser Annahmen erwies sich als richtig. Russland sieht sich mit Widerstand an allen Fronten und mit ernsten internen Problemen konfrontiert. Militärisch haben die russischen Streitkräfte Schwierigkeiten, große Städte einzunehmen. Ihre Panzer und gepanzerten Fahrzeuge liegen zu Hunderten verlassen oder zerstört herum. Ihr Atomwaffenarsenal bietet zwar Schutz vor US-Angriffen, hilft aber nicht bei der Eroberung ukrainischer Gebiete. Die Moral unter den Soldaten scheint niedrig zu sein und Lebensmittel, Treibstoff und Munition sind Mangelware. Tausende russischer Soldaten wurden getötet. Eine Ende März durchgesickerte Zahl von knapp 10.000 Toten wurde von der russischen Regierung dementiert, aber selbst wenn diese Zahl übertrieben ist, wird die tatsächliche Zahl weit über der offiziellen Zahl der Toten liegen. Es ist möglich, dass sich die Zahl der Todesopfer bis zum Ende des Krieges den 14.000 Verlusten annähert, die Russland während seiner neunjährigen Besetzung Afghanistans erlitt, die weithin als militärische Katastrophe angesehen wird und zum Zusammenbruch der UdSSR beigetragen haben soll.
Die Invasion hat die ukrainische Bevölkerung, einschließlich der russischsprachigen Minderheit, gegen Russland aufgestachelt. Der Präsident, der letztes Jahr in den Umfragen schlecht abschnitt, ist jetzt sehr beliebt. Die ukrainischen Streitkräfte scheinen sich gut geschlagen zu haben. Die Chancen, dass Russland in Kiew eine Marionettenregierung einsetzen kann, die nicht auf massive russische Militärhilfe angewiesen ist, sind gering.
Im eigenen Land sorgt der Krieg in der Ukraine für Unzufriedenheit. Putin hat keinen Versuch unternommen, die Bevölkerung für den Krieg zu sensibilisieren und keinen glaubwürdigen casus belli geschaffen. Der Wirtschaft droht eine schwere Rezession, wenn sich der Krieg in die Länge zieht. Der Verlust von Menschenleben und die zunehmenden wirtschaftlichen Turbulenzen infolge des Krieges und der westlichen Finanzsanktionen fordern ihren Tribut.
Es heißt wieder westlicher Imperialismus gegen russischen Imperialismus
Die staatlichen Medien bezeichnen die Invasion als »spezielle Militäroperation«, aber Millionen von Menschen werden sich durch Kontakte, die entweder an den Kämpfen beteiligt oder von ihnen betroffen sind, ein viel klareres Bild von der Lage machen können. Es ist schwierig, ein Bild von der öffentlichen Meinung zu bekommen, aber begrenzte Umfragen der liberalen Opposition deuten darauf hin, dass die anfängliche Unterstützung für den Krieg abnimmt, insbesondere bei den Menschen mit geringem Einkommen. Wenn es nicht gelingt, einen soliden Sieg in der Ukraine zu erringen, wird die Unterstützung für Putin schrumpfen, und seine Absetzung durch einen Palastputsch oder sogar durch einen Volksaufstand ist nicht auszuschließen. Kein Wunder, dass Putin jetzt gnadenlos gegen diejenigen vorgeht, die er als »Volksverräter« und »fünfte Kolonne« bezeichnet, die sich dem Krieg widersetzen.
Die Nato ist durch Russlands Angriff auf die Ukraine keineswegs geschwächt worden, sondern steht nun geschlossener hinter den USA. Europa ist dem Beispiel der USA auch bei den Finanzsanktionen gefolgt, die weitaus umfassender sind als die, die jemals gegen eine andere Großmacht verhängt wurden. Deutschland hat seinen Versuch, eine Brücke zwischen der Nato und Russland zu schlagen, aufgegeben und engagiert sich stärker in der von den USA angeführten Auseinandersetzung mit Russland. Es hat angekündigt, die Militärausgaben zu verdoppeln und erlaubt nicht nur die Durchfuhr von Nato-Waffen durch Deutschland, sondern auch schwere Waffenlieferungen. Die deutsche Regierung hat die Gaspipeline NordStream II ausgesetzt, auch wenn sie sich gegen die Versuche der USA wehrt, die Nato-Mitglieder zu zwingen, sich dem russischen Öl- und Gasboykott anzuschließen. Andere Länder stehen Schlange, um der Nato beizutreten. Und für die britische Regierung unter Boris Johnson hat der Krieg von ihren innenpolitischen Krisen abgelenkt.
Die Schwierigkeiten Russlands in der Ukraine und die Reaktion des Westens veranlassen auch China zu einer gemäßigteren Sprache gegenüber seinem »Freund ohne Grenzen«. Die USA haben China mitgeteilt, dass jeder Versuch, Sanktionen zu umgehen, geschweige denn Waffen an Russland zu liefern, mit Sanktionen gegen China geahndet würde. Und während China vielleicht gehofft hat, dass der Einmarsch Russlands die USA von ihrer militärischen Aufrüstung im indopazifischen Raum ablenken würde, ist es ebenso plausibel, dass die Aufrüstung der europäischen Nato-Mitgliedstaaten die USA in die Lage versetzen könnte, sich auf Asien zu konzentrieren.
Der Ukraine-Krieg gefährdet die Putins Hegemonie, wo sie noch besteht
Die Invasion hat China auch die möglichen Folgen einer Invasion in Taiwan vor Augen geführt. Die Schwierigkeiten, die Russland bei der Übernahme der Kontrolle über ukrainische Städte hatte, sind nichts im Vergleich zu den Problemen, die eine amphibische Invasion Taiwans mit sich bringt. Und der ukrainische Widerstand hat China eine Vorstellung von dem weit verbreiteten Volkswiderstand vermittelt, der sich wahrscheinlich gegen eine Invasion Taiwans richten wird. Dies gibt China weitere Gründe, einen solchen Angriff hinauszuzögern, so dass die USA vorerst keinen Grund zur Sorge haben.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist eine der wichtigsten geopolitischen Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges. Sie sollte Russlands Entschlossenheit signalisieren, in der entstehenden multipolaren Welt einen Platz neben den USA, China, Indien und der EU zu finden, wobei jeder seinen Einflussbereich hat. Stattdessen hat sie Russlands begrenzte Macht demonstriert und wenn sich die militärische Situation nicht schnell ändert, könnte sie einen großen Rückschlag für seine Ansprüche auf regionale Hegemonie bedeuten, ganz zu schweigen von seinen globalen Ambitionen. Sie hat es den USA auch ermöglicht, den Boden zurückzugewinnen, den sie nach ihren Debakeln im Nahen Osten und den jahrelangen angespannten Beziehungen zu den großen europäischen Mitgliedstaaten verloren hatten.
Dennoch ist die Situation sehr gefährlich. Der Konflikt ist ein Anzeichen für die zunehmenden Spannungen rund um den Globus, von Taiwan über das Südchinesische Meer bis hin zum Jemen und den laufenden Konflikten zwischen Indien und Pakistan, Saudi-Arabien und dem Iran. Amerikas enge Verbündete in Asien, Australien und Japan nutzen Russlands Einmarsch in der Ukraine, um ihre eigenen Militärausgaben in Vorbereitung auf einen Krieg mit China zu rechtfertigen. Der australische Premierminister Scott Morrison nutzt jede Gelegenheit, China mit Russland in Verbindung zu bringen, um die wachsende Feindseligkeit gegenüber China im eigenen Land weiter zu verstärken.
Das Beispiel Europas im Sommer 1914 zeigt, dass Streitigkeiten in einer Ecke der Welt schnell eskalieren können. Die USA und Russland werden vielleicht nicht wegen der Ukraine in den Krieg ziehen, aber die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, ebenso wenig wie der Einsatz von Atomwaffen. Der Imperialismus bringt uns nur noch mehr Konflikte, Tod und Zerstörung sowie immer höhere Militärbudgets auf Kosten der Gesundheitsversorgung, der sozialen Dienste und der Wohlfahrt. Er kann nicht existieren, ohne menschliches Leben zu zerstören. Wir müssen uns ihnen in den Weg stellen, indem wir eine möglichst große Antikriegsbewegung und eine sozialistische Organisation schaffen, die für die Zerschlagung des Imperialismus und aller Kriege kämpfen kann.
Dieser Artikel von Tom Bramble erschien am 27. März 2022 auf RED FLAG, der Webseite der australischen Organisation Socialist Alternative. Übersetzung von Yaak Pabst.
Titelbild: Ministry of Defence of the Russian Federation / Weitere Bilder: Wikimedia / Министерство обороны Российской Федерации
Schlagwörter: Imperialismus, Krieg, Putin, Russland, Ukraine