Die Schriftstellerin und Journalistin Ulrike Heider untersucht in einem neuen Buch die Entwicklung der sexuellen Emanzipationsbewegung ab den späten sechziger Jahren. Die derzeitigen Angriffe auf die Errungenschaften der Bewegung machen deutlich, dass der Kampf noch nicht vollendet ist. Von Helmut Dahmer
Ulrike Heider, die mit der hedonistischen Linken sympathisiert – also mit denen, die es eher mit den Anarchisten und der Bohème halten als mit den Sozialdemokraten oder Bolschewiken –, erzählt die Geschichte der Revolte gegen die traditionelle Sexualökonomie der sechziger Jahre. Damals begann eine aktive Minderheit unter den westdeutschen Studierenden und Schülern, sich gegen die konservative Sexualmoral, die bekanntlich nur die Alternative von Aufzucht und Unzucht kannte, zu wehren.
Der Marquis de Sade im 18., Charles Fourier im frühen und Friedrich Engels im späteren 19. und schließlich Sigmund Freud im 20. Jahrhundert hatten diese den ursprünglichen Triebwünschen auferlegte Zwangsordnung theoretisch unterminiert. Dass die menschlichen Triebe »luxurieren«, also nicht in feste Verhaltensschemata eingebunden, sondern im Überfluss vorhanden sind und einer zeit- und schichtgemäßen Formung unterliegen, war eine der wesentlichen Entdeckungen Freuds.
Künstler und Freigeister hatten sich in Ateliers und geheimen Clubs eh und je über die herrschende repressive Sexualmoral hinweggesetzt. Nun aber forderte ein Teil der Generation, die in Japan genauso wie in Amerika, in England, Frankreich und Westdeutschland wie immer verzögert auf die Schrecken des zweiten Weltkriegs reagierte, in Hörsälen und auf Schulhöfen, auf Straßen und Plätzen nicht nur den Bruch mit dem Kalten Krieg und der kapitalistischen Welt(un)ordnung, sondern auch den mit jener (Sexual-)Moral, die den Absturz in die Barbarei nicht verhindert, sondern ermöglicht hatte.
Obrigkeitshörigkeit als Ergebnis sexueller Repression
Sie erkannten Obrigkeitshörigkeit und autoritäre Charakterstrukturen als Ergebnisse sexueller Repression, die dem Erhalt autoritärer gesellschaftlicher Strukturen und Organisationen Vorschub leistet.
»Seit 1964 wussten die Nachkriegsjugendlichen, was ihnen ihre (…) moraltriefenden Väter und Lehrer einschließlich der offiziellen Vatergestalten aus Politik, Wirtschaft und von der Sittenfront verschwiegen hatten: Die, die ihre Söhne militärischer Disziplin unterwarfen, die Unschuld der Töchter hüteten, kleine, beim Onanieren erwischte Kinder züchtigten, aber über Sexualität nicht sprechen konnten. Die, denen der Anblick nackter Frauenbrüste in Filmen und Zeitschriften unerträglich war. Die, die sich mit jener stickigen Aura von Doppelmoral, Heuchelei, von Verschweigen und Vertuschen umgaben. Eine Mörderbande waren sie einst gewesen, nichts anderes als ein Haufen Schwerverbrecher«, wie es Ulrike Heider beschreibt.
Die »Antiautoritären«, die ihren Namen der Bakuninschen Internationale (nicht der von Marx beeinflussten) entlehnt hatten, orientierten sich an den Schriften von Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und A. S. Neill (dem Gründer der freien Schule »Summerhill«). Indem sie sich öffentlich neue Freiheiten herausnahmen, gelang es ihnen in kurzer Zeit, eine Bresche in die Festung der repressiven Sexualmoral zu schlagen, deren Verteidiger seither – ingrimmig – auf dem Rückzug sind, aber natürlich jede Möglichkeit nutzen, etwas von dem verlorenen Terrain zurückzuerobern. Den aktuellen Frontverlauf bezeichnen die »Fälle« Edathy und Conchita Wurst.
SDS und sexuelle Befreiung
Heider berichtet von den Versuchen, das menschliche sexuelle Begehren neu zu deuten, die sich im letzten halben Jahrhundert vervielfältigt und zugleich fortschreitend entpolitisiert haben. Versuche, vormals als »pervers« verpönte Formen sexueller Praxis zu legitimieren, »Männliches« und »Weibliches« zu mischen und »Identitäten« neu zu erfinden.
Die Geschichte dieser sexuellen Revolution(en), die von einer als »skandalös« empfundenen Buchpublikation zur nächsten fortschritt, von einem »gewagten« Film zum folgenden, ist natürlich mit der Lebensgeschichte der Autorin verknüpft. Mit eingestreuten Episoden aus der eigenen sexuellen »Bildungsgeschichte« macht sie die Kriterien plausibel, anhand derer sie sich im Dschungel sexueller Revolutionen und Konterrevolutionen orientiert. Ihre eigene sexuelle Befreiung begann, als sie im Jahr 1967 »als Zaungast« an Mitgliederversammlungen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im Frankfurter Walter-Kolb-Studentenhaus teilnahm:
»Das von antiautoritären Linken geprägte Kolbheim (…) schien mir etwas von jener Kollektivität und Solidarität zu bieten, die Ehe und Familie (…) überflüssig machen würde. Man begegnete einander mit einer mir bisher unbekannten Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit. Über alles konnte man mit jedem sprechen, über Geschichte und Politik ebenso wie über Probleme mit den Eltern, über Krankheiten oder Depressionen und über Sex. (…) Endlich den Heiratserwartungen und latenten Vorwürfen meiner Mutter und meines Freundes entkommen, empfand ich das Leben unter radikalen Linken als große Befreiung. (…) Staunend beobachtete ich das freie Sexualleben meiner neuen Freunde.«
Von Freud bis Butler
Freud hatte gezeigt, dass die kulturell begünstigte »genitale« Organisationsform der Libido nur ein Teiltrieb unter vielen anderen (»vielgestaltig abweichenden«) ist, die deshalb nicht zum Zuge kommen. Freuds Freund und Kollege Sándor Ferenczi formulierte im Jahr 1911 die (Jahrzehnte später von Judith Butler entfaltete) These, dass Männer und Frauen unter sozialem Druck zu »Zwangsheterosexuellen« werden: Sie opfern ihr auf das gleiche Geschlecht bezogene Interesse dem auf das andere Geschlecht bezogenen.
Die bis weit in die Nachkriegszeit gerade auch in Westdeutschland herrschende sexualfeindliche Moral verbannte die (vor-genitalen) Teiltriebe und die sexuellen »Zwischenformen« in den Untergrund. Seit den sechziger Jahren aber wurden Zug um Zug neuartige Toleranzen erkämpft. Der Studenten-Protestbewegung entwuchs die neue Frauen-Emanzipationsbewegung, die sich alsbald in viele, einander bekämpfende Fraktionen teilte; auf die Frauen- folgte die Schwulenbewegung und fünfzehn Jahre später die der Sado-Masochisten, die auch den »bösen« (gewaltförmigen) Sex rehabilitieren wollten.
Herrschaft und Gewalt
Die Verteidiger der »Tradition« hielten (und halten) die repressive Sexualökonomie für die einzig »natürliche«. Von Höllenangst getrieben, unterwerfen sie sich ihr stets wieder, indem sie alle, die davon abweichen, fanatisch bekämpfen. Die Verfechter einer freieren sexuellen Praxis reagierten darauf, indem sie (mit Wilhelm Reich) den »guten«, von ihnen als »natürlich« gepriesenen Sex gegen die Unnatur der gesellschaftlich dressierten, auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität ausspielten. Das beinhaltete einerseits einen sehr viel freieren Umgang mit Sexualität, andererseits in manchen Kreisen einen neuen Messianismus. Dass die Menschennatur eine durch und durch »künstliche«, vielfältig gestaltbare ist, und dass jede ihrer kulturellen und subkulturellen Gestaltungen »legitimiert« wird, indem ihre Verteidiger sie für die einzige ausgeben, die der endlich aufgefundenen »wahren« Menschennatur entspricht (die es freilich gar nicht gibt), wollten weder die einen noch die anderen wahrhaben.
Wer aber diese oder jene Form von Sexualität mit »Natur« verwechselt, verfällt einer Illusion. Nämlich der, er könne nicht nur sich und Gleichgesinnten durch die Rückkehr zum »wahren« menschlichen Wesen das Leben erleichtern, sondern alle Übel dieser Welt ließen sich gerade »aus diesem Punkte« kurieren. Damit ist das Scheitern der allermeisten privaten Emanzipationsversuche vorprogrammiert. Denn je geringer die Chance, die soziale Welt jenseits von Paar und Kommune zu ändern, desto größer das Risiko, dass sich im Innern der kleinen, angestrengt vorweggenommenen Zukunftsgesellschaften gerade das reproduziert, dem die Utopisten entkommen wollen: Herrschaft und Gewalt.
Die »gewisse Weltfremdheit« der Gender Studies
Die marxistischen Sozialphilosophen der »Frankfurter Schule« haben der sexuellen Revolution der vergangenen Jahrzehnte frühzeitig die Diagnose gestellt, es handele sich dabei um eine Form von »repressiver Entsublimierung« (Marcuse), wie etwa Aldous Huxley sie in seinem Roman »Schöne neue Welt« antizipiert hatte. Heterosexuelle Befriedigung sei – auf dem Wohlstandsniveau der höchst entwickelten kapitalistischen Oasenländer – nicht mehr verpönt und verboten, sondern werde nun erlaubt und sogar geboten. Sexualität sei nicht mehr – wie andere, subversive Kräfte – in den gesellschaftlichen Untergrund verbannt, sondern werde isoliert, auf den Markt gezerrt und verwertet. Durch und durch sexualisiert, erscheine schließlich sogar das System der Ausbeutung den Ausgebeuteten attraktiv.
Im Hinblick auf die vor fünfzehn Jahren (auch) an deutschen Universitäten eingeführten, von Texten Judith Butlers inspirierten »Gender Studies« merkt Heider an, »größere Emanzipationsbewegungen« seien daraus bisher »nicht hervorgegangen«; im übrigen scheine in diesen »akademischen Kreisen« eine »gewisse Weltfremdheit zu herrschen«:
»Da gehen Lehrende und Lernende (…) davon aus, dass es keine Männer und Frauen gibt beziehungsweise geben müsste. Zudem nehmen sie an, dass Heterosexualität (…) ein Repressionsinstrument sei. Draußen im Lande wird derweil die ›Herdprämie‹ für Hausfrauen diskutiert, eine Familienministerin hinterfragt die einst selbstverständlichen Forderungen der Frauenbewegung, die Abtreibungsgegner sind im politischen Mainstream angekommen, und die neuen Schwulenhasser sind auf dem Vormarsch. Immer mehr Zeitgenossen schenken den Theorien der Evolutionsbiologen Glauben, die menschliche Sexualität aus einem angeblichen Paarungsverhalten der Steinzeitmenschen ableiten. Vergewaltigung, behaupten einige aus dieser Schule, sei damals ein wichtiges Mittel zur Zeugung gesunder Nachkommenschaft gewesen.«
Auf den Markt gezerrte Sexualität
Diese Besinnung auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem die universitären »Gender-Studies« stehen, mag den Lesern des Heiderschen Buches (die allesamt Nutznießer der sexuellen Revolution sind) Anlass geben, auch die Bedeutung solch akademischer Untersuchungen zu relativieren. Wer nicht nur aus dem Fenster eines Seminarraums auf die Millionen »draußen in der Welt« schaut, wozu Heider ihn anregt, wird kaum übersehen, dass die permissive Sexualökonomie der Wohlstandsoasen mit dem Alltagsleben derer, die in den Elends- und Kriegsregionen dieser Welt leben, wenig zu tun hat – auch wenn in den Slumhütten die Seifenopern und Werbespots der »ersten Welt« tagein, tagaus als bunte Schemen über die Bildschirme geistern.
In Dutzenden von Ländern machen autoritäre Despoten und Theokraten, flankiert von modernisierungsfeindlichen Guerillas, gegen »westliche Dekadenz« mobil – gegen den Luxus und die Freiheiten jener fernen Minderheit, die in irdischen Paradiesen lebt, die unerreichbar sind und von denen darum viele denken, dass es sie besser gar nicht geben sollte.
In Deutschland haben die sexuelle Revolution und die sie bald begleitende und dann überflutende »Sexwelle« das Leben von Millionen Teenagern nachhaltig verändert; zahllose Homosexuelle sind vom Stigma der »Perversion« befreit worden, Millionen Frauen wurden ganz neue Lebensmöglichkeiten erschlossen. Heider setzt darauf, dass die Vermarktung und Technifizierung der Sexualität nicht die letzte von deren Umgestaltungen ist: »Ein neuer Hedonismus könnte den seit über dreißig Jahren herrschenden Libertinismus ablösen, ohne die Fehler der Sexuellen Revolution (der vergangenen Jahrzehnte, Anm.d.Autors) zu wiederholen. Das hieße, den Sirenengesängen von der ursprünglich guten Sexualität als Heilsbringerin zu widerstehen, ebenso wie der Versuchung des sexuellen Inselkommunismus in utopischen Kommunen oder weiblichen Identitätszusammenhängen.«
Der Autor: Helmut Dahmer war bis 2002 Professor für Soziologie an der TU Darmstadt und ist Autor einer Vielzahl von Büchern, unter anderem »Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart«. Von 1968 bis 1992 war er leitender Redakteur der psychoanalytischen Zeitschrift »Psyche«. Heute lebt er als freier Publizist in Wien.
Das Buch: Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt. Rotbuch Verlag, Berlin 2014, 320 Seiten, 14,95 Euro.
Foto: Titelbild des Buches Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt. Rotbuch Verlag, Berlin 2014, 320 Seiten, 14,95 Euro.
Schlagwörter: Bücher, Kultur, SDS, Sex, Sexuelle Befreiung