»Selma« zeigt eine der bedeutendsten Demonstrationen von Martin Luther King. Interessant ist der Film aber vor allem, weil er auch die politischen Diskussionen in der Bürgerrechtsbewegung darstellt. Von Loren Balhorn
Ein paar schwarze Mädchen laufen in der Kirche die Treppe runter, um sich für den Chor umzuziehen. Sie sprechen über Kleidung, Frisuren und … eine Bombe explodiert und vier von ihnen sind tot. „Selma“ beginnt mit dem Anschlag des Ku-Klux-Klan auf eine Kirche für Schwarze 1963 in Birmingham, Alabama. Darauf folgen die Ereignisse der „Selma-nach-Montgomery-Märsche“ in Alabama 1965, einem Höhepunkt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King (David Oyelowo). Die Bewegung kämpfte damals für das uneingeschränkte Wahlrecht für Schwarze im Süden der USA.
Der Film der schwarzen Regisseurin Ava DuVernay beeindruckt mit der Schilderung des alltäglichen Kampfes der Menschen gegen die örtlichen Behörden und die weiße Bevölkerung. Soweit das in einem zweistündigen Film möglich ist, zeigt „Selma“ die schwarze Bürgerrechtsbewegung in vielen Facetten: die charismatische Figur von King, die Diskussionen in der Führung seiner Bewegung um die richtige Strategie und die beeindruckende Mobilisierung schwarzer US-Amerikaner und ihrer weißen Unterstützer.
Das Drehbuch von „Selma“ hat einige Schwächen und gegen Ende wird King ein wenig zum strahlenden Helden stilisiert, der er niemals gewesen ist. Interessant sind aber vor allem die politischen Aussagen. Zum einen zeigt der Film, dass von den weißen US-Amerikanern nicht nur eine verirrte Minderheit rassistisch eingestellt war. Vielmehr stand die weiße Bevölkerung der Bürgerrechtsbewegung bestenfalls unwissend und gleichgültig gegenüber. Oft kämpfte sie aber aktiv an der Seite der Polizei gegen die Gleichberechtigung der Schwarzen.
„Selma“ macht zudem deutlich, dass hochrangige Politiker und Polizisten schwarze Kinder und Rentner totschlagen ließen, um die Bewegung aufzuhalten. Vor allem zeigt der Film, dass Schwarze ihre Rechte selber erkämpfen mussten und dass die Herrschenden ihre Forderungen nur zum Schein unterstützten.
Selma und viele andere Städte im Süden der USA waren damals Hochburgen eines rassistischen Staatsapparates, der die Ausgrenzung der Schwarzen entgegen geltender Bundesgesetze aufrecht erhielt. So hatten zwar schon seit dem Ende des Bürgerkriegs 1865 rechtlich alle US-Amerikaner unabhängig von ihrer Hautfarbe das Wahlrecht. Doch viele Bundesstaaten im Süden führten bei der Registrierung zur Wahl Lese-Tests und Wahl-Steuern ein, die Schwarze und arme Weiße weiter ausschlossen. Dadurch waren im Landkreis von Selma 1965 von über 15.000 erwachsenen Schwarzen nur 130 als Wähler registriert.
Abgesehen von politischen Wahlen hatten Schwarze dadurch auch keine Möglichkeit, von Gerichten als Geschworene berufen zu werden. Dadurch bestanden die Jurys bei Strafprozessen ausschließlich aus Weißen, obwohl zum Beispiel in Selma über die Hälfte der Einwohner Schwarze waren. So konnten Rassisten sicher sein, dass sie selbst für die Ermordung von Schwarzen nicht bestraft wurden.
Die Bürgerrechtsbewegung wollte mit dem Wahlrecht für Schwarze unter anderem auch die Möglichkeit bekommen, dass sie die örtlichen Sheriffs mitwählen und damit die Polizeigewalt eindämmen können. Martin Luther King wusste, dass der Rassismus durch diese Rechte allein nicht besiegt werden konnte, aber er hielt sie für einen wichtigen Schritt zu einer gleichberechtigten Gesellschaft.
Martin Luther King mobilisiert die schwarze Bevölkerung
Einige Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung arbeiteten seit den 50er Jahren im Süden. Vor allem das „Student Nonviolent Coordinating Committee“ (SNCC) hatte in vielen Städten Büros eröffnet, um Schwarzen bei der Zulassung zur Wahl zu helfen. Dabei beschränkte sich SNCC jedoch noch auf juristische Auseinandersetzungen und war nur selten in der Lage, diese mit aktivistischen Kampagnen zu verbinden. Weil Politiker, Richter und Polizisten die Unterdrückung der Schwarzen aber über das Gesetz stellten, war diese Strategie nur mäßig erfolgreich.
Martin Luther King und die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) verfolgten eine andere Strategie. Begonnen hatte die SCLC als Bündnis von Pfarrern und Bischöfen, die aus den schwarzen Kirchen heraus versuchten, die Bürgerrechtsbewegung zu vereinigen und zu stärken.
Doch später entwickelte King die Strategie, gezielt in den Hochburgen des staatlichen Rassismus Demonstrationen zu organisieren, um ihn dort offenzulegen und zu bekämpfen. Das bedeutete eine Abkehr von der Strategie des SNCC, jedem Schwarzen einzeln auf formalem Weg das Wahlrecht zu erstreiten. Stattdessen sollten öffentlichkeitswirksame Mobilisierungen in bestimmten Städten den Durchbruch bringen und gleichzeitig Druck auf die Regierung machen.
Das besondere am Film „Selma“ ist, dass diese Diskussionen der Strategie innerhalb der Bewegung ausführlich gezeigt werden. Denn viel zu oft folgen auch Filme über politische Bewegungen der gewohnten Erzählweise und stellen einen großen, weißen Mann in den Mittelpunkt, der seine Anhänger zum Sieg führt. Bei „Selma“ hingegen beobachtet der Zuschauer King und die Führung der SCLC bei intensiven strategischen Debatten und kann wichtige Wendepunkte der Bewegung nachvollziehen.
Selma war Hochburg des Rassismus
King war der mit Abstand bekannteste Vertreter der Bürgerrechtsbewegung, aber er hat sie nicht allein geführt. Deshalb zeigt der Film auch seine wichtigsten Mitstreiter, wie James Bevel (Common) Bayard Rustin (Ruben Santiago-Hudson) und Diane Nash (Tessa Thompson), die darüber diskutieren, welche Stadt am geeignetsten ist, um maximalen Druck auf Regierung und Bevölkerung auszuüben. Sie reflektieren Schwächen und Fehler vergangener Versuche und überlegen, wie sie diese korrigieren. Später gibt es auch gemeinsame Treffen mit Vertretern des SNCC, der in der Selma-Kampagne zum wichtigen Multiplikator wird.
So wurde Selma zum Ort für eine zentrale Kampagne der Bewegung ausgewählt, weil es dort den besonders rassistischen und vor allem gewalttätigen Sheriff Jim Clark (Stan Houston) gab. Außerdem lag die Stadt in Alabama, dessen Gouverneur George Wallace (Tim Roth) einer der bekanntesten radikalen Verteidiger der Rassentrennung war. King und seine Mitstreiter wussten, dass sie Wallace zum Nachgeben zwingen mussten, um das System des staatlichen Rassismus im Süden zum Einsturz zu bringen.
„Selma“ zeigt die Bürgerrechtsbewegung als aktiven Kampf von denkenden und handelnden Menschen, die verschiedene Strategien ausprobieren, ihre Schritte überlegen, miteinander streiten und letztendlich entscheidende Reformen erkämpfen. Der Film macht deutlich, dass gesellschaftlicher Fortschritt durch Konflikt entsteht und dass dieser von realen Menschen organisiert und vorangetrieben werden muss.
Die Bewegung war ein Kampf
Das ist wichtig, weil die Bürgerrechtsbewegung in den USA hauptsächlich als geduldiger Aufklärungsprozess dargestellt wird, in dem einem Weißen nach dem anderen klar wird, dass Schwarze auch gute Menschen sind. Tatsächlich war die Bewegung gegen Rassismus viel mehr ein Kampf als ein Bildungsprojekt, der Rechte für Schwarze gegen den Willen der meisten Weißen durchsetzte.
Bedeutend ist auch, dass „Selma“ den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) zu Recht nicht als fortschrittlichen Antirassisten darstellt, wie oft behauptet wird. Vielmehr sieht man ihn als verbitterten, zynischen Machtpolitiker, der Zugeständnisse an die Bürgerrechtsbewegung nur macht, wenn ihm der Druck zu groß wird.
In der Öffentlichkeit zeigt Johnson sich diplomatisch. Doch wenn er mit seinen Angestellten spricht, wird deutlich, dass er die Bürgerrechtsbewegung zum Teufel wünscht und nur vermeiden will, dass in Zeitungen Bilder von prügelnden Polizisten und anderen Weißen erscheinen. King versucht anfangs, Johnson zu überzeugen, merkt aber bald, dass der Präsident nur auf den Druck der Straße reagiert.
„Selma“ wurde in einer Zeit gedreht, in der in den USA die „Black-Lives-Matter“-Bewegung entstanden ist. 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung kämpfen junge Schwarze heute oft für dasselbe wie damals: In vielen Staaten im Süden ist das uneingeschränkte Wahlrecht bedroht, Schwarzen werden Jobs vorenthalten und die Gewalt der Polizei ist so tödlich wie 1965. King und seine Bewegung haben große Fortschritte erkämpft, aber 40 Jahre marktliberale und rassistische Politik haben besonders soziale Errungenschaften für Schwarze zunichte gemacht.
Die Verbindung zu heute
„Selma“ zieht die Verbindung zur Gegenwart bewusst. Wenn der Abspann über die Leinwand läuft, hört man den Oscar-prämierten Song „Glory“ von John Legend und Darsteller Common. Darin rappt er über die „Hands-Up“-Demonstrationen in Ferguson nach der Ermordung von Michael Brown und die Bewegung der 60er Jahre als Inspiration für heute.
Es ist kein perfekter Film. Manche Zusammenhänge bleiben unklar und der schmalzige Schluss wirkt, als seien die Demonstrationen in Selma 1965 der Höhe- und Endpunkt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gewesen. Tatsächlich hat sie sich weiter radikalisiert und ausgeweitet. Zudem sind die Reden von Martin Luther King nicht seine tatsächlichen Worte, sondern wurden von der Regisseurin neu geschrieben. Das liegt allerdings an dem Umstand, dass im Kapitalismus selbst gesprochene Wörter zu Waren werden, für die man bezahlen muss: Die Nachfahren von King haben seine Reden und Lebensgeschichte an Steven Spielberg verkauft, der irgendwann einen eigenen Film darüber machen will.
Nichtsdestotrotz bringt „Selma“ uns heute Lehren der damaligen Bewegung nahe. Das ist auch deshalb wichtig, weil in den USA bekannte Führer der heutigen antirassistischen Bewegung wie Al Sharpton und Jesse Jackson das Bündnis mit Präsident Barack Obama suchen, in der Hoffnung, er würde umsetzen, zu was die Bewegung nicht in der Lage ist. Ein Film, der für jeden Linken interessant ist, und vor allem für jeden jungen Schwarzen in den USA.
Foto: Σταύρος
Schlagwörter: Bürgerrechtsbewegung, Kultur, Martin Luther King, Rassismus