Seit mehr als dreißig Jahren dreht Jim Jarmusch Filme, die die Welt in einem anderem Licht erscheinen lassen. Auch der neueste Streifen »Paterson« hält das Publikum mit Ereignissen in Atem, die eigentlich niemanden interessieren. Von Phil Butland
Paterson (Adam Driver) ist Busfahrer und Dichter und lebt nicht ganz zufällig auch in Paterson, New Jersey. »Paterson« ist auch der Name einer Gedichtsammlung von William Carlos Williams, einem Schriftsteller der Moderne, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in New Jersey lebte. Seine Gedichte erscheinen im Film in unterschiedlicher Form. In Carlos Williams Lyrik, die wie Haikus wirkt, geht es eher um Rhythmus und Stimmung als um den Inhalt. Eins der bekanntesten Gedichte lautet: »so viel hängt ab / von einer roten Schubkarre / glänzend vom Regenwasser / bei den weißen Hühnern« Der Ton ähnelt Jim Jarmuschs bedächtigen Filmen mit ihrem Anspruch von Allwissenheit.
»Paterson«: Es passiert nichts.
Im Film »Paterson« passiert nichts. Immer wieder. Paterson, der Mann, steht jeden Morgen früh auf und fährt seinen Bus. Seine Mittagspause verbringt er an einem Wasserfall und arbeitet an seinem aktuellen Gedicht. Am Ende seiner Schicht übergibt er den Bus an den immer mürrischen Donny (Rizwan Manji). Paterson geht nach Hause, hängt den Briefkasten gerade und schaut nach, welchen Teil des Hauses seine Freundin, die Künstlerin Laura (Golshifteh Farahani) heute schwarz-weiß angemalt hat. Später nimmt er Lauras Mops Marvin mit in die Kneipe und beobachtet das Leben anderer Leute.
Das alltägliche Leben im Arbeiterviertel
Der Film spielt in einem unspektakulären aber ethnisch gemischten Arbeiterviertel. Es gibt keine Verfolgungsjagden oder große Explosionen – so ein Film ist es nicht. In »Paterson« geht es um das alltägliche Leben. Und wie in den meisten Leben passiert meistens nichts. Bis auf ein untypisches Aufflammen von Aufregung am Ende des Films ist das größte Ereignis eine Buspanne.
Die Beziehung zwischen Paterson und Laura ist beinahe völlig frei von Konflikten oder sogar Erregung. Wenn sie sich dazu entschließen, am Freitagabend ins Kino zu gehen, ist das eine Riesensache. Die restliche Zeit verbringen sie mit liebevollem, aber banalem Geplänkel. Im echten Leben würde man wahrscheinlich tunlichst jeden unnötigen Kontakt mit ihnen vermeiden – aber im Film erscheinen sie als sympathische Menschen.
In »Paterson« leben die Hintergrundgespräche auf
Die spärliche Aufregung im Film spielt sich in den Hintergrundgesprächen ab. In Patersons Bus erzählt ein schwarzes Kind seinem Kumpel die Geschichte des schwarzen Boxers Ruben »Hurricane« Carter, der in den 1960er Jahren Opfer eines rassistischen Justizskandals wurde. Bauarbeiter verarschen sich gegenseitig wegen verpasster Flirtchancen und ein paar Studenten diskutieren über italienische Anarchisten. Diese Geschichten driften in unser Bewusstsein und werden danach nie wieder erwähnt. Ähnlich schlägt auch Patersons normalerweise ereignisloses Leben manchmal bizarre Volten: Eine Gruppe schwarzer Jugendlicher belehrt ihn aus ihrem Auto heraus über sicheren Umgang mit Hunden, er trifft zufällig den bekannten Rapmusiker Method Man, welcher in einem Waschsalon probt, Laura überrascht ihn mit der kulinarischen Innovation eines Rosenkohl-Käse-Kuchens. Unser Mitgefühl ist ihm sicher, als er das Gebäck mit sichtlichem Unbehagen verzehrt.
Trailer
»Paterson« eine Komödie?
»Paterson« wird als Komödie präsentiert, allerdings hat man es nicht mit Humor zum laut Lachen zu tun, sondern eher mit trockener Beobachtung. Uns begegnen weniger Witze als vielmehr schrullige Persönlichkeiten – vom Schauspieler Everett (William Jackson Harper) mit seinem katastrophalen Liebesleben bis zu Doc, dem Wirt (Barry Shabaka Henley), der eine Galerie aus Zeitungsausschnitten von Prominenten mit einer vagen Verbindung mit der Stadt angelegt hat. Gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, dass Jarmusch es übertreibt und die Figuren eher kitschig als charmant sind. Manche sind vielleicht ergriffen von einer zehnjährigen Dichterin, die »die Gedichte, die sich nicht reimen« bevorzugt, und überrascht angesichts eines Busfahrers, der Emily Dickinson mag. Mich schüttelt es. Und wenn dann der stereotype, undurchschaubare japanische Tourist auftaucht… na ja, davon später.
Wer ist Jim Jarmusch?
Erst einmal ist es Zeit für einen Rückblick. Schon mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit Jim Jarmusch mit »Stranger than Paradise« als einer der interessantesten Regisseure der »Neuen Welle« bekannt wurde, die sich in den frühen 1980er Jahren entwickelte. Teils als Reaktion auf die (für damalige Verhältnisse) teuren Blockbuster wie »Krieg der Sterne« und »Der weiße Hai« drehten die Filmemacher mit unbekannten Schauspielerinnen und Schauspielern und einem kleinen Budget (die Produktion von »Stranger than Paradise« kostete 110.000 Dollar).
Jarmusch ging noch weiter und beschäftigte als Darsteller Musiker wie Tom Waits (»Down By Law«), Joe Strummer (»Mystery Train«) oder verschiedene Mitglieder des Wu-Tang Clan (Method Man ist einer davon).
Jarmusch vergleicht seine Filme mit Punkrock
Der Filmemacher ist selbst auch Sänger und Musiker – der Soundtrack von »Paterson« stammt von seiner Band Sqürl. Seine Art des Filmemachens hat Jarmusch häufig mit Punkrock verglichen, wegen seiner Bevorzugung des Stils vor naturgegebenem Talent. Im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen war Jarmusch nie explizit politisch – er drehte keine Filme über Rassismus oder Klassenkampf wie Spike Lee und John Sayles. Teils als Folge davon, wann und wie sie gemacht wurden, sind seine Filme aber dennoch letztendlich politisch. So argumentiert auch der Kulturjournalist Peter Biskind in seinem Buch »Down and Dirty Pictures« über die »Neue Welle«. Nachdem er ausdrücklich Jarmusch erwähnt, schreibt er: »Independent-Filme waren nie programmatisch links oder überhaupt ›politisch‹, außer vielleicht mal in ganz schwacher Form, aber viele waren durchdrungen von einer ›wir gegen die‹-Haltung gegenüber den großen Filmstudios und anderen US-amerikanischen Institutionen (…) sie waren quasi per Definition Außenseiterfilme und deshalb – mehr oder weniger ausgeprägt – grundsätzlich oppositionell.«
Jim Jarmuschs Helden sind nicht nur Außenseiter und Underdogs, sondern auch sozial Ausgestoßene, die wenig Verbindungen zur Gesellschaft haben. Ob William Blake in »Dead Man« oder der gleichnamige Charakter in »Ghost Dog – Der Weg des Samurai«, Jarmuschs Protagonisten (normalerweise Männer) sind sich meist selbst genug und dem modernen Leben nur vorübergehend verbunden.
Kuschelige Arthouse-Athmosphäre?
Gleichzeitig gelang Jarmusch, woran viele andere Indie-Filmemacher scheitern: Er zeigte eine funktionierende Gesellschaft, die nicht ausschließlich von weißen Mittelklasse-Akademikern bevölkert wird. Auch wenn wir ihm vielleicht nicht ganz abnehmen, dass Busfahrer regelmäßig mit Schauspielern trinken gehen, sind Jarmuschs Charaktere deutlich interessanter als die wohlhabenden weißen Leuten, die in kuscheliger Arthouse-Athmosphäre mit ihren Erste-Welt-Problemen ringen (»Maggies Plan« steht mir besonders vor Augen, aber es gibt wahrlich genügend »alternative« Filme, auf die das zutrifft). Durch Jarmuschs Filme läuft nicht nur gelegentlich eine Person, die nicht der elitären weißen Gesellschaft angehört. Weil die Handlung in einfachen Arbeitervierteln spielt, sind nicht-weiße Charaktere individuelle Persönlichkeiten und nicht unfreiwillige Sprecherinnen und Sprecher für alle Leute ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Die meisten Figuren in »Paterson« sind nur zufällig People of Colour – mit der unglücklichen Ausnahme des japanischen Touristen stehen sie nicht stellvertretend für etwas anderes als sich selbst.
Wut über die Oberflächlichkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft
Obwohl nur wenige Zuschauerinnen und Zuschauer sich in Paterson und Laura, oder ihrer nervtötend friedlichen Beziehung, wiedererkennen dürften, fühlen wir doch mit ihnen – zwei arbeitende Menschen, die trotzdem kreativ und intelligent sind. Laura ist manchmal anmaßend, was man ihr verzeihen kann, da sie nicht versucht, jemanden zu beeindrucken. Ihre Begeisterung und Lust auf neue Erfahrungen machen gleichermaßen abhängig (auch wenn ihr Charakter nicht ganz gut ausgearbeitet ist und hier manchmal ins Klischee abdriftet).
»Paterson« zeigt uns ein in sich geschlossenes Universum und ist vielleicht am schwächsten, wenn diese Welt von anderen Menschen besucht wird. Ziemlich am Ende taucht ein japanischer Tourist auf, verwickelt Paterson in ein Gespräch und bedenkt ihn mit Weisheiten, die sein Leben für immer verändern könnten. Das ist typisch für Jarmusch, den die gerechtfertigte Wut über die Oberflächlichkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft manchmal dazu verleitet, in wohlklingender östlicher Philosophie nach Lösungen zu suchen. Das kann uns den Auftritt von Personen von außerhalb des weißen US-amerikanischen Kulturkreises bescheren, die weise Ratschläge anbieten. Bis man darüber nachdenkt, was sie gerade gesagt haben, und es sich als sinnloses Geschwafel entpuppt.
Paterson verweigert sich dem Smartphone
Letztendlich kann das zu einer Art von »Othering« führen – Leute aus anderen Kulturen so zu behandeln, als wären sie irgendwie anders als du oder ich. Auch wenn beabsichtigt ist, ihrer Weisheit zu huldigen, kann das bedeuten, dass wir sie als etwas sehen, was kritiklos verehrt statt ernst genommen wird (Man könnte hier die Meinung vertreten, dass der Film Laura ähnlich behandelt. Laura wird nicht nur von einer Person mit iranischem Hintergrund gespielt, sondern auch von einer Frau). Doch »Paterson« macht am meisten Spaß, wenn man nicht allzu viel darüber nachdenkt. Der Film kommt ohne den Stress des modernen Lebens aus – Paterson verweigert sich dem Smartphone und speichert nicht einmal seine Gedichte im Computer. Am besten funktioniert der Film, wenn man sich einfach berieseln lässt. Wenn man den Fluss unterbricht und anfängt, unangenehme Fragen zu stellen, kann ich verstehen, dass man auf Probleme stoßen könnte. Aber warum sollte man das tun?
Das Subversive der Banalität
Mit seinen heiteren Routinen und den Gedichten über Streichhölzer der Marke Ohio Best Tip eröffnet »Paterson« ein gelasseneres Universum, das für uns nicht mehr existiert – wenn es denn jemals Wirklichkeit war. Er ist das genaue Gegenteil zu einem Actionfilm von Michael Bay, der einen ständig am Ärmel zerrt und unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Das allein ist Grund genug, sich über »Paterson« zu freuen. Jarmusch ist es gelungen, das Banale interessant, sogar aufregend zu machen. Vielleicht bleibt am Ende wenig übrig, aber manchmal ist die Reise wichtiger als das Ziel.
»Paterson«
USA 2016
Drehbuch und Regie: Jim Jarmusch
Darsteller: Adam Driver, Golshifteh Farahani
Verleih: Weltkino Filmverleih
Länge: 118 Minuten
Start: 17. November 2016
Foto: © Mary Cybulski
Schlagwörter: film, Jim Jarmusch, marx21