Am 9. Oktober wäre John Lennon 75 Jahre alt geworden. Phil Butland erinnert daran, dass es im Leben dieses Künstlers mehr gab als die Beatles und träumerische Friedenslieder.
Seinen Geburtstag müssen wir leider ohne ihn feiern, denn in zwei Monaten gibt es einen weiteren, traurigen Jahrestag zu begehen: Vor 35 Jahren, am 8. Dezember 1980, wurde Lennon von Mark David Chapman erschossen. Der Musiker hatte gerade sein erstes Album seit fünf Jahren veröffentlicht.
Wenn man heute an John Lennon denkt, hat man meist den Hippie und Pazifisten vor Augen, der Lieder wie »Imagine«, »Give Peace a Chance« und »All You Need is Love« geschrieben hat. So war er auch, aber er war viel mehr als das. Wendungen und Entwicklungen kennzeichneten sein Leben – manchmal waren es Fortschritte, manchmal auch Rückschritte, die seinen künstlerischen Ausdruck und seinen politischen Standpunkt bestimmten. In seiner kurzen Lebenszeit war er rebellischer Rocker, angepasstes Mitglied einer Boyband, Esoteriker und für einige Zeit auch revolutionärer Sozialist.
Geprägt von Arbeiter- und Hafenstädten
Lennons Weg ist eng mit zwei Städten verbunden – seiner Heimatstadt Liverpool und Hamburg, wo die Beatles ihre ersten großen Auftritte hatten. Beides sind Arbeiter- und Hafenstädte und waren daher Kontaktpunkte zu den US-Amerikanern, die begannen, neue Musik nach Europa zu bringen.
In den 1950er Jahren war Popmusik ein neues Phänomen, das frischen Wind in die konservativen Nachkriegsgesellschaften brachte. Doch als die Beatles im Jahr 1960 nach Hamburg zogen, hatte die junge Musikszene bereits eine erste Krise erfahren. Lemmy, der Sänger der Band Motörhead, erinnerte sich in einem Interview im August 2015 an die erste Generation der rebellischen Musiker: »Schon nach zwei Jahren waren sie alle weg. Chuck Berry saß im Gefängnis (wegen illegaler Grenzüberquerung mit einer Minderjährigen). Die britische Presse zerstörte Jerry Lees Karriere (weil er seine 13-jährige Cousine heiratete). Elvis war in der verdammten Armee. (…) Und dann kamen Bobby Rydell und solche Flachwichser. Es dauerte ein paar Jahre, sie loszuwerden, und dann kamen die Beatles. Das war in Ordnung.«
Es ist keine Tragödie, dass sich heute niemand mehr an Bobby Rydell erinnert. Aber kurzfristig dominierte sein kitschtriefender Zuckerwattepop die Hitlisten. Im Gegensatz dazu spielten die Beatles Lieder von schwarzen Musikern wie Chuck Berry, Little Richard und den Isley Brothers, die es kaum im Rundfunk zu hören oder in Plattenläden zu kaufen gab.
Hier zeigte sich der Vorteil von Hafenstädten wie Liverpool oder Hamburg. Wer sich dafür interessierte, konnte Platten von Matrosen kaufen und diese Musik begleitete die wachsenden Subkulturen, die sich fernab der Hauptstädte entwickelten. Durch einen geografischen Zufall befanden sich die Beatles im Zentrum eines entscheidenden Moments in der Geschichte moderner Musik.
Inszenierter Krieg gegen die Rolling Stones
Doch war dies nicht von langer Dauer. Dank Manager Brian Epstein tauschte Lennon die Lederjacke, die er in Hamburg getragen hatte, gegen einen Anzug und einen vernünftigen Haarschnitt ein. Ein künstlerischer Krieg gegen Mick Jaggers Rolling Stones wurde inszeniert, mit den Stones als Rebellen und den Beatles als netten Jungs, die Mädchen auch ihren Eltern vorstellen könnten. Songtitel bildeten die Waffen in diesem Kampf: Jagger bot seinen Fans an, die Nacht mit ihm zu verbringen (»Let‘s Spend the Night Together«), für Beatles-Fans gab es Händchenhalten (»I Want to Hold Your Hand«). Jagger hatte Verständnis für den Teufel, die Beatles suchten Hilfe bei ihren Freunden. Die Stones konnten keine Befriedigung finden, die Beatles sangen mild: »Let It Be«.
Lennons Lieder sind trotzdem hervorragend und die Beatles waren auch nie so brav, wie ihr Manager sie verkaufte.
Nichtsdestotrotz zogen sie die Aufmerksamkeit des britischen Premierministers Harold Wilson auf sich. Der Wahlbezirk des Labour-Politikers lag in Liverpool und er gelangte im Jahr 1964 ins Amt, zur Zeit des Höhepunkts der »Beatlemania«. Zudem entstammte Wilson der Arbeiterklasse – genau wie die Beatles und anders als sein konservativer Amtsvorgänger Lord Alec Douglas-Home.
Wilson begeisterte sich für das »Leuchtfeuer der Technologie« und veranlasste die Neugründung von Universitäten und Kunsthochschulen. Besonders letztere waren wichtig für zukünftige Musiker, die so Zugang zu einer Ausbildung erhielten, die ihren Eltern verwehrt geblieben war. Es gab also durchaus Gründe für Lennon, sich dem Sozialdemokraten Wilson verbunden zu fühlen.
So kam es, dass der Premierminister die vier Beatles im Jahr 1965 in seinem Amtssitz in 10 Downing Street empfing und zu Mitgliedern des Verdienstordens des Britischen Weltreiches (MBE) machte. Inzwischen wurden viele Künstler in diesen Orden aufgenommen, aber Wilson hat als erster Politiker erkannt, dass er durch die Ehrung von Popmusikern eine junge Wählergeneration erreichen konnte.
Lennon und 1968
Drei Jahre später protestierte die 68er-Bewegung gegen Wilsons Unterstützung des Vietnamkriegs. Auf der Straße war Mick Jagger, der gerade das Lied »Street Fighting Man« geschrieben hatte. Lennons Reaktion war ambivalenter. Auch er schrieb ein Lied über die Bewegung. Es heißt »Revolution« und enthält folgende Zeilen: » If you go carrying pictures of Chairman Mao / You ain‘t gonna make it with anyone, anyhow« (»Wenn du Bilder des Vorsitzenden Mao herumträgst / Wirst du bei niemandem etwas erreichen, niemals«), sowie: »But when you talk about destruction / Don‘t you know that you can count me out« (»Aber wenn du von Zerstörung redest / Zähl nicht auf mich«).
So lautete zumindest der Text auf der Single. Zwei Monate später sang Lennon bei der Aufnahme des Lieds für das »White Album«: »… you can count me out – in« (»… zähl nicht auf mich – zähl auf mich«).
Das Jahr 1968 war sowohl für die Stones als auch für Lennon ein Wendepunkt. Jagger und Konsorten betraten die abschüssige Bahn zu Konservatismus und Steuerflucht. Gleichzeitig begann John Lennons radikalste Phase.
Im Jahr 1969 schickte er seinen MBE mit folgender Erklärung an die britische Königin zurück: »Ihre Majestät, ich gebe meinen MBE aus Protest gegen die britische Beteiligung an der Nigeria-Biafra-Sache, unsere Unterstützung Amerikas im Vietnamkrieg und den Abrutsch von ›Cold Turkey‹ in den Charts zurück. In Liebe. John Lennon«.
Radikale Auftritte
Er begann, an Demonstrationen teilzunehmen, allerdings zunächst auf eigenwillige Weise. An der Demonstration für James Hanratty, einem der letzten Opfer der Todesstrafe in Großbritannien, beteiligte er sich in einen Sack gehüllt im Kofferraum eines Rolls Royce. Bei einem Protest gegen Atomwaffen machte er telefonisch mit.
Bis 1971 erlernte er einen radikalen Auftritt. Der Journalist Robin Denselow berichtete: »Er marschierte durch London und trug ein Plakat ›Red Mole für die IRA und gegen den britischen Imperialismus‹ und skandierte ›Alle Macht dem Volk‹. Am folgenden Tag spendete er Tausend Pfund an den Gewerkschaftsfonds für schottische Schiffbauer, die sich im Arbeitskampf befanden.« (»Red Mole«, der rote Maulwurf, war eine unter anderem von Tariq Ali herausgegebene revolutionäre Zeitschrift, Anm. d. Red.).
John Lennon war sein ganzes Leben lang überzeugter Antirassist. Die Beatles haben sich immer geweigert, im Südafrika der Apartheid aufzutreten, und Lennon blieb hier aktiv. Die britische Sozialistin Sally Kincaid erzählt, was passierte, nachdem Aktivistinnen und Aktivisten im Jahr 1970 ein Spiel der südafrikanischen Rugbymannschaft verhindert hatten und viele von ihnen zur Zahlung von Bußgeld verurteilt wurden: »Bei einem Treffen, um Spendenaktionen für die Geldbußen zu organisieren, schlug meine Mutter Audrey vor, die Beatles zu bitten, ein Benefizkonzert in Aberdeen zu spielen. Sie schrieb John Lennon an. Er antwortete sofort, dass die Beatles nicht verfügbar seien, aber er schickte einen Scheck, um die Geldbußen zu bezahlen.«
Politische Radikalisierung
Lennons politische Radikalisierung trug zu einer künstlerischen Entwicklung bei. »Imagine« und »Give Peace a Chance« sind dabei die uninteressantesten Lieder dieser Epoche. »Working Class Hero« ist ein Aufruf zum Klassenkampf gegen die, die »dich hassen, wenn du klug bist, und den Dummkopf verachten«. »Power to the People« zeigt seine Entwicklung seit »Revolution«. Nun sang er: »Say you want a revolution / We better get on right away / We’ll you get on your feet / And out on the street.« (»Du willst eine Revolution? / Wir müssen sofort loslegen / Wir bringen dich auf die Beine / Und auf die Straße«).
Und dann geschah der »Bloody Sunday« am 30. Januar 1972: Britische Truppen erschossen 14 unbewaffnete Demonstrierende im nordirischen Derry. Lennon, der inzwischen in New York lebte, nahm an Protestaktionen teil und veröffentlichten zwei Lieder, »Sunday Bloody Sunday« und »Luck of the Irish«, beides harte Angriffe gegen den britischen Imperialismus: »A thousand years of torture and hunger / Drove the people away from their land / A land full of beauty and wonder / Was raped by the British brigands« (»Tausend Jahre Folter und Hunger / vertrieben die Menschen von ihrem Land / Ein Land voller Schönheit und Wunder / Wurde von britischen Räubern vergewaltigt«)
Im Jahr 1972 veröffentlichte Lennon »Some Time in New York City«, sein explizit politischstes Album. Dies war leider auch schon sein künstlerischer Höhepunkt. In den folgenden Jahren brachte er noch einige spannende Beiträge, nicht zuletzt »Mind Games« (meiner Meinung nach eine sehr unterschätzte Platte) und »Fame« zusammen mit David Bowie, aber zwischen 1975 und 1980 nahm er eine Auszeit von der Musik und der Politik.
Rückzug in den späten 70ern
So verpasste Lennon die Bewegung um Punk, »Rock Against Racism« und die Massenmobilisierung von britischen Musikern gegen Faschismus. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Neil Young, der den Sänger der Band Sex Pistols, Johnny Rotten, in »Hey Hey My My« besang, schwieg Lennon.
Ein besonders enttäuschender Vorfall ereignete sich im Jahr 1975. Im New Yorker Central Park fand ein kostenloses Konzert statt, um das Ende des Vietnamkriegs zu feiern – direkt gegenüber von Lennons Luxuswohnung. Zahlreiche Musikerinnen und Musiker traten auf. Lennon schaffte es nicht einmal, von seinem Balkon aus zuzusehen.
Wie kam es, dass Lennon so schnell in der Passivität versank? Eine Erklärung bietet der Zustand der Bewegung in den USA. Als der Ex-Beatle im Jahr 1972 dorthin zog, war die Dynamik von 1968 bereits wieder verpufft. Das FBI hatte die Black Panther zersetzt und die Sozialistinnen und Sozialisten, mit denen Lennon Kontakt hatte – Leute wie Jerry Rubin – waren Linksradikale ohne soziale Verankerung. Einst hatte Lennon Tariq Ali aufgefordert, auf junge Arbeiterinnen und Arbeiter zuzugehen. Nun hatte er selbst jeden Kontakt zur Arbeiterklasse verloren.
Als sich John Lennon im Jahr 1980 zurückmeldete, waren die Erwartungen riesig. Aber wenn wir ehrlich sind, blieben diese künstlerischen Werke eher mittelmäßig. Auf dem Album »Double Fantasy« finden sich ein paar gute Lieder, aber auch viel Schrott. Sein posthum veröffentlichtes Album »Milk and Honey« hinterließ noch weniger bleibenden Eindruck.
Lennons Leben feiern
Ob Lennon noch einmal zu neuer Inspiration gefunden hätte, werden wir nie erfahren. Letztendlich spielt das auch keine Rolle. John Lennon hatte seinen Beitrag bereits geleistet. Zwischen 1962 und 1975 schrieb und sang er einige der besten Lieder unseres Zeitalters. Sein politischer Einsatz ist natürlich ein Bonus.
Wir sollten die Gelegenheit nutzen, sein Leben zu feiern und seinen Tod zu betrauern – und darauf achten, dass dabei nicht nur das Klagelied »Imagine« in der Erinnerung verbleibt.
Foto: Ed Yourdon
Schlagwörter: 1968, Großbritannien, Kultur, Musik, Revolution, Südafrika, Vietnamkrieg