Gesundheitsminister Jens Spahn will eine Impfpflicht für Masern einführen. Nun hat das Bundeskabinett seinen Gesetzentwurf beschlossen. Der Vorstoß bedeutet einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Am Problem geht er dennoch vorbei. Von Gesine Goldammer und Martin Haller
Einst gab es sie für Pocken und in der DDR auch für einige andere Krankheiten und stets war sie umstritten – die Impfpflicht. Seit kurzem ist sie wieder in aller Munde, nachdem Gesundheitsminister Jens Spahn einen Gesetzesentwurf vorgelegt hat, mit dem die zweifache Masernimpfung für Kita- und Schulkinder verpflichtend werden soll.
Hunderttausend Tote weltweit
Auf den ersten Blick wirkt der Vorstoß des Ministers vernünftig: Masern sind extrem ansteckend und können besonders für junge und schwache Menschen sehr gefährlich werden. Im Jahr 2017 starben weltweit etwa 110.000 Menschen an der Krankheit – die meisten von ihnen waren unter fünf Jahre alt. Dieses Jahr haben sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) allein bis März mindestens 112.000 Menschen mit Masern infiziert – viermal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die tatsächlichen Zahlen liegen jedoch wohl noch deutlich höher. So geht die WHO davon aus, dass nur jeder zehnte Fall gemeldet wird.
Auch in Europa ist die Zahl der Masernerkrankungen zuletzt stark angestiegen: So viele Menschen wie seit zehn Jahren nicht mehr haben sich 2018 in der Europa-Region der WHO mit Masern angesteckt. Die Zahl der Fälle stieg innerhalb eines Jahres auf das Dreifache, berichtete das WHO-Büro Europa in Kopenhagen. Verglichen mit 2016 hätten sich sogar 15-mal so viele Menschen angesteckt.
Impfquote und Herdenimmunität
Angesichts dieser dramatischen Zahlen scheint politisches Handeln dringend erforderlich. Durch konsequentes Impfen könnte die Krankheit ausgerottet werden. Ursprünglich sollte dieses Ziel schon vor Jahren erreicht werden. Nötig wäre dafür laut WHO eine Impfquote von mindestens 95 Prozent. In den armen Weltgegenden haben viele Menschen jedoch nach wie vor keinen Zugang zur Masernimpfung und in den Industrienationen wächst die Zahl der sogenannten Impfgegnerinnen und -gegner.
Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, auch die Gesundheit anderer bedroht. Um Menschen schützen zu können, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, müssen genügend Personen in ihrem Umfeld immunisiert sein, damit das Virus gar nicht erst auftreten kann – dieses Konzept nennt man Herdenimmunität. Und genau damit begründet auch Jens Spahn seinen Vorstoß für eine Impfpflicht.
Impfpflicht in Deutschland
Doch der vorgelegte Gesetzentwurf bedeutet einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und geht dennoch am Problem vorbei: Denn in Deutschland ist die Impfbereitschaft allgemein sehr hoch. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) haben im Jahr 2017 97 Prozent der Kinder immerhin die erste und 93 Prozent auch die zweite Impfdosis erhalten. Damit liegt die Impfquote für Kita- und Schulkinder nur knapp unter den 95 Prozent, welche die WHO als notwendig erachtet, um die Masern auszurotten. Um Jugendliche und Erwachsene zu erreichen, welche die Mehrheit der Erkrankten ausmachen, sieht das Gesetz hingegen keine Maßnahmen vor.
Ein Blick auf die Zahl der Erkrankungen in Deutschland zeigt zudem, dass wir weit davon entfernt sind, dass hierzulande eine Epidemie droht. Dass die Zahlen stark schwanken, ist normal. Kommt es zu einem Ausbruch, schnellen sie in die Höhe. So hat es im Jahr 2017 laut WHO 929 Masernfälle in Deutschland gegeben, gegenüber 325 im Jahr 2016. Die Zeitungen titelten daraufhin: »Zahl der Masernkranken verdreifacht«. Für 2018 ist nach Angaben des RKI jedoch wieder ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Die Schlagzeilen blieben aus.
Einen schwereren Masern-Ausbruch hatte es in Deutschland zuletzt von Oktober 2014 bis August 2015 gegeben. In Berlin hatte es damals sogar einen Todesfall gegeben: Mitte Februar 2015 starb in Reinickendorf ein anderthalbjähriger Junge.
Staatlicher Zwang ist der falsche Weg
Obwohl die Masernfälle in Deutschland im weltweiten Vergleich sehr gering sind, ist natürlich jede Erkrankung, die hätte verhindert werden können, eine zu viel. Allerdings ist staatlicher Zwang der falsche Weg, um die Impfquote weiter zu erhöhen – selbst wenn er, anders als in Spahns Gesetzentwurf, die richtige Personengruppe träfe.
Wenn es nach Jens Spahn geht, drohen in Zukunft ohne einen entsprechenden Impfnachweis der Ausschluss von der Kita und bis zu 2.500 Euro Bußgeld. Eine Befreiung der Pflicht soll nur aus medizinischen Gründen erfolgen dürfen.
Wer es sich leisten kann, könnte sich also von der Impfpflicht freikaufen, was faktisch auf einen selektiven Impfzwang für Geringverdiener und Arbeitslose hinausläuft. Und in erster Linie würden ihre Kinder darunter leiden, die mit einem Kitaausschluss für das Verhalten ihrer Eltern bestraft werden würden.
Widerstand der Impfgegner
Überzeugte Impfgegnerinnen und Impfgegner werden sich durch eine solche Impfpflicht in ihrer Ablehnung nur bestärkt fühlen und ihr nicht ohne weiteres nachkommen. Das zeigt etwa das Beispiel Australien, wo die Pflicht bereits vor Jahren eingeführt und mehrfach verschärft wurde. Doch viele Eltern sind eher bereit Strafgelder zu zahlen, als dem staatlichen Zwang nachzukommen.
Auch Beispiele aus den USA, in denen mehrere Bundesstaaten unterschiedlich geartete Formen der Impfpflicht haben, zeigen, dass auf Zwang zu setzen, die falsche Lösung ist, da es den Widerstand aus der Bevölkerung noch erhöht – so etwa in Kalifornien. Währenddessen konnte in anderen Staaten, die auf freiere Formen setzten – etwa Washington, wo man sich nach einem aufklärenden Arztgespräch auch aus nicht-medizinischen Gründen befreien lassen kann – die Impfquote wirksamer gesteigert werden.
Aufklärung und verbesserter Zugang
Die Skepsis gegenüber dem Impfen lässt sich nicht mit staatlichem Zwang bekämpfen. Statt einer Impfpflicht braucht es mehr Aufklärung und einen verbesserten Zugang zu Impfungen, besonders in ländlichen Regionen. Dies könnte unter anderem durch die Wiedereinführung der Möglichkeit zur Impfung direkt in Schulen und Kitas erreicht werden.
Besonders im skandinavischen Raum zeigt sich, dass ausreichend hohe Impfraten auch ohne Zwang erreicht werden können. Als sehr hilfreich haben sich dort Erinnerungssysteme erwiesen, die ein schlichtes Vergessen der Zweitimpfung verhindern können – ein höchstwahrscheinlich deutlich häufigerer Grund als die bewusste Verweigerung.
Misstrauen gegenüber Gesundheitswesen
Statt das Vertrauen in die Sicherheit der Masernimpfung zu erhöhen, würde eine Impfpflicht nur diejenigen weiter verunsichern, die aufgrund von Falschinformationen, die zuhauf im Internet kursieren, schon jetzt skeptisch eingestellt sind. Fachleute befürchten zudem, dass eine Pflicht für eine einzelne Impfung die Quote für andere Impfungen verschlechtern könnte – entweder aus Trotz, oder aber weil andere Erkrankungen weniger ernst genommen werden könnten, da ihnen scheinbar ein geringerer Stellenwert beigemessen wird.
Nicht zuletzt ist die wachsende Impfskepsis Folge eines tiefsitzenden Misstrauens gegenüber einem Gesundheitswesen, in dem der Profit oft mehr zählt als die Gesundheit der Allgemeinheit. Die Angst, dass Pharmakonzerne ihre Profitinteressen über das Allgemeinwohl stellen, ist berechtigt. Das haben nicht nur Arzneimittelskandale wie im Fall des Schlafmittels Contergan bewiesen.
Um den Impfgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, wäre es daher, neben Aufklärungskampagnen und mehr Beratungsstellen, auch nötig, die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems rückgängig zu machen und der Pharmalobby den Kampf anzusagen.
Foto: Tim Reckmann | a59.de
Schlagwörter: Gesundheit, Gesundheitspolitik, Inland, Krankenhaus