Vor hundert Jahren erschütterte die Oktoberrevolution Russland und die Welt. In der neuen Ausgabe des Journals theorie21 beleuchten wir die Hintergründe und fragen nach der Übertragbarkeit der historischen Erfahrungen auf die heutige politische Praxis
von Rhon Kellner und Kasper Ange
Die Russische Revolution war eine der bedeutendsten Emanzipationsbestrebungen der Geschichte. Sie löste eine massenhafte Politisierung und das Mündigwerden der arbeitenden Bevölkerung aus. Für kurze Zeit schufen Menschen die fortschrittlichste Gesellschaftsordnung ihrer Zeit. Die Arbeiter- und Soldatenräte waren gelebte Demokratie von unten. Sie traten für Frauenrechte ein und stellten traditionelle Besitzverhältnisse in Frage. Obwohl die Errungenschaften dem bald folgenden Bürgerkrieg und dem Stalinismus zum Opfer fielen, ist die Russische Revolution auch heute noch ein wichtiger Bezugspunkt für den Kampf für eine bessere Welt.
Die neue theorie21-Ausgabe widmet sich diesem historischen Ereignis. Was keine leichte Aufgabe ist: Die bisher erschienene Literatur zu 1917 ist uferlos, kaum ein Ereignis führte zu einer derart kontroversen historischen Debatte. Wir möchten die Geschichte der Russischen Revolution von unten erzählen. Es geht uns im ersten Teil des Heftes darum, die Erinnerung an die Errungenschaften der Revolution nicht verloren gehen zu lassen. Der liberalen und konservativen Geschichtsschreibung wollen wir eine alternative Erzählung entgegensetzen, in der 1917 nicht den Anfang der stalinistischen Diktatur markiert. Die Geschichte von unten zu erzählen, ist auch deswegen wichtig, weil die Nacherzählung von Geschichte auf unser gegenwärtiges Selbstverständnis erheblichen Einfluss hat. Wenn die Russische Revolution in unserer Erinnerung nur mehr als Blutbad einer mörderischen Bande machtfixierter Männer auftaucht, verlieren wir ein wesentliches Argument für die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse fundamental umzustürzen.
Relevant für unsere gegenwärtigen Strategiedebatten
Aber wir schauen nicht nur als Historikerinnen und Historiker auf die Geschichte, sondern vor allem als Aktivistinnen und Aktivisten, die den Kapitalismus im Hier und Jetzt stürzen wollen. Deswegen müssen wir entscheiden, welche Elemente der historischen Auseinandersetzung besonders relevant sind für unsere gegenwärtigen Strategiedebatten. Zwei Aspekte der Oktoberrevolution scheinen uns besonders wichtig und werden daher im zweiten Teil des Journals behandelt. Zum einen stellt sich die Frage der Übertragbarkeit, also die Frage danach, ob und inwieweit die unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen von Russland im Jahre 1917 und unserer Gegenwart einen Vergleich politischer Strategien zulassen. Wir erörtern diese Frage an den Beispielen der Organisation linker Hegemonie, der Rolle von Gewerkschaften und der Bedeutung politischer Kunst. Zum anderen wagen wir einen Vergleich von revolutionärer Organisierung damals und heute: Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den bolschewistischen Organisationsformen ziehen, die uns in unseren heutigen Rahmenbedingungen von Nutzen sein können?
Neben dem Theoriejournal wird sich das Netzwerk marx21 auch mit anderen Publikationen in die Diskussion um die Russische Revolution einbringen. theorie21 soll eine lebhafte Debatte über 1917 anstoßen, um dem Anspruch gerecht zu werden, dass wir Theoriearbeit als Theorieproduktion verstehen. Das bedeutet, im Sinne einer Emanzipation von unten die Welt theoretisch zu durchdringen, um strategische Schlussfolgerungen für die Veränderung dieser zu formulieren. So ein Unterfangen ist anspruchsvoll und bedarf demokratischer und offener Diskussionen.
Schlagwörter: 1917, bolschewiki, Geschichte, Kommunismus, Lenin, Oktoberrevolution, Revolution, Russische Revolution, Trotzki