Seit nunmehr fünfzig Jahren setzt sich die Philosophin und Soziologin Frigga Haug mit dem Verhältnis von marxistischer und feministischer Theorie und Praxis auseinander. In ihrem aktuellen Buch blickt sie zurück auf ihren eigenen Lernprozess, der jedoch längst noch nicht abgeschlossen ist. Rhonda Koch hat es für uns gelesen
Zeit ihres Lebens kämpft Frigga Haug als demokratische Sozialistin mit bemerkenswerter Kraft für die Befreiung der Frau – in der Praxis wie in der Theorie. Ihr aktuelles Buch »Der Im Gehen erkundete Weg – Marxismus-Feminismus« beschreibt sie selbst als doppelten Lernprozess: »meinen eigenen, in dieser Hinsicht ist es ein autobiographisches Werk – und den eines sich herausbildenden feministischen Marxismus«. Diese Kombination ermöglicht den Leserinnen und Lesern – gewissermaßen als dritten Lernprozess – in eine ehrliche Erzählung einer inspirierenden Persönlichkeit einzutauchen. Die Darstellung vergangener Diskussionen bleibt beabsichtigt offen, lässt Fragen zu und stößt vor allem eigene Positionierungen und Denkprozesse an.
Marxismus als Aneignung der Welt
Zentral, so macht die Lektüre des Buches deutlich, ist in Frigga Haugs Denken jegliche gesellschaftlichen Phänomene als im Werden zu begreifen, als historisch und veränderbar, seien es gesellschaftliche Zustände oder Theorien und Analysen. Es ist ihr Anti-Dogmatsimus, der hinter ihrer philosophischen Methode steckt, die nach vorne schaut und nicht zur Ruhe kommen will und darf: »In dem wir so den Marxismus nicht als Dogma verstehen, sondern als eine Aneignung von Welt, die uns zur weiteren Aneignung auffordert […]«. Der Marxismus-Feminismus als »Lebensprojekt«, hat dementsprechend den doppelten Anspruch: »die Frauenbefreiung in den Marxismus einzuschreiben wie den Marxismus, also das große Projekt der solidarisch vergesellschafteten Arbeit, in den Feminismus.«
Notwendigkeit der Selbstkritik
Das Buch umfasst eine chronologische Anordnung ausgewählter Schriften der Autorin, die sie immer wieder aus heutiger Sicht kommentiert. So können wir in verschiedene Diskussionen zurückliegender Zeiten eintauchen – wie der Auseinandersetzung in der Zweiten Frauenbewegung um die Frage über das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung – und erfahren zugleich wie Frigga Haug diese Debatten und ihrer eigene Rolle selbst rückblickend einschätzt. Ihre Kommentare sind der rote Faden des Buches und schaffen es zugleich die Geschichte der Entwicklung des Begriffes des Marxismus-Feminismus in Deutschland nachvollziehbar zu machen. Sie sollen dabei nichts gerade rücken, sondern viel mehr die Entstehung und »Langsamkeit von Erkenntnisprozessen« verdeutlichen, und darüber hinaus die Notwendigkeit der Selbstkritik beteuern. Zu einer ihrer ersten Veröffentlichungen kommentiert sie 47 Jahre später: »Sie (also Frigga Haug) hört nicht zu. Sie sucht nicht. Sie zweifelt nicht.«
Geschlechtsverhältnisse als Produktionsverhältnisse
Den Erfahrungen im historischen SDS, der Entwicklungen der Frauen- und Arbeiterbewegung, aber auch ihrer Rolle als Mutter und angehende Akademikerin entspringt die Motivation, die Unterdrückung der Frau zu erforschen. Dies wird zu ihrem Lebensprojekt. Sie stößt in ihren Forschungen, sowohl in der Wissenschaft als auch als freie Publizistin, dabei immer wieder auf harsche Kritik, die sie das eine Mal entmutigt und das andere Mal bestärkt. Ihr Forschungsinteresse aber gibt sie nicht auf: unter dem Motto »Begriffsentwicklung als Maulwurfsarbeit« sucht sie für noch »Unausgedrücktes« Begriffe zu finden, um die unsichtbaren Dinge sichtbar zu machen. Die Leserin kann diese Suche nach Begriffen nachvollziehen, die schließlich Schritt für Schritt in ihrem Begriffsapparat münden: So erkennt Haug nach jahrelanger Forschung zum Beispiel: »Es ist der Begriff Produktionsverhältnisse, der neu gefasst werden muss, will man eine Theorie der Geschlechterverhältnisse erarbeiten, welche die Gesellschaftsverhältnisse und ihre Regulierung nicht aus den Augen verliert.« Diese Erkenntnis ist der Anfang ihrer heute befürworteten Formel, »Geschlechtsverhältnisse als Produktionsverhältnisse zu begreifen«. Der Begriff des »Herrschaftsknoten« als Zusammenkunft von kapitalistischer und patriarchaler Herrschaft entsteht ebenso in diesem Kontext, wie der Begriff des »Zivilisationsmodells«, der die Besonderheit westlicher Gesellschaften als »Systeme in denen Männerherrschaft sich mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise verbunden hat« beschreibt und in dem »Auseinander der Bereiche von Lebensproduktion und Lebensmittelproduktion« gipfelt.
Nicht nur Opfer, sondern Handelnde
Gespeist werden diese Forschungsprozesse von einer besonderen Methode, die sie entwickelt hat: der Erinnerungsarbeit. Eine »Methode, die kulturelles Einverständnis mit Normen und Moral hinterfragt und dafür Sprache und Text in ihrer Verwendung zum Gegenstand hat«. Damit rückt sie das Alltägliche in die Forschung, macht die Frauen nicht nur zum Objekt sondern zum Subjekt von Forschung, in dem die selbst erlebte Unterdrückung Gegenstand der Überlegungen wird. Eine Methode also, die emanzipatorisch angelegt ist und dafür plädiert sich als »Produzentin des eigenen Lebens« und nicht ausschließlich als Opfer zu begreifen. »Die Auffassung, das Frauen ausschließlich Opfer seien, schweigt darüber, wie sie aus der Position derer, über die gehandelt wird, in die Position von selber Handelnden gelangen können«, eine These, die sie 1980 in einem Vortrag mit dem Titel »Frauen – Opfer oder Täter« vertritt und die im Nachklang lange, breit und ziemlich kontrovers diskutiert wird.
Sexualisierung und Körper
Frigga Haugs Forschungsspektrum ist groß: daran lässt die Lektüre ihres Buches keinen Zweifel. Schade ist, dass heute mit Frigga Haug in Deutschland vor allem nur ihre »Vier-in-einem-Perspektive« verbunden wird. Spannend beispielsweise sind ihre Überlegungen zu Sexualisierung und Körper, die sicherlich in der heutigen Debatte helfen könnten. »Was geschieht wenn der Körper zum Einsatz von Vergesellschaftung wird?« »Frauen werden Objekte, Sklavinnen, die Kompetenzen erlangen, wie Lust zu bereiten ist, statt eigenes Begehren zu entwickeln. Sie akzeptieren ihre Unterordnung und bauen sie in ihre eigene Konstruktion ihrer Sozialkörper ein.«
Auch wegen dieser oftmals vergessenen Überlegungen von Frigga Haug lohnt sich ein Blick in dieses Buch. Die autobiographischen Anteile ermöglichen es der Leserin eine der wichtigsten deutschen Vertreterinnen des Marxismus-Feminismus kennenzulernen und somit auch ihre theoretischen Standpunkte besser zu begreifen. Das Projekt des Marxismus-Feminismus zeigt sich als ein facettenreiches Projekt, als langjährige und teils harte, vor allem aber nicht abzuschließende Arbeit. Es ist ein »ständiger Lernprozess«, den wir nicht »irgendwann fertig in Händen halten und in seinen Facetten bestimmen und dokumentieren können«. Es ist somit auch die Aufforderung zum Dialog und zur kollektiven Erarbeitung weiterer Erkenntnisse über den Zusammenhang von Feminismus und Marxismus, über das Verhältnis von Klasse und Geschlecht.
Die Problematik der Zwei-System-Logik bei Haug
In diesem Sinne möchte ich abschließend versuchen noch einen Kritikpunkt zu formulieren, der mir besonders wichtig erscheint, ihn weiter zu diskutieren. Es geht mir hierbei primär um die These des Herrschaftsknotens als Zusammenkunft von Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung: Zwar legt der Begriff des Herrschaftsknotens nahe, dass Patriarchat und Ausbeutung nicht von einander zu trennen sind, die Analyse der Unterdrückung der Frau also notwendig eine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise bedarf und andersherum, jedoch halte ich den theoretischen Ausgangspunkt dieser Zwei-System-Logik für problematisch. Indes erscheint es mir produktiver über die Grundlagen einer Gesellschaftsanalyse nachzudenken, die sowohl Erklärungen über die Unterdrückung der Frau als auch über Ausbeutung ermöglichen, ohne das eine systematisch von dem anderen trennen zu müssen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen müsste meiner Ansicht nach sein, dass wir jede Gesellschaft grundlegend als Produkt menschlicher Praxis, somit menschlicher Beziehungen und schließlich gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen. Der marxsche Begriff der Produktionsweise beispielsweise wäre damit nicht auf ein rein ökonomisches Verhältnis zu reduzieren, sondern beschriebe eine historisch spezifische Art und Weise, wie Menschen ihr Zusammenleben über ihre Arbeit, also gesellschaftliche Praxis, organisieren. Profitlogik und Ausbeutungsmechanismen lassen sich nicht als abstrakte, ökonomische Gesetze verstehen, sondern sind Produkt menschlicher Beziehungen.
Produktion und Reproduktion
Das Problem der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus ist also kein rein ökonomisches, sondern ein soziales. Es besteht darin, dass die Beziehungen und Verhältnisse in denen wir leben, nicht demokratisch kontrolliert sind, sondern von den Herrschenden reguliert werden. Unter den Bedingungen einer auf Profitmaximierung ausgerichteten Gesellschaftsordnung wird insbesondere die Organisierung der gesellschaftlichen Reproduktion im Verhältnis zur mehrwertgenerierenden Produktion (was mittlerweile teilweise auch reproduktive Tätigkeiten mit einschließt) massiv gedeckelt und gekürzt. Die soziale Gruppe, die diese Arbeiten erfüllen soll, sind die Frauen. Folglich ist es die kapitalistische Produktionsweise – verstanden als ein hierarchisch organisiertes gesellschaftliches Verhältnis – die die Frauen unterdrückt, weil sie die Reproduktionsarbeit abwertet, an die Frauen abtritt und ihnen ein Rollenbild des »schwachen Geschlechts« schneidert. Verstehen wir den Kapitalismus also als ein derartiges Herrschaftsverhältnis, bedeutet das im Konkreten, dass auch die ihm zugrundeliegenden menschlichen Beziehungen genauer berücksichtigt werden müssen und wir somit unseren Blick in der Analyse der Unterdrückung notgedrungen auch auf die alltägliche Wiederherstellung des Kapitalismus richten müssen. Sexismus ist notwendiger Bestandteil seiner Aufrechterhaltung. Den Kapitalismus zu analysieren um die Frauenunterdrückung zu verstehen, bedeutet also sowohl die Logiken seiner Herrschaft zu begreifen als auch die Unterdrückung als Produkt menschlicher Praxis zu enttarnen.
Strategisch folgere ich daraus, dass wir auch ein Verständnis von Klasse und Klassenherrschaft brauchen, bei dem die Klassencharakter der Gesellschaft nicht am Werktor aufhört wirkmächtig zu sein, sondern auch dort von Bedeutung ist, wo wir Kinder zum Kindergarten bringen. Ein solches Verständnis macht deutlich, dass es ein vielschichtiger Weg ist, bis sich der Mensch vom Subjekt an sich zum politischen Subjekt emanzipiert, und dass nicht vergessen werden darf, dass es sich, neben der abstrakten Analyse, im Konkreten immer um lebendige Individuen handelt.
Das Buch: Frigga Haug: »Der Im Gehen erkundete Weg – Marxismus-Feminismus«, Argument Verlag, 2015, 384 Seiten, 24 Euro
Foto: rosalux-stiftung
Schlagwörter: Buch, Bücher, Buchrezension, Feminismus, Frauen, Frauenbefreiung, Frauenbewegung, Frauenunterdrückung, Geschlecht, Geschlechterverhältnisse, Haug, Kapitalismus, Klassengesellschaft, Marxismus, Reproduktion, Rezension, Theorie