Millionen Menschen sind auf der Flucht. Bedingungslose Solidarität mit diesen Menschen in Not ist ein zentraler Grundsatz linker Politik. Aber sollten wir von Klassenkampf sprechen, wenn Menschen dieser Not entfliehen? Unsere drei Autoren geben unterschiedliche Antworten
»Migration muss vielseitig interpretiert werden«
Debattenbeitrag von Raul Zelik (Schriftsteller, Politikwissenschaftler und Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE)
Gegenfrage: Handelt es sich bei einem vom Gewerkschaftsapparat organisierten Tarifkonflikt, bei dem Kolleginnen und Kollegen von den eigenen Forderungen aus der Zeitung erfahren und Hauptamtliche ihnen Trillerpfeifen in die Hand drücken, um Klassenkampf? Oder vielleicht doch nur um eine ritualisierte Aushandlungsform, mit der der Kapitalismus die Binnennachfrage regelt? Wahrscheinlich würden die meisten von uns antworten, dass viele Tarifkonflikte leider tatsächlich sehr entpolitisiert sind, aber dass sie trotzdem die Kräftekonstellation zwischen den Klassen mitbestimmen und deshalb nicht einfach denunziert werden sollten.
Flucht und der italienische Neo-Marxismus
Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Zu den wichtigsten Erkenntnissen des italienischen Neo-Marxismus der 1960er Jahre zählte die Beobachtung, dass es Kampfformen gibt, die nicht von Organisationen getragen werden und auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind. So bestand der dynamischste Teil der italienischen Arbeiterbewegung der 1960er Jahre nicht aus der organisierten Facharbeiterschaft, sondern aus Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus dem italienischen Süden, die sich der Lohnarbeit und Fabrikdisziplin wild verweigerten. Der Operaismus war der Versuch, diese Rebellion zu beschreiben. Zum Beispiel die Sabotage: Aufgrund eines einzigen falsch abgelegten Schraubenschlüssels stand eine ganze Fertigungshalle still.
Fluch und Migration Teil der neoliberalen Maschine
Auf ähnliche Weise muss man heute wohl auch die Migration unterschiedlich zu interpretieren versuchen. Es stimmt, dass Migration in vieler Hinsicht eher Teil der globalen neoliberalen Maschine als eine Widerstandsform ist. Es sind die Agilsten und meistens auch nicht unbedingt die Bedürftigsten, die sich auf die gefährliche Reise machen. Auf dem Weg gibt es zwar auch Strukturen der Solidarität, aber letztlich sind Migrantinnen und Migranten Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, die irgendwie durchzukommen versuchen. Die Gewaltkriminalität, die die Mordlogik der Profitsteigerung auf die Spitze treibt, verdient Milliardenbeträge mit der Migration. Und schließlich stimmt auch, dass Migrantinnen und Migranten nicht die Gesellschaft verändern, sondern auf geregelte Weise an den Ausbeutungsverhältnissen teilhaben wollen.
Eine minimale Teilhabe am Reichtum
Und trotzdem ist eben auch wahr, dass es bei Migration letztlich um etwas Ähnliches geht wie bei einem Tarifkonflikt: nämlich um eine minimale Teilhabe am Reichtum und etwas geregeltere Ausbeutungsverhältnisse. Und wahr ist eben auch, dass Migration durchaus auch eigene Organisationsformen schafft. Es entstehen Netzwerke der Solidarität und kreative Kommunikationskanäle. Daraus nun abzuleiten, dass Geflüchtete ein revolutionäres Subjekt werden könnten, das ähnlich wie die süditalienische Arbeitsmigrantion der 1960er Jahre einen neuen Zyklus der Revolte einläutet, ist zwar auch wiederum völlig übertrieben. Dagegen spricht schon allein die Tatsache, dass die Geflüchteten – anders als am Fließband in den 1960er Jahren – keine gemeinsame Sprache sprechen und keinen kollektiven politischen Bezugsrahmen besitzen. Aber auch Menschen, die nicht vorhaben, ein revolutionäres Subjekt zu werden, haben das Recht auf Teilhabe. Wenn sie dieses Recht gemeinsam einfordern und durchsetzen, kämpfen sie. Und in diesem Sinn ist die Stürmung des Zauns von Ceuta oder Melilla durchaus Klassenkampf – vielleicht vergleichbar mit dem Ausbruch aus einem Armen- und Arbeitshaus im 18. Jahrhundert.
Solidarität ist unteilbar
Viel entscheidender als die Frage, wie wir etwas definieren, ist aber selbstverständlich, wie wir uns verhalten. Und hier kann es nur eine Antwort geben: Migration ist nicht in erster Linie ein bürgerliches Recht (nämlich das auf Freizügigkeit), sondern ein soziales – bei dem es um Teilhabe geht. Man kann nicht Leiharbeit und Hartz IV ablehnen und gleichzeitig die Grenzzäune von Ceuta und Melilla für normal halten. Solidarität ist unteilbar.
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