Er lebt als Jude in Berlin-Neukölln und kämpft gegen antimuslimische Vorurteile. In seinem Gastbeitrag zeigt Armin Langer, woran ihn die »Argumente« der Islamfeindinnen und -feinde erinnern: an antisemitische Hetze im 19. Jahrhundert
Immer wieder höre ich von allen Seiten, dass ich als Jude nicht in der Nähe einer Moschee, schon gar nicht in einem sogenannten Problemkiez leben könne. Zur »No-go-Area« wurde für mich der Berliner Stadtteil Neukölln erklärt, obwohl ich dort seit mehr als zwei Jahren gerne und gut wohne. Muslimas und Muslime, Migrantinnen und Migranten schaden meiner körperlichen Unversehrtheit, darf ich immer wieder in Internetforen lesen, in Fernsehbeiträgen hören.
Obwohl täglich über Antisemitismus berichtet wird, sind wir, Jüdinnen und Juden, nicht mehr die Hauptzielgruppe von Diskriminierung und Hass. Egal, wie allgegenwärtig Antisemitismus in Deutschland ist. In den meisten Bundesländern ist es nicht erlaubt, Tote den islamischen Ritualen gemäß zu beerdigen. Der Muezzin darf die Gläubigen nicht zum Freitagsgebet rufen. Muslimische Gemeinden sind vom Privileg der Kirchensteuer ausgeschlossen. Es gibt keine muslimische Vertretung in den Rundfunkräten. Und bisher haben wir noch nicht von alltäglichen Diskriminierungen gesprochen. Uns Jüdinnen und Juden kommen die Benachteiligungen, vor denen viele muslimische Deutsche stehen, bekannt vor. Einst mussten wir für Anerkennung kämpfen, einst waren viele, zeitweise alle gegen uns, einst war unser Leben in Europa gefährdet. Der Hass gegen uns wurde immer stärker, schließlich wurde unsere Vernichtung minutiös geplant.
NSU-Morde als Warnung
Wir stehen natürlich nicht vor einem »neuen« Holocaust: Zum Glück hat die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer aus der Geschichte gelernt. Trotzdem muss die Sorge der Muslime und Muslimas ernst genommen werden. Es waren schließlich Muslime, die vom »Nationalsozialistischen Untergrund« in Deutschland ermordet wurden, und die NSU-Morde haben uns gezeigt, dass bei türkischen und muslimischen Toten so genau nicht hingeschaut wird.
Denn – wenn ein Türke stirbt, dann hat’s doch einer aus der Sippe gemacht. Medien, Politik, Polizei und Geheimdienste gingen davon aus, dass da »Dönermörder« ihresgleichen töteten. Klar, Mohammed ist ja per se kriminell, ist halt so bei »denen«. Wer bei Google die Kombination »Muslime sind« eingibt, dem liefert die Suchmaschine folgende Vorschläge für »verwandte Suchanfragen«: 1. gefährlich, 2. intolerant 3. Abschaum 4. Dreck. In Blogs lese ich, dass »Muslime überall mit gleicher Wildheit agieren« oder dass »Muslime schon immer auf einer Mission gewesen sind«. Ich habe dann das Gefühl, dass ich das alles kenne, nur mit »Juden« an Stelle von »Muslimen«. Dieses Gefühl ist für mich verstörend. Und glauben Sie mir, dass niemand die Atmosphäre von damals besser nachvollziehen kann als wir Jüdinnen und Juden. Wir saugen diese Sensibilität mit der Muttermilch auf.
Jahrhundertelang waren wir fremd in Europa – wir haben es nur dann in die Schlagzeilen geschafft, als es um Ritualmorde, internationale jüdische Verschwörungen und »Judenbolschewismus« ging. Heute, wenn ich beim Frühstück das Radio einschalte, geht es um jüdische Traditionen und Ikonen. Über Juden und jüdische Kultur wird oft so lobend und freundlich gesprochen, dass es schon nervt.
Wenn es aber um den Islam und seine Anhängerinnen und Anhänger geht, handeln die Beiträge fast immer von Terroranschlägen (da kommt der IS einigen wie gerufen), Gewalt (die Salafisten aus Bonn oder die arabische Prügeltruppen in den Berliner Sommerbädern) oder Integrationsdefizite (Kopftuch). Wir bekommen das Bild einer gewalttätigen Religion geliefert.
Parallelen zum Antisemitismus
Ich übertreibe? Keineswegs: Um die vermeintliche Gewalttätigkeit des Islam zu beweisen, zitieren »Islamkritikerinnen« und »-kritiker« wie Björn Höcke, Thilo Sarrazin, Matthias Matussek oder Alice Schwarzer gerne kriegerische Koranverse.
Doch dabei geht es lediglich um die Stigmatisierung einer Minderheit: meiner muslimischen und »migrantischen« Nachbarn. Ich lasse mich aber nicht täuschen, weil ich dieselben Argumente schon einmal gehört habe: Als Antisemitismus.
Der deutsche Politiker Otto Böckel, der bei der Reichstagswahl 1887 für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain als erster unabhängiger Antisemit in den Reichstag gewählt wurde, sah, wie heute die Politikerinnen und Politiker der AfD, in den Migranten eine Gefahr. Nur waren damals diese Migranten jüdischen Glaubens, keine Muslime. Herr Böckel schrieb damals: »Die Juden haben sich besonders stark auch durch die Einwanderung vermehrt. Bekanntlich sitzen sie in großer Zahl in Polen, Litauen, Weiß- und Rotrußland, in Podolien und der Ukraine. Dort wohnt beinahe die Hälfte aller europäischen Juden. Hier befindet sich die große vagina judaeorum, aus welcher die übrigen Juden Europas Auffrischung und neuen Zuwachs erhalten. Stets in Bewegung, strömen diese polnischen Juden nach Rumänien, Österreich und Deutschland ein.« Der berühmte Spruch »Deutschland den Deutschen«, der heute in Agitation gegen Muslime und Geflüchtete verwendet wird, stammt übrigens von diesem professionellen Antisemiten.
Wie die AfD
In den 1880er Jahren nahm die Betonung kultureller und religiöser Differenzen zu: Parteien wurden gegründet, deren einziges Ziel es war, die »Juden« auf einer politischen Ebene zu bekämpfen. So wie heute die AfD, die ihre Stimmen großteils mit Agitation gegen Muslime und Geflüchtete gewinnt. Teile der intellektuellen Elite wurden davon auch angesteckt, so der Historiker Heinrich von Treitschke. Er schwadronierte: »Über unsere Ostgrenze (…) dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.« Genau wie die AfDler behauptete auch Treitschke, dass er im Namen des Volkes spreche, dessen Stimme sonst nicht gehört würde, und gab sich als Tabubrecher: »Täuschen wir uns nicht. (…) Bis in die Kreise höchster Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen müssen, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück.«
Moscheen im Brennpunkt
Wir Juden waren damals die Parasiten, jetzt sind es die türkisch- und arabischstämmigen Deutschen und die Geflüchtete aus Syrien. Seit dem Mittelalter wird der jüdische Broterwerb durch Geldverleih als Parasitentum eingeordnet. Juden durften nicht Bäcker, Schmiede, Richter oder Lehrer werden. Es gab Juden, die andere Berufe als Geldverleiher ausübten, und Christen, die als Banker an Geld kamen: Vorurteile kennen aber keine Logik, der Jude wurde zum Schmarotzer. Die Judenverfolgungen des 20. Jahrhunderts waren logische Folgen dieser Stigmatisierung: Wenn die Juden Schmarotzer sind, gehören sie ausgerottet.
Heute rufen bei den AfD-Kundgebungen und Demonstrationen die »besorgten« Bürgerinnen und Bürger vor den Flüchtlingsheimen »Schmarotzer raus!« und es ist stets von »Wirtschaftsflüchtlingen« die Rede. So wie vor 100 Jahren über Berlin als die »verjudete« Stadt gesprochen und gegen neu gebaute Synagogen protestiert wurde, wird heute über eine angebliche Islamisierung des Abendlandes schwadroniert. Gegen den Bau von Moscheen gehen Pegida und die AfD auf die Straßen. Die verjudete Bevölkerung bilde einen »Staat im Staate«, wie die Antisemiten vor hundert Jahren feststellten. Heute ist es eine »Parallelgesellschaft« von Muslimen, die »uns« bedrohe und die Rassisten auf den Plan bringt. Die jüdische Bevölkerung des deutschen Reichs stellte nie mehr als ein Prozent, die muslimische Bevölkerung ist mit unter fünf Prozent weiterhin eine kleine Minderheit. Dennoch brennen Flüchtlingsheime, dennoch spaziert Pegida in Dresden, dennoch kann die AfD mit bis zu 20 Prozent der Wählerstimmen bei der nächsten Bundestagswahl rechnen.
Damals Talmud, heute Koran
Um zu beweisen, dass die Juden qua Religion gewalttätig seien, zitierten die Antisemiten des 19. Jahrhunderts Passagen aus dem Talmud. Laut dem katholischen Theologieprofessor Konrad Martin sei der ganze Talmud ein Zeugnis des Hasses der Juden gegen die Nichtjuden, insbesondere gegen Christen. Martin bezog sich auf Sätze im Talmud, die er aus dem Kontext riss oder falsch übersetzte. Als der AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen bestritt, dass der Koran Basis einer friedlichen Religion sein könnte, setzte er nur die gute alte europäische Tradition des Aufbaus von Vorurteilen fort. Denken Sie nicht, dass sich Meuthen im Koran und in den Hadithen auskennen würde.
Antimuslimischer Rassismus
Die Antisemiten und Rassisten finden leider schnell auch Verbündete unter Juden und Muslimen. Dieser Hass auf die eigene Herkunftsgruppe ist nichts Neues, schon im Mittelalter gab es Juden, die nach ihrer Konversion zum Christentum den Inquisitoren bei den Judenverfolgungen halfen. Hamed Abdel-Samed spricht bei AfD-Veranstaltungen über mögliche Auswege aus der Verjudung Islamisierung des Abendlandes. Der Schriftsteller Akif Pirinçci, der auf seiner Facebookseite gern AfD-freundliche Beiträge postet, verglich bei einer Rede in Dresden sich und seine Mitstreiter mit KZ-Insassen. Sie dürften nicht mehr die Wahrheit aussprechen, dass Muslimen die »Ungläubigen mit ihrem Moslemsaft vollpumpen« würden und dass Deutschland zu einer »Moslemmüllhalde« geworden sei. Diese Menschen nützen nur den Rechtsradikalen, die währenddessen ihren Hass gegen Geflüchtete und Migranten ausleben.
Islamfeindliche Aktivistinnen und Aktivisten und Publizierende sind mir zu unkreativ. Sie benutzen dieselbe Sprache und ähnliche »Argumente« wie die Antisemiten des 19. Jahrhunderts, die es heute freilich auch noch gibt. So wie es damals nicht um eine »Kritik der jüdischen Religion« ging, geht es heute auch nicht um eine »Islamkritik«, sondern um antimuslimischen Rassismus. Wir sollen daran arbeiten, Deutschland in eine No-go-Area für Rassismus zu verwandeln.
Über den Autor:
Armin Langer ist Koordinator der Salaam-Shalom Initiative für jüdisch-muslimischen-Dialog und gegen Diskriminierung und antimuslimische Vorurteile. Er studiert jüdische Theologie an der Universität Potsdam.
Über diesen Artikel:
Dies ist eine erweiterte und aktualisierte Version von Armin Langers Artikel »Nie wieder, egal wen es trifft«, der in marx21 Nr. 1/2015 erschien.
Foto: Frank Essers
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Antisemitismus, Berlin, Inland, Islam, Juden, Judentum, Koran, Moschee, Muslime, Neukölln, Rassismus