Zu den Hauptursachen für die Massenflucht nach Europa gehören die Bürgerkriege in Syrien und im Irak. Doch die militärische Intervention der US-geführten Allianz ist keine Lösung, sondern Teil des Problems. Von Christine Buchholz und Frank Renken
Rund die Hälfte der Menschen, die in diesem Jahr nach West- und Nordeuropa fliehen, stammt aus Syrien. Das nutzen die Regierungen Frankreichs und Russlands aus, um nach den USA nun ihrerseits Truppen und Kampfflugzeuge zu schicken. Sie geben vor, dass die Beteiligung am Bombenkrieg gegen den »Islamischen Staat« (IS) helfen würde, die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Das ist ein vorgeschobenes Argument. Der IS ist eine Terrororganisation, vor der Menschen innerhalb Syriens fliehen. Er ist aber nicht die Hauptursache für die derzeitige Fluchtbewegung von Syrerinnen und Syrern nach Europa. Die Flucht auf der Route über die Türkei, Griechenland und den Balkan hat eingesetzt, nachdem der IS in Nordsyrien bereits zurückgedrängt wurde. Der IS kontrolliert keinen Grenzübergang zur Türkei mehr, seit die kurdischen Volksverteidigungseinheiten im Sommer Tall Abyad eroberten und weit nach Süden vorstoßen konnten.
Die unmittelbare Ursache für die Fluchtbewegung nach Europa über die Balkanroute ist die Hoffnungslosigkeit, die sich in den Flüchtlingslagern in Syrien und in seinen Nachbarländern breitgemacht hat. Es gibt mittlerweile rund 12 Millionen syrische Flüchtlinge, davon sitzen knapp 5 Millionen in den Anrainerstaaten fest. Ursprünglich hatten sie gehofft, bald nach Syrien zurückzukehren. Aber der sich hinziehende Krieg ohne Aussicht auf ein Ende treibt nun Hunderttausende weiter. Viele entschließen sich zur Fortsetzung der Flucht nach Europa, um ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Laut Kinderhilfswerk UNICEF wurden in Syrien etwa 9000 Schulen zerstört. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist völlig unterfinanziert. Von den gut acht Milliarden Dollar, die es für die Notversorgung der syrischen Flüchtlinge in Libanon, Jordanien, Türkei und Nordirak veranschlagt, standen im Sommer 2015 nicht einmal ein Drittel durch die so genannte internationale Gemeinschaft bereit. Würden die Milliarden, die das US-amerikanische Militär und andere in die Kriege im Mittleren Osten gesteckt haben, den Menschen über Einrichtungen wie das UNHCR zugutekommen, dann würde das viel Leid lindern.
Die großen Lager sind entstanden, nachdem die syrische Armee im Sommer 2012 dazu überging, verloren gegangene Städte und Gemeinden systematisch aus der Luft zu bombardieren. Dieses Bombardement hält bis heute an und ist für einen Großteil der rund 250.000 Toten verantwortlich. Hinzu kommt, dass das syrische Regime und seine Verbündeten Orte wie das Palästinenserlager Jarmuk über Monate aushungerten und austrockneten. Sobald es ihnen möglich war, flohen die Menschen aus diesen Orten, so dass in den umkämpften Gebieten viele Stadtteile zu Geisterstädten mutierten.
Der Bürgerkrieg kann nicht von Außen beendet werden
Ungeachtet der Intervention ausländischer Mächte in den Konflikt handelt es sich bei dem Krieg in Syrien um einen echten Bürgerkrieg, der nicht durch Großmächte am grünen Tisch über die Köpfe der Bevölkerung hinweg geregelt werden kann. Assads Regime hat Syrien in den Abgrund gerissen. Eine tragfähige Lösung ist nicht mit dem Regime denkbar. Eine von außen aufgezwungene Lösung, die das Regime stabilisiert, wird nur weiteren Widerstand hervorrufen, aber auch Terrorakte gegen diese äußeren Mächte. Seit einem Jahr kommen zu den Bomben des Regimes Assad auch US-geflogene Angriffe hinzu. Dieses Luftbombardement ist einzig dazu geeignet, die Fluchtbewegung zu verstärken, da mit jeder Bombe Menschen getötet und Infrastruktur zerstört wird.
Nach einem Angriff am 30. April 2015 auf das syrische Dorf Bir Mahli räumte das Pentagon offiziell ein, zwei Zivilisten getötet zu haben. Eine Menschenrechtsgruppe zählte 64 Opfer. Das ist einer der wenigen Fälle, die in der amerikanischen Fachpresse bekannt wurden. In den deutschen Medien wird noch nicht einmal die Frage nach möglichen zivilen Opfern gestellt. Die Vorstellung, dass Angriffe aus der Luft den Widerstand dschihadistischer Gruppen brechen könnten, wird nicht nur durch das einjährige Bombardement in Syrien und Irak widerlegt. Dagegen sprechen auch alle Erfahrungen des Kriegs in Afghanistan. Nach dem offiziellen Abzug der westlichen Kampftruppen sind die Taliban stärker denn je, ohne dass sich die soziale Lage für die Mehrheit der Menschen verbessert hätte, und ohne dass elementare demokratische Rechte garantiert wären.
Der IS stammt nicht aus Syrien, sondern aus dem benachbarten Irak. Er ist ein Produkt der US-Invasion von 2003. Die US-Besatzer und ihre britischen Verbündeten haben Gegner verschleppt und gefoltert. Sie haben im Irak ein politisches System entlang ethnisch-konfessioneller Linien etabliert. Die korrupte schiitische Elite um Ministerpräsident Maliki grenzte Sunniten systematisch aus und festigte ihre Herrschaft mit Methoden, die jenen des gestürzten Saddam-Regimes nicht nachstanden. In diesem Klima gelang es dem Vorläufer von IS, »Al-Qaida im Irak«, den Krieg gegen die Besatzer zu einem Krieg gegen alle Schiiten zu machen.
Die seit einem Jahr von den USA angeführte Kriegsallianz gegen den IS, an der sich auch Deutschland beteiligt, nährt diese Politik der Abschottung und des Hasses zwischen Sunniten und Schiiten. Sie stützt mit Luftbombardements das irakische Regime von Haidar al-Abadi, der sich nur durch den Einsatz schiitischer Milizen halten kann. Die Befreiung von Ortschaften vom IS endete in ethnischen Säuberungen durch diese schiitischen Milizen, in Enthauptungen sunnitischer Bauern, in Plünderungen und Niederbrennen. Die Fortsetzung des sogenannten Anti-Terror-Kriegs facht den Terror an und stärkt auf beiden Seiten jene Kräfte, die den blinden Hass gegen andere Glaubensrichtungen schüren.
Die Bundesregierung unterstützt die von den USA geführte Kriegskoalition. Sie hat tonnenweise Waffen an die korrupte kurdische Regionalregierung im Irak und deren bewaffnete Kräfte, die Peschmerga, geliefert. Nun spricht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von einer verstärkten Unterstützung der Zentralregierung in Bagdad selbst. Die Bundesregierung versucht in den Konflikten des Mittleren Osten sicherzustellen, dass Deutschland zugleich als Waffenexporteur profitiert, seine militärische Interventionsfähigkeit erweitert und durch diplomatische Initiativen führend tätig ist. Alle drei Bereiche stehen nicht in einem Widerspruch zueinander, sondern dienen dem Bestreben, im Windschatten der USA zu globaler Geltung zu gelangen.
Der syrische Diktator Assad stand in den Jahren 2011 und 2012 vor dem Sturz durch eine revolutionäre Massenbewegung. Die Repression des Regimes und die Intervention der Regionalmächte, allen voran der Golfstaaten und des Irans, haben die revolutionäre Bewegung abwürgen können.
Ungeachtet dessen gibt es immer noch Menschen und Aktionen in Syrien und Irak, die die herrschende Ordnung und den Hass zwischen den Glaubensgemeinschaften in Frage stellen. So kam es im Sommer 2015 im Irak ausgehend von Basra zu einer Massenbewegung, die alle größeren Orte in dem von der Zentralregierung kontrollierten Gebiet erfasste, auch Bagdad. Letztlich kann nur eine Wiederbelebung der demokratischen Massenbewegungen in der Region eine Perspektive für Frieden und soziale Gerechtigkeit bieten.
Foto: Patrick Feller
Schlagwörter: Baschar al-Assad, Irak, Krieg, USA