Im kriegszerrütteten Afghanistan arbeiten Aktivisten nach der Methode des »Theaters der Unterdrückten«. Unser Autor Phil Butland traf sie in Berlin und sprach mit ihnen über aufkeimenden Widerstand, eine Zusammenarbeit mit Yannis Varoufakis und die Rolle des Theaters im revolutionären Prozess.
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn ist hartnäckig. »Es kommt darauf an, Afghanistan durch afghanische Augen zu sehen«, sagt er, »nicht ausschließlich vom westlichen Standpunkt, auch wenn der progressiv ist. Wir brauchen einen dekolonisierten Blick.« Der deutsch-bolivianische Dramaturg ist mit seinen afghanischen Kollegen Nik Mohammed Sharif und Hadi Marifat in Berlin, um Ansprechpartner für ihre Afghan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) zu gewinnen.
AHRDO wurde im Jahr 2009 von Nik Mohammed Sharif, Hadi Marifat und fünf weiteren afghanischen Aktivistinnen und Aktivisten gegründet, darunter Sharif und Marifat. Joffre-Eichhorn unterstützt sie seitdem. Ihr Ziel ist es, die Methode des Theaters der Unterdrückten in Afghanistan zu etablieren.
Theater als Katalysator
Die Aktivisten verstehen Theater als eine »Probe für sozialpolitische Veränderung, gefolgt von Aktionen auf der Straße« und als »Katalysator, um die Regierung und die internationale Gemeinschaft unter Druck zu setzen – und um die Menschen zu würdigen, die alles verloren haben«.
Entwickelt wurde das Konzept des Theaters der Unterdrückten von dem Brasilianer Augusto Boal während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren. Es bot kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten und diente als Schule für den politischen Kampf. In der revolutionären Woge, die lateinamerikanische Länder wie Venezuela und Bolivien erfasste, spielte es eine Schlüsselrolle.
Boal orientierte sich an Brechts Methode des epischen Theaters. Alle Barrieren zwischen Schauspielern und Publikum sollten niedergerissen werden. Der Begründer sah das Theater als Probe für die Revolution, in der die Menschen lernen, politisch zu handeln.
Erfolge unter Beschuss
Auf die Frage nach den Möglichkeiten in Afghanistan erzählt Marifat, dass die Situation dort nicht so schwarz-weiß ist, wie sie in Europa dargestellt wird: »Es gab auch Erfolge in den vergangenen 15 Jahren. Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Frauen vor. Mindestens 25 Prozent der Abgeordneten müssen weiblich sein. Zurzeit sind es sogar 35 Prozent. Aber die Erfolge stehen unter Beschuss. Es gibt Übergriffe auf Aktivistinnen. Gerade haben die Taliban sieben Journalisten getötet und zehn schwer verletzt. Laut Reporter ohne Grenzen war das Jahr 2015 eins der blutigsten für Medienarbeiter in Afghanistan.«
Angriffe auf demokratische Rechte kommen sowohl von der Regierung, von den Taliban, und – in geringerem Maße – von der afghanischen Version des IS. »Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Regierung«, erzählt Sharif, »weil diese nichts für die Wirtschaft, die Sicherheit und gegen die Arbeitslosigkeit tut. Drei Millionen Jugendliche sind drogenabhängig.«
Rebellion der Jugend
Die alte Generation von Oppositionellen – von ehemaligen Mudschaheddin bis zu den Sozialdemokraten – hat sich immer um Unterstützung durch den Westen bemüht. Nun beobachten die Mitglieder von AHRDO aber bei der jüngeren Generation eine neue Politik, die einen fruchtbaren Boden für das Theater der Unterdrückten bietet. »Kabul Taxi«, eine sehr politische Facebook-Seite, gewann innerhalb kurzer Zeit 65.000 Fans. Vor fünf Jahren gründete sich die Bewegung »Afghanistan 1400«. Damit ist das nächste Jahrhundert im afghanischen Kalender gemeint. Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten wollen es zu ihrem Jahrhundert machen.
Vor Kurzem haben zudem eine Million Menschen in Kabul demonstriert. Nachdem die Taliban ein neunjähriges Mädchen und sieben seiner Familienmitglieder geköpft haben, organisierten verschiedene Jugendgruppen Demonstrationen im ganzen Land. Zweitausend Menschen stürmten den Präsidentenpalast. Marifat sieht Ähnlichkeiten mit den Bewegungen auf dem Maidan in der Ukraine und dem Tahrirplatz in Ägypten.
»Junge Afghaninnen und Afghanen, die eine ›westliche‹ Ausbildung – manche würden Indoktrination sagen – erhalten haben, beginnen, zu rebellieren«, berichtet Joffe-Eichhorn. »Sie lehnen die Taliban ab, aber sie fangen auch an, die widersprüchliche Gegenwart des Westens infrage zu stellen, viel stärker als die vorherige Generation einschließlich unserer Organisation. Ich sehe darin Potenzial für mehr Aktionen, vielleicht wie die Platzbesetzungen anderswo. Es ist das erste Mal, dass so etwas nach 40 Jahren Krieg und Besetzung geschieht. Viele junge Menschen übernehmen eine konservative Interpretation des Islams, aber andere bewegen sich nach links.«
Amnestie für Warlords
Im Jahr 2007 verabschiedeten die Warlords in der afghanischen Regierung ein Gesetz, das ihnen Amnestie für vergangene und zukünftige Verbrechen gewährt. Als Reaktion auf diese »Kultur der Straflosigkeit« fanden damals eine Reihe von Theaterworkshops und Aufführungen statt. Diese Projekte, die sich auch mit Themen wie Frauenrechten, Unterdrückung von Behinderten und Wirtschaft beschäftigten, zogen nicht nur politisch Aktive, sondern viele Ausgegrenzte und Unterdrückte an.
Im Jahr 2009 wurde dann AHRDO ins Leben gerufen und unterstützte zunächst Kriegswitwen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit. Joffre-Eichhorn erzählt: »Unsere Erfahrungen haben bestätigt, dass die Methode eine mächtige Waffe der Menschen am Rande der Gesellschaft ist, ihre Stimme zu Gehör zu bringen, sich selbst zu ermächtigen und politisch aktiv zu werden.«
Wichtig ist, wie es nach der Aufführung weitergeht: »Wir hören nicht mit einem netten Workshop auf, wo sich alle glücklich fühlen. Wir wollen dafür sorgen, dass der Druck auf die Behörden steigt. Wir haben schon erreicht, dass die Straße zum Hauptgefängnis jetzt nach Kriegsopfern benannt wird. Das ist symbolisch wichtig, weil früher alle Plätze nach Warlords benannt wurden.«
Politik und Ästhetik
Die Methode des Theaters der Unterdrückten an die sozialen Bedingungen anzupassen, ist für AHRDO ein ständiger Lernprozess – zum Beispiel beim Umgang mit Berührung in einer Gesellschaft, in der Körperkontakt schwierig ist. Hinzu kommen Einschränkungen wie der ständige Stromausfall. Viele der Aufführungen finden in Zelten und Gärten statt. Dabei entschädigt der politische Gewinn für die ästhetischen Einbußen.
Internationale Vernetzung ist den Aktivisten von AHRDO besonders wichtig, weil sie befürchten, dass angesichts der Auseinandersetzungen in Syrien, Libyen und Irak Afghanistan zum »vergessenen Krieg« wird. Gleichzeitig wollen sie die Idee des Theaters der Unterdrückten weiter verbreiten: »In Europa wird das Wort ›unterdrückt‹ nicht verwendet, weil man es mit kolonisierten Ländern verbindet. Aber dieser Zustand trifft auch hier auf Millionen von Männern und Frauen zu, die den Begriff aus Angst von Stigmatisierung meiden«, erklärt Joffre-Eichhorn.
Revolution und Theater
Die drei Aktivisten haben in Berlin die Auftaktveranstaltung des Democracy in Europe Movement (DiEM) von Yannis Varoufakis besucht. Mit ihm sprachen sie über Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Obwohl sie nicht davon überzeugt sind, dass die EU reformierbar ist, begrüßen sie jeden Versuch, den Status quo infrage zu stellen: »Die alte Theorie von Che Guevara – je mehr kleine Brände wir schaffen, desto größer die Leuchtfeuer.«
Die Gruppe plant, ein neues Stück über Drohnen und Selbstmordanschläge nach Europa zu bringen. »In letzter Zeit sind wir vor dem Wort ›Revolution‹ zurückgeschreckt und haben eher von ›Veränderung‹ oder ›Transformation‹ gesprochen«, erklärt Joffre-Eichhorn. »Ich halte es für sinnvoll, uns wieder auf den revolutionären Aspekt der Methode zu besinnen. Nicht nur im globalen Süden, auch im Norden, in den Zentren der Macht.«
Schlagwörter: Afghanen, Afghanistan, Ästhetik, Kabul, Kultur, Kunst, Theater, Varoufakis