Die Geschichte der Ukraine ist geprägt von Unterdrückung und imperialistischen Mächten, die das Land für ihre Zwecke missbrauchen. Isabel Ringrose und Yuri Prasad untersuchen die Wurzeln des aktuellen Konflikts
Die Ukraine und die in ihr lebenden ethnischen Gruppen wurden unter dem russischen Zarenreich jahrhundertelang unterdrückt. Ab 1720 ging der Staat dazu über, kleine Sprachgemeinschaften auszulöschen und die russische Sprache durchzusetzen. Im Gegensatz dazu setzten sich die Bolschewiki für die Zerschlagung des Reiches ein und unterstützten die Selbstbestimmung der unterdrückten Völker.
Doch die Umstände des Bürgerkriegs, der auf die Revolution von 1917 folgte, machten die Umsetzung ihrer Politik in der Praxis äußerst schwierig. Dies galt umso mehr, als sich brutale reaktionäre Kräfte in der Ukraine mit den eindringenden Imperialisten verbündeten, um die Revolution von 1917 zu stürzen. Innerhalb der Ukraine gab es tiefe Spaltungen.
Die Ostukraine war größtenteils industrialisiert und wurde von der Arbeiterklasse dominiert. Sie bestand aus pro-bolschewistischen, russischsprachigen Menschen. Der ländliche Westen bestand aus Bäuerinnen und Bauern und Schichten, die der Revolution misstrauisch gegenüberstanden.
Nach der Februarrevolution 1917 bildeten ukrainische Nationalisten aus der Mittelschicht die Rada-Regierung. Im Oktober weigerte sie sich, die bolschewistische Sowjetregierung anzuerkennen. Da die Bolschewiki sich nicht darauf verlassen konnten, dass das ukrainische Volk eine Arbeiterregierung bilden würde, griffen sie militärisch gegen die pro-imperialistische Rada ein. Die Rote Armee unter der Führung von Leo Trotzki – der in der Ukraine geboren worden war – übernahm im Januar 1918 die Kontrolle über die Hauptstadt Kiew und rief die Sowjetukraine aus.
Dies brachte einige wichtige ukrainische Rechte in den Bereichen Sprache und Bildung mit sich. Die Auseinandersetzungen darüber, ob die Ukraine eine eigene Republik oder ein Teil der Sowjetunion werden sollte, gingen weiter. Die Rada suchte in Deutschland nach Unterstützung. Der Vertrag von Brest-Litowsk vom März 1918 zwischen Russland und Deutschland beendete Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg.
Das bedeutete jedoch, dass große Teile der Ukraine unter deutsche Kontrolle gerieten. Nach der deutschen Niederlage im Krieg und dem massiven Widerstand gegen die Besatzung konnte die Rada die Kontrolle teilweise zurückerlangen. Dabei wurde sie von Polen und antibolschewistischen Gruppen unterstützt. Andere schlossen sich den Konterrevolutionären der Weißen Armee an. Doch auch in der Ukraine wuchs die Unterstützung für die Rote Armee, insbesondere unter der jüdischen Bevölkerung nach einer Welle von antisemitischen Pogromen.
Im Frühjahr 1919 übernahm die Rote Armee erneut die Macht in Kiew, und die Führer der Weißen Armee wurden vertrieben. Doch schon bald kam es erneut zum Krieg, als Polen 1921 sein Reich ausdehnte und sich große Teile der Ukraine einverleibte.
Stalin erfindet den Chauvinismus neu
Bereits 1918 argumentierte Joseph Stalin gegen Wladimir Lenin: »Die Losung der Selbstbestimmung ist überholt und sollte den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden«. Unter Stalins Konterrevolution mit der Gründung der UdSSR spielte die Ukraine die Rolle der »zweiten Sowjetrepublik« nach Russland.
Die UdSSR konzentrierte sich auf den Aufbau einer geeinten Nation mit militärischer und wirtschaftlicher Stärke als Teil des staatskapitalistischen Wettbewerbs gegen andere imperialistische Mächte. Als Teil dieses Prozesses führte sie einen Großteil der Repressionen wieder ein, die die Bolschewiki abgeschafft hatten. Die fortschrittlichen Maßnahmen zur Gewährung der Rechte von Minderheiten gab es Ende der 1920er Jahre nicht mehr. In einem Kommentar aus dem Exil schrieb Trotzki 1939: »Von dem früheren Vertrauen und der Sympathie der westukrainischen Massen für den Kreml ist keine Spur geblieben. Die Arbeiter- und Bauernmassen in der Westukraine, in der Bukowina, in der Karpato-Ukraine befinden sich in einem Zustand der Verwirrung. Wohin soll man sich wenden? Was soll man fordern?«
Trotzki beschrieb, wie dies die reaktionären Führer dazu veranlasste, »das ukrainische Volk an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen, als Gegenleistung für das Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit«. Die großen landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine wurden für die Versorgung der UdSSR übernommen. Die großen Kohle- und Eisenvorkommen ermöglichten die Entwicklung von Industriekomplexen im Donbass im Südosten der Ukraine.
Stalins Regime setzte auf eine schnelle Entwicklung in kurzer Zeit, um mit den westlichen Mächten konkurrieren zu können – auf Kosten von Menschenleben. Die Hungersnot und die Unterdrückung der Bauern in den Jahren 1932 und 1933 kosteten schätzungsweise 3,9 Millionen Menschen das Leben. Durch die Kollektivierung wurden die unabhängigen landwirtschaftlichen Betriebe durch staatlich geführte Kollektive ersetzt und die Bauern von ihrem Land vertrieben.
Widerstand führte zu Verhaftungen und Mord. Die Bauern durften kein Getreide erhalten, solange die Quoten nicht erfüllt waren, so dass ihnen der Hungertod drohte. Im Jahr 1932 wurde geschätzt, dass die landwirtschaftliche Produktivität der Ukraine um 60 Prozent hinter den Zielvorgaben zurückblieb.
Einem geheimen Bericht des sowjetischen Innenministeriums zufolge wurden zwischen 1940 und 1953 571.000 Menschen aus der Ukraine in andere Teile der UdSSR deportiert. Auch die Hungersnot der Nachkriegszeit forderte zwischen 1946 und 1947 Hunderttausende Menschenleben.
Der Zerfall der Sowjetunion und eine neue Welle der Krise
Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 war klar, dass die Sowjetunion in eine tiefe Krise geraten würde. Millionen von Menschen in der Ukraine hofften, dass sie in Zukunft die Freiheiten genießen würden, die sie mit dem Westen verbanden, und dass der Lebensstandard steigen würde. Mit dem nahenden Ende des Kalten Krieges wagten sie zu glauben, dass die Ukraine nicht mehr in einen möglichen Atomkrieg verwickelt sein würde.
1990 besetzten protestierende Studierende die Plätze der Stadt und forderten Demokratie. Als der Staat sie bedrohte, versammelten sich Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern. Die ukrainische Regierung sah sich gezwungen, vielen ihrer Forderungen nachzukommen und erklärte im August 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Das war ein tödlicher Schlag für die UdSSR.
Die Ukraine beherbergte innerhalb der UdSSR einen Großteil der landwirtschaftlichen Produktion, der Rüstungsindustrie und der Industrie insgesamt. Dennoch widersetzte sich der russische Präsident Boris Jelzin dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow und erkannte die Ukraine als unabhängige Nation an. Damit wollte er den Zusammenbruch des Ostblocks und den Rücktritt von Gorbatschow beschleunigen. Beides wurde erreicht.
In seiner Eile hatte Jelzin die Frage der Krim und der Zukunft der sowjetischen Schwarzmeerflotte beiseite geschoben. Doch die Kontrolle über das Meer war für die militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der herrschenden Klassen in beiden Ländern von entscheidender Bedeutung. Die ukrainische Führung versuchte, sich einige der Schiffe der Flotte für ihre neue Marine anzueignen. Doch die Offiziere waren mehrheitlich loyal gegenüber Russland.
Gleichzeitig wurden prorussische Separatistengruppen auf der Krim und in der wichtigen Hafenstadt Sewastopol aktiv und versuchten, Matrosen für sich zu gewinnen. Ein schnell ausgehandeltes Abkommen zwischen Russland und der Ukraine über die »gemeinsame Nutzung« der Flotte scheiterte schließlich. Der Konflikt und die Gefahr einer Eskalation waren allgegenwärtig.
Währenddessen wurde das Land von einer Wirtschaftskrise erfasst. Ab 1993 wurde die Ukraine von einer neoliberalen Schocktherapie überrollt. Der Lebensstandard sank drastisch. Die im Laufe des Lebens gesammelten Ersparnisse der Bevölkerung wurden vernichtet. Die Hoffnungen der Menschen, die 1990 auf die Straße gegangen waren, wurden durch eine neue Ära der Armut und des drohenden Bürgerkriegs zunichte gemacht. In diese Gemengelage verbreiteten opportunistische Politiker ethnischen Chauvinismus, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit von ihrem scheiternden System abzulenken. Der schreckliche Preis für diese Strategie sollte sich bald zeigen.
Neoliberalismus und Korruption
Die wirtschaftliche Zerstörung der Ukraine wurde durch den globalen Finanzcrash von 2008 beschleunigt – und das war der Kontext für die nächste Welle der Rebellion. Ende 2013 verfügte die Zentralbank nur noch über Devisenreserven für zwei Monate und stand kurz davor, ihre Kredite nicht mehr bedienen zu können.
Die ukrainischen Machthaber brauchten nun dringend Bargeld. Anstatt ein Abkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, entschied sich Präsident Janukowitsch in letzter Minute für ein Abkommen mit Russland durch die Hintertür. Der Präsident galt weithin als Handlanger Putins, der jedoch auch mit dem Westen liebäugelte. Nachdem er bereits einmal durch die »Orangene Revolution« von 2004 abgesetzt worden war, wurde er 2010 in einem von Betrug geprägten Verfahren »wiedergewählt«.
Janukowitschs Schritt löste die Maidan-Proteste aus, die ihren Namen von dem besetzten zentralen Platz in Kiew haben. Zunächst war die Bewegung relativ klein und bestand aus Studierenden, die eine Annäherung an die Europäische Union anstrebten. Sie brachten die Korruption in der Ukraine mit dem alten Stalinismus in Verbindung.
Die Proteste wurden weitaus größer und politisch vielfältiger, nachdem Janukowitsch eine brutale Niederschlagung unter Einsatz von Spezialtruppen, den so genannten Berkut, angeordnet hatte.
Viele derjenigen, die sich nun der Bewegung anschlossen, sprachen sich gegen Korruption und staatliche Gewalt aus, waren sich aber weniger im Klaren darüber, ob sich die Ukraine mit dem Westen oder Russland verbünden sollte. Pro-westliche Politiker:innen, die die Bewegung lenken wollten, wiesen schnell darauf hin, dass die Unterstützung für ein Abkommen mit dem Militärbündnis Nato und der Europäischen Union im Westen des Landes am größten ist.
Russischsprachige Menschen im Osten und Süden der Ukraine wurden als »Kolonisatoren« denunziert, die sich gegen die ukrainische Kultur verschworen hätten. In dieser Atmosphäre wuchsen rechtsextreme Gruppen schnell. Und genau wie seine Feinde nutzte auch Putin ethnische Zugehörigkeit und Nationalismus als Mittel zur Spaltung und Herrschaft. Er sprach davon, dass die Ukraine untrennbar zu Russland gehöre.
Die Maidan-Bewegung zwang Janukowitsch im Februar 2014 zur Flucht nach Russland. Weniger als eine Woche später besetzten Soldaten in Uniform und ohne Ausweis das Parlament der Krim und trennten diese von der Ukraine. Es folgte ein Unabhängigkeitsreferendum, das angeblich von 97 Prozent der Wähler:innen unterstützt wurde. Die Krim wurde von Putin annektiert. Im selben Frühjahr begannen von Russland unterstützte Separatist:innen in der ostukrainischen Donbass-Region, ihre Unabhängigkeit zu fordern, was zu einem Krieg führte, der bisher mindestens 14.000 Menschen das Leben kostete.
Die Entscheidung von Präsident Putin, die abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk anzuerkennen und russische Truppen zu entsenden, ist ein bewusster Versuch, den ukrainischen Staat zu schwächen und zu zerschlagen. Putin behauptet, die russischen Truppen stünden den Separatist:innen zur Seite, weil die Rechte der »ethnischen Russen« im Osten und Süden der Ukraine bedroht seien.
Aber das ist nicht der wahre Grund für die russische Intervention. Putin will ein Zeichen setzen, dass er sein großes Militär einsetzen wird, um die Kontrolle über das, was er als sein »nahes Ausland« bezeichnet, zu behalten. Russischsprachige Menschen in der Ukraine sind in der Tat staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Die Regierung in Kiew hat 2015 entschieden, dass Ukrainisch die einzige offizielle Sprache des Landes ist. Und sie hat Gesetze abgeschafft, die es Schulen in einigen Regionen erlaubten, Russisch als offizielle Zweitsprache zu verwenden.
Bis zu einem Viertel der Bevölkerung der Regionen Luhansk und Donezk, etwa 800.000 Menschen, soll die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Und zwei Drittel der Einwohner:innen bezeichnen Russisch als ihre »Muttersprache«.
Die Beschränkungen für die russische Sprache sind reaktionär, aber sie sind weit davon entfernt, eine humanitäre Katastrophe darzustellen. Viele Menschen in der gesamten Ukraine, darunter auch Präsident Volodymyr Zelensky, sprechen weiterhin beide Sprachen – während viele andere Ukrainer:innen auch Ungarisch, Rumänisch und Polnisch sprechen. Putins Ansatz impliziert, dass die Ukraine entlang sprachlicher und vermeintlich ethnischer Linien aufgeteilt werden sollte. Das dürfte den meisten Menschen in der Ukraine jedoch völlig absurd erscheinen.
So haben Umfragen des Berliner Zentrums für osteuropäische und internationale Studien im Jahr 2019 ergeben, dass nur etwa ein Drittel der Einwohner von Luhansk und Donezk eine Autonomie innerhalb der Ukraine oder Russlands anstreben. Etwa 20 Prozent gaben an, dass sie zu den Verhältnissen vor der Spaltung zurückkehren wollen. Die Ukraine ist mehr als die meisten anderen Länder durch die erzwungene Umsiedlung von Menschen entstanden.
Seit 2015 gehört die Ukraine zu den zehn Ländern mit den meisten Binnenvertriebenen: 1,8 Millionen Menschen wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Und mehr als eine Million Flüchtlinge wurden gezwungen, nach Russland zu fliehen. Die Fortführung des imperialistischen Prozesses der Aufteilung der Ukraine wird nur zu noch mehr Elend führen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei »Socialist Worker«.
Übersetzung: Martin Haller
Schlagwörter: Krieg, Ukraine