Zwei Männer durchqueren das Atlasgebirge, der eine wurde als Mörder verhaftet, der andere soll ihn bewachen. Vor dem Hintergrund des Algerienkriegs entfaltet sich ein existenzialistisches Drama: »Den Menschen so fern« läuft ab dem 9. Juli im Kino. Unser Autor Phil Butland hat ihn sich schon einmal angesehen.
In Albert Camus‘ Roman »Der Fremde« aus dem Jahr 1942 erschießt der französische Algerier Meursault einen namenlosen arabischen Algerier und wird dafür zum Tod verurteilt. Der Autor schildert das Innenleben von Meursault, ohne nach den gesellschaftlichen Umständen der Tat zu fragen. Die arabische Bevölkerung Algeriens bleibt eine Kulisse für Camus‘ existenzialistische Drama.
Das Werk zeigt die Widersprüche im politischen Denken des Philosophen und Schriftstellers. Einerseits war Camus Mitglied der Französischen KP und Genosse von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, andererseits stellte er sich gegen die nationale Befreiungsbewegung in seiner Heimat Algerien. Als Angehöriger der französischen Kolonialistenschicht fehlte ihm jegliche Empathie für die arabische Bevölkerung.
Im Jahr 1957 veröffentlichte Camus die Novelle »Der Gast«. Ihr fehlt die literarische Raffinesse von »Der Fremde«, doch scheinen dieselben Widersprüche auf. Die Geschichte handelt von einem französischen Volksschullehrer, Daru, und einem arabischen Algerier, der nur »der Araber« genannt wird. Camus interessiert sich wiederum allein für das moralische Dilemma des französischen Protagonisten. Der arabische wird als bloßer Auslöser des Problems behandelt, nicht als eigenständig denkender und handelnder Mensch.
David Oelhoffens neuer Film »Den Menschen so fern« basiert auf der Kurzgeschichte von Camus. Immerhin bekommt der arabische Protagonist in der Verfilmung den Namen Mohamed. Zudem ergänzt der Regisseur die Handlung um Darstellungen der damaligen politischen Situation.
Gemeinsam gegen den Faschismus
Man schreibt das Jahr 1954. Vor weniger als einem Jahrzehnt kämpften französische Kolonialisten und arabische Algerier gemeinsam in derselben Armee gegen den Faschismus. Jetzt strebt die algerische Unabhängigkeitsbewegung nach der Freiheit, für die sie auf dem europäischen Festland gekämpft haben. Die Kolonialmacht reagiert mit brutalen Repressionen auf den Aufstand. Im Film werden Kriegsverbrechen der französischen Armee gezeigt.
Der ehemalige französische Soldat Daru (Viggo Mortensen) ist nun Lehrer in einem abgelegenen algerischen Dorf. Er versucht, sich aus dem Konflikt herauszuhalten und stellt sich weder auf die Seite der Besatzer noch der Unterdrückten. In seine Schule gehen auch arabische Kinder und Daru pflegt als einer von wenigen Kolonialisten auch private Kontakte zur arabischen Bevölkerung. Im Laufe des Films stellt sich heraus, dass seine Familie aus Spanien stammt. Das macht ihn in der mehrheitlich französischen Besatzerschicht zum Außenseiter. Trotzdem genießt er natürlich viele Privilegien und der Ausbruch des Kriegs bringt sein beschauliches Leben durcheinander. Er ist in Algerien geboren hat keinen anderen Ort, an den er fliehen könnte. Er ist aber auch nicht bereit, sich seinen ehemaligen Kameraden aus der Armee im Kampf für die Unabhängigkeit anzuschließen.
Die Geschichte beginnt damit, dass Gendarmen mit dem Gefangenen Mohamed (Reda Kateb) bei Daru auftauchen. Sie befehlen dem Lehrer, Mohamed ins Gefängnis der nächsten Stadt zu bringen, wo ihm wegen Mords der Prozess gemacht werden soll. Sie selbst wurden zur Niederschlagung des Aufstands abkommandiert.
Orientalistischer Beigeschmack
Zunächst versucht Daru, sich zu weigern – allerdings nicht, weil er es prinzipiell ablehnt, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, sondern weil es sich lieber in seinem Klassenzimmer aus allem heraushalten möchte.
Doch Mohamed erzählt ihm, dass er statt ins Gefängnis nur zurück in sein Dorf gehen könnte. Seine Rückkehr würde die dort herrschende Stammesfehde weiter anheizen und hätte neues Blutvergießen zur Folge. Diese Erklärung hat für mich einen orientalistischen Beigeschmack. Obwohl der Film sich klar gegen die koloniale Besatzung positioniert, erweckt er stellenweise den Anschein, als sei die arabische Bevölkerung nicht fähig gewesen, sich selbst zu regieren.
Daru und Mohamed machen sich jedenfalls auf den Weg zum Gefängnis. Sie können niemandem, dem sie unterwegs begegnen, vertrauen, egal ob Araber oder französischer Siedler. Die Aufständischen – darunter ehemalige Mitglieder aus Darus alter Armeeeinheit – werden zwar positiv dargestellt und behandeln den Lehrer und seinen Gefangenen mit Respekt. Aber auch sie sagen deutlich, dass sie Daru ohne zu zögern umbringen würden, sollte er die Besatzungsarmee unterstützen.
Auf der falschen Seite der Geschichte
Am Ende stellt Daru es Mohamed frei, ins Gefängnis zu gehen oder sich in der Wüste zu verstecken. Er selbst dreht einfach um und kehrt in sein Dorf zurück, obwohl er dort nicht mehr unterrichten kann. Dies ist nicht die einzige Stelle im Film, in der die Protagonisten eine wichtige Entscheidung nicht bewusst treffen, sondern weil sie einfach keine Alternative sehen.
Daru ist ein anständiger Mensch und versucht, seinen Prinzipien treu zu bleiben. Aber mit seinem Wunsch, neutral zu bleiben, stellt er sich auf die falsche Seite der Geschichte. Der Politikwissenschaftler und Autor einer »Geschichte von unten« der USA, Howard Zinn, prägte das Schlagwort: »In einem fahrenden Zug kann man nicht neutral bleiben« – es gilt ganz besonders für liberale Angehörige einer Schicht von kolonialen Besatzern, egal ob in Algerien in den 1950er Jahren, in Südafrika in den Achtzigern oder in Israel heute.
»Den Menschen so fern« wirft viele Fragen auf und lässt sie richtigerweise offen. Leider gerät der Film dadurch inhaltlich etwas mager. Er besteht zum großen Teil aus der Unterhaltung zweier Männer, die durch eine karge Landschaft wandern. Die Entstehung der Unabhängigkeitsbewegung sorgt für komplexe Diskussionen, denen der Film allerdings nur wenig Platz einräumt.
Mortensen beeindruckt
Eine Szene gegen Ende ist mir besonders negativ aufgefallen. Angeblich als eine Art von Belohnung suchen die Protagonisten Prostituierte auf. Die Darstellung ist stimmungsvoll, Mortensen bringt den Schmerz und die Entfremdung seiner Figur glaubhaft zum Ausdruck. Dennoch werden die Frauen nur dazu benutzt, die Angst der Männer zu beleuchten.
Nichtsdestotrotz sind alle Schauspielerinnen und Schauspieler hervorragend. Besonders beeindruckend ist Mortensens sprachliche Leistung. »Den Menschen so fern«wurde auf Französisch gedreht, obwohl seine Muttersprachen Englisch, Spanisch und Dänisch sind. Dazu spricht er im Film auch noch arabisch.
Am ausdrucksvollsten ist er jedoch, wenn er stumm bleibt. Seine Körpersprache allein macht den Film sehenswert.
Den Menschen so fern, Regie: David Oelhoffen, Frankreich 2014, Kinostart: 9. Juli 2015
https://www.arsenalfilm.de/den-menschen-so-fern/index.htm
Schlagwörter: Algerien, Befreiungsbewegung, Filmkritik, KPF, Kultur, Unabhängigkeitsbewegung