Der amerikanische Marxist Hal Draper schrieb diesen Artikel anläßlich der Präsidentschaftswahl vor mehr als 50 Jahren. Der Text ist aktueller denn je. Er stellt die Schlüsselfrage: Wem sollen Linke bei Wahlen in den USA ihre Stimme geben?
Wenn das Große Wettrennen nächstes Jahr wieder losgeht, werden Liberale im ganzen Land wahrscheinlich auch diesmal vom »kalifornischem Syndrom« erfasst. Ich laufe wohl Gefahr, wie ein Kalifornier daher zu kommen, aber ich beziehe mich auf das politische Muster des jüngsten Wahlkampfs Brown gegen Reagan [1] in jenem Staat, dessen Bewohner das Merkmal mit den New Yorkern teilen, dass für sie alles, was daheim passiert, Das Ereignis schlechthin ist. Womit sie manchmal sogar Recht haben.
Jacke wie Hose oder Das kleinere Übel
1968 wird die Frage aufwerfen: Noch einmal für Lyndon Johnson [2] stimmen oder nicht? All jene schizophrenen Menschen in deinem Bekanntenkreis, dessen Herzen am Rechten Fleck liegen, d.h. etwas links von der Mitte, werden ihre Geschwüre platzen sehen, ihre Sitzungen beim Psychiater werden politisch und sie werden Nabelschau betreiben. Johnson oder Nixon? Johnson oder Romney [3] ? Johnson oder Reagan [4] ?Johnson oder …? Aber noch bevor diese Entscheidung ansteht, werden wir wahrscheinlich auch innerhalb der Demokratischen Partei das gleiche Schauspiel erleben: Johnson oder Kennedy-Fullbright [5] – oder deren Äquivalent. Gewöhnlich haben sich Radikale diesem klassischen Problem mithilfe von zwei ganz praktischen Spickzetteln angenähert, die beide ihre (begrenzte) Berechtigung haben. Der eine heißt »Jacke wie Hose« (Tweedledum-Tweedledee) und der andere heißt »Das kleinere Übel«. Keiner von beiden passt aber wirklich zu Dem Ereignis. Um das zu verstehen, lasst uns sie im Licht des Jahrs 1968 untersuchen.
Die Wahl ein Jacke-wie-Hose-Ereignis?
Das Rennen 1968 könnte sich in der Tat als ein Jacke-wie-Hose-Ereignis entpuppen. Beispielsweise, wenn Johnson gegen Gouverneur Romney antritt. Sogar Max Lerner [6] hätte seine Schwierigkeiten, auch nur den kleinsten Unterschied in der Politik dieser beiden Millionäre zu entdecken. Für wahr, ein Teil der liberalen Wählerschaft wird sicherlich Romney als das Kleinere Übel betrachten, weil bislang die Belege fehlen, dass er genau so ein übler Lügner ist wie der gegenwärtige Führer der Freien Welt. Aber im Großen und Ganzen sind diese beiden politisch nicht voneinander zu unterscheiden. Das ist eben das Charakteristikum des Jacke-wie-Hose-Musters. (Der soziologische Begriff dafür, den die professoralen Hexendoktore erfunden haben, lautet »Konsenspolitik«).
Im Gegensatz dazu bedeutet das Kleinere-Übel-Muster, dass es einen signifikanten politischen Unterschied zwischen den beiden Kandidaten gibt, Aber … Um dieses Aber zu erläutern, wenden wir uns – aus Gründen, die sich gleich zeigen werden – keinem Beispiel aus der Gegenwart, sondern dem Klassischen Beispiel.
Hitler und das kleinere Übel
Am Tag nach Reagans Wahl zum Gouverneur von Kalifornien murrte ein Bekannter von mir, ein Brown-Anhänger, ganz verstört und mit fiebrigen Blick: »Haben die noch nie was von Hitler gehört? Haben sie noch nie von Hitler gehört?« Wolle er damit sagen, Reagan sei Hitler? »Na ja«, sagte er, finster reinblickend, »schau dir doch an, wie Hitler anfing …« Es traf mich wie ein Blitz, was sich in seinem Kopf abzuspielen vermochte. »Ok, du hast von Hitler gehört«, sagte ich, »dann erzähle mir, wie wurde Hitler Kanzler von Deutschland?«
Mein Brown-Fan wirkte verunsichert. »Na ja, er hat irgendeine Wahl gewonnen, oder? Mit dem ganzen Terror und dem Reichstagsbrand oder so was.« »Das war aber nachdem er bereits Kanzler war. Wie ist er Kanzler geworden?«
Ihr braucht nicht nachzuschauen. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1932 stellten die Nazis Hitler als ihren Kandidaten auf und die wichtigsten bürgerlichen Parteien stellten Von Hindenburg auf, jenen Junker-General, der den rechten Flügel der Weimarer Republik vertrat, aber nicht den Faschismus. Die Sozialdemokraten, die eine Arbeitermassenbewegung anführten, hatten keine Zweifel, was praktische, realistische, nüchterne Politik bedeutete, und was »pure Fantasie« war. Also unterstützten sie Hindenburg als das ganz offensichtlich Kleinere Übel. Sie lehnten abschätzig den revolutionären Vorschlag, ihren eigenen unabhängigen Kandidaten gegen die beiden reaktionären Alternativen aufzustellen – wobei mit einer unabhängigen Kandidatur sogar die Aussicht bestand, die einfachen Anhänger der Kommunistischen Partei für sich zu gewinnen, während letztere ihre kriminelle Linie »Nach Hitler kommen wir« und »Sozialfaschisten sind der Hauptfeind« weiterverfolgten.
Das kleinere Übel führt zum größeren Übel
Also gewann das Kleinere Übel, Hindenburg, und Hitler verlor die Wahl. Woraufhin Präsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte und die Nazis mit der Machtergreifung begannen. Das Klassische Beispiel war, dass das Volk für das Kleinere Übel stimmte und beide bekam.
Nun, das Amerika von 1966 ist nicht das Deutschland von 1932, das steht fest, aber das Beispiel ist gerade deswegen besonders erhellend. Deutschland stand mit dem Rücken zur Wand, es erlebte eine unlösbare soziale Krise, der Einsatz war extrem hoch: Revolution oder Faschismus stand auf dem Spiel. Gerade deshalb ist das Jahr 1932 das klassische Beispiel für das Kleinere Übel, denn sogar wenn der Einsatz so hoch war, führte die Entscheidung, für das Kleinere Übel zu stimmen, in die Katastrophe. Heute, da der Einsatz nicht so hoch ist, macht die Politik des Kleineren Übels noch weniger Sinn.
Gibt es eine echte Wahl bei zwei kapitalistischen Politikern?
Du kennst all diese Leute, die 1964 für Lyndon Johnson gegen Goldwater stimmten, weil letzterer all diese Schlimmen Sachen in Vietnam vorhatte, wie den Jungel zu entlauben. Viele sind seitdem zu der Erkenntnis gelangt, dass der genagelte Stiefel den anderen Fuß bekleidete, und sie kasteien sich seitdem, wenn sie daran zurückdenken, dass der Mann, dem sie ihre Stimme gegeben haben, »tatsächlich Goldwaters Politik« umsetzte (Wobei wir Goldwater Unrecht tun, denn er hat zu keinem Zeitpunkt jene enorme Eskalation des Kriegs propagiert, die Johnson dann in die Tat umsetzte, und, wichtiger noch, wenn er es doch versucht hätte, wäre er auf weitaus größeren Widerstand gestoßen als der Mann, der mit seiner Rhetorik von der »Großartigen Gesellschaft« die Liberalen so leicht bezaubern konnte.). Wer war also das Kleinere Übel im Jahr 1964? Der Punkt ist: Das Unheilvolle steckt bereits in der Frage, nicht erst in der Antwort. In einer Situation, in der die Wahl nur zwischen zwei kapitalistischen Politikern besteht, steuert man bereits auf die Niederlage zu, wenn man die Eingeschränktheit dieser Entscheidung für gegeben annimmt.
Das Kleinere Übel ist nicht das gleiche wie das Größere Übel
Nun wenden wir uns einen Augenblick von diesem Muster des Kleineren Übels ab. Allerdings nicht ohne zunächst festzuhalten, dass es einen interessanten Unterschied zwischen dem klassischen Fall (Hitler und Hindenburg im Jahr 1932) und dem Fall Johnson-Goldwater gibt. Es gab tatsächlich einen signifikanten politischen Unterschied zwischen Hitler und dem General Hindenburg. Letzterer hätte niemals Deutschland faschisiert. Wenn er den Nazi ins Kanzleramt hievte, dann deswegen, weil er davon ausging, dass die Bürde der Regierungsverantwortung die großmäuligen Nazis domestizieren würde: die Last, ein ganzes Land zu verwalten, würde die »unverantwortlichen« Extremisten in zahme Politiker wie all die anderen verwandeln, die man auf diese Weise in den Griff bekommen hatte (aktuelles Beispiel wäre Hubert Humphrey. Aber Hindenburg selbst war kein Hitler, er war tatsächlich ein Kleineres Übel. Was uns dieser klassische Fall lehrt, ist nicht, dass das Kleinere Übel das gleiche ist wie das Größere Übel – das wäre in der Tat Unsinn und das ist auch nicht unsere Dissenz mit den Liberalen. Es geht vielmehr darum, dass man einen Sieg der rechtesten Kräfte nicht dadurch verhindert, dass man seine eigene unabhängige Stärke in die Waagschale des nächstgelegenen Elements auf der rechten Skala wirft.
Schreckensgespenst Republikanische Rechte
Genau dieses Muster charakterisiert die politische Landschaft in diesem Land schon seit zwei Jahrzehnten. Jedesmal wenn die liberale, arbeiterorientierte Linke ihre Unzufriedenheit mit dem Washingtoner Kurs durchblicken ließ, brauchten die Demokraten nur mit der Vogelscheuche der Republikanischen Rechten zu wedeln, und schon haben sie die Liberalen-Arbeiterfreunde (die Lib-Labs) eingesackt: »Die Faschisten kommen!«, riefen sie und wählten das Kleinere Übel.
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Demokraten gelernt, dass sie automatisch auf die Lib-Lab-Stimmen zählen können, und sie daher ihre ganzen Energien in die Besänftigung der weiter rechts stehenden Kräfte werfen können. Die Lib-Labs konnten gut damit leben, Humphrey seine liberalen Reden auf Banketts vortragen zu lassen, und zuvor schon mit dem Mythos Kennedy, der sie immer noch belustigte, als er als erster Führer auf diesem Planeten mit dem Finger auf den Druckknopf mit dem Nuklearkrieg drohte. Mit den Lib-Lab-Stimmen in der Tasche musste die politische Landschaft in diesem Land sich stets immer weiter nach rechts bewegen, bis sogar ein Lyndon Johnson als ein Kleineres Übel dastand. Das ist der Hauptgrund, warum, sogar dann, wenn es wirklich ein Kleineres Übel gibt, die Entscheidung dafür das Potenzial für einen wirklichen Kampf gegen die Rechten untergräbt.
Das Kleinere Übel Muster
Aber merkt euch dies: Als das Kleinere Übel mit dem Namen Johnson im Jahr 1964 gewählt wurde, rief er nicht das Größere Übel an die Macht, wie es Hindburg getan hatte. Er zeigte sich auch nicht so zahm und unentschlossen, dass bloß die Rechten davon profitieren konnten – auch so ein klassisches Muster. Solche Muster kennen wir zur Genüge, das historische Kleineres-Übel-Muster in all seiner Glorie.
Das Merkwürdige an Johnson war, dass sich das Kleinere Übel als das Größere Übel entpuppte, wenn nicht gar Schlimmeres. War es also doch nur das alte Jacke-wie-Hose-Muster? Will ich damit sagen, dass der scheinbare Unterschied zwischen Johnson und Goldwater (sogar im Rahmen kapitalistischer Politik) bloß eine Illusion war? Ist die Schlussfolgerung, dass alle kapitalistischen Politiker gleich sein müssen, und dass daher das Argument gegen die Stimmabgabe für das Kleinere Übel sich darauf reduziert, dass es gar kein Kleineres Übel gibt?
Ich glaube nicht, dass das die Antwort ist. Ich glaube, wir haben es mit einem dritten Muster zu tun, das weder eine Entscheidung für Tweedledee-Tweedledum noch für das Kleinere Übel involviert. Wenn schon das Wettrennen zwischen Johnson und Goldwater darauf hinweist, so liefert uns das jüngste Rennen zwischen Brown und Reagan ein noch besseres Beispiel. Denn Pat Brown ist wirklich ein Liberaler, man mag von Johnson halten was man will, und genau darin liegt die Krux.
Denn Pat Brown, dieser genuine Liberale, hat in seinen acht Jahren als Gouverneur von Kalifornien nicht wesentlich anders gehandelt, als ein konservativer Republikaner es getan hätte. Das entscheidende Wort ist gehandelt. Er hat das Wasserprogram an die großen landbesitzenden Monopole verscherbelt, wovor seine beiden Republikanischen Vorgänger noch zürückgeschreckt waren. Er hat sich mit Leib und Seele für das Bracero-System eingesetzt, wie kein Republikanischer Gouverneur eines Agrarstaates es gewagt hat.
Er war es (nicht Clark Kerr), der im Jahr 1964 eine Polizeiarmada auf die Studenten von Berkeley losließ. Er war es, der nach dem Aufstand von Watts die John J. McCone-Kommission einberief, um die ganze Angelegenheit unter den Teppich zu kehren, und dann das von den Rechten eingebrachte Anti-Aufstands-Gesetz unterstützte, um das Ghetto verängstigen. Es war Brown, der den liberalen California Democratic Council endgültig köpfte, indem er höchstpersönlich alle Hebel in Gang setzte, um dessen Präsidenten, Si Casady, zu entfernen. Wenn auch nur die Hälfte all dieser Maßnahmen von einem Reagan durchgeführt worden wäre, würden die Lib-Labs allerorts »Faschismus« rufen. (Wie sie es wahrscheinlich in den kommenden vier Jahren tun werden.)
Und ich wiederhole, ich glaube nicht, dass das alles nur passierte, weil Pat Brown ein Ebenbild Reagans war. Ich möchte eine etwas andere Erklärung beisteuern.
Rechtsentwicklung der Politik in den USA
Die kapitalistische Politik in diesem Land hat sich seit den Zeiten des New Deals stark verwandelt, und das betrifft auch die beiden historischen Flügel der kapitalistischen Politik, den Liberalismus und den Konservatismus. In den 1930er gab es einen ganz realen Unterschied in den Programmatiken, die dem Kapitalismus in Gestalt seines liberalen und seines konservativen Flügels zur Wahl standen. Die Liberalen des New Deals schlugen vor, den Kapitalismus aus ihrer tiefen Krise, aus der weit verbreiteten Verzweifelung, durch ein Verstaatlichungsprogramm zu retten, das heißt, durch verstärkte Staatsinterventionen, um die Wirtschaft von oben zu kontrollieren. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Roosevelt ausgerechnet für die mächtigsten Sektoren jener Klasse, die gerettet wurde, eine Hassfigur war – was natürlich damals die Illusionen in die »Roosevelt-Revolution« nährte. Roosevelt legte großen Wert auf die Feststellung, dass eine Wendung hin zu staatskapitalistischer Intervention notwendig sei, um den Kapitalismus selbst zu retten, womit er Recht hatte. Der New Deal gewann letztlich die Herzen nicht nur der Demokraten, sondern auch der Republikaner. Und nach Roosevelt mit seinem New Deal und danach Truman mit seinem Fair Deal setzten die leidenschaftlichen Vertreter des freien Unternehmertums unter dem Republikaner Eisenhower genau den gleichen sozialen Kurs fort, den Roosevelt eingeläutet hatte, und verschärften ihn sogar. (Das ist die Realität, die sich hinter der Birch’schen Anschuldigung versteckt, Eiseinhower sei ein »eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei«!)
In den dreieinhalb Jahrzehnten seit 1932, und vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, der diese Entwicklung nochmals beschleunigte, hat das kapitalistische System einen umfassenden Wandlungsprozess hin zum bürokratischen Staatsinterventionismus vollzogen. Die dahinter liegenden Triebkräfte sind nicht Gegenstand dieses Artikels, aber die Fakten sprechen für sich. Die Liberalen, die diese Transformation in Gang setzten, waren oft von der Illusion beflügelt, sie würden damit das System untergraben; aber jedes Kind kann mittlerweile klar erkennen, dass sie ganz ahnungslos handelten. Die Konservativen, die jeden Schritt dieser Transformation verurteilten und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten, in dieses neue Stadium geschleppt zu werden, litten unter der gleichen Illusion. Aber sogar Eisenhower, dem niemand jemals vorgeworfen hat, besonders geistreich zu sein, und der vor seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat genau die gleichen begeisterten Reden für das freie Unternehmertum hielt, wie Reagan seine bezahlte Werbung für General Electric zum Besten gab – sogar er wurde, einmal im höchsten Amt, gezwungen, nicht anders als ein New Deal-Demokrat zu handeln. Denn anders kann das System heute nicht funktionieren.
Früchte der Kleineres-Übel-Haltung
Unter dem Druck des bürokratisch-staatsinterventionistischen Kapitalismus nähern sich Liberalismus und Konservatismus. Das heißt nicht, dass sie identisch wären oder es werden. Es heißt nur, dass sie in wichtigen Fragen zunehmend gleich handeln, wenn es um die fundamentalen Bedürfnisses des Systems geht. Und genau so wie die Konservativen gezwungen sind, die staatlichen Komponenten des Systems beizubehalten und zu erweitern, so sehen sich die Liberalen zum Einsatz jener repressiven Maßnahmen gezwungen, die die Konservativen propagieren – ganz einfach, weil das System es erfordert. Genauso wie Truman sein Veto gegen das Taft-Hartly Gesetz einlegte, um es danach selbst gegen streikende Arbeiter anzuwenden. Hinzu kommt, dass die liberalen Politiker, gerade weil sie mit einem warnenden Finger auf die Rechten zeigen und sicher sein können, dass die Lib-Labs dabei mitmachen, gelingt es ihnen noch leichter, jene Maßnahmen durchzusetzen, für die die Konservativen eintreten. Wir brauchen gar nicht auf die Erklärung zu rekurieren, dass dieser bemitleidenswerte Hubert Humphrey bloß ein Heuchler ist. Nein, ich bin für meinen Teil ganz und gar überzeugt, dass er ein genauso aufrichtiger Liberaler ist wie das nächstbeste Lib-Lab-Spezimen. Es ist der Liberalismus, der unter die Lupe genommen werden muss, nicht Humphreys moralische Einstellung. Und der noch erbärmlichere Adlai Stevenson war nicht einfach nur ein Schuft, als er vor den Augen aller Welt dabei ertappt wurde, vor der UNO wie ein Weltmeister zu lügen.
Die Bedingungen des bürokratischen Kapitalismus
Daher haben wir es – neben den Jacke wie Hose und den Kleineren Übeln, deren politische Programme sich von denen der Größeren Übel tatsächlich unterscheiden – zunehmend mit einem dritten Phänomen zu tun: dem der Kleineren Übel, die, als Vollstrecker des Systems, dabei ertappt werden, in allen wichtigen Wendepunkte genau so und manchmal sogar noch drastischer zu handeln als die Größeren Übel. Sie sind das Produkt einer zunehmenden Konvergenz des Liberalismus und des Konservatismus unter Bedingungen des bürokratischen Kapitalismus. Es hat noch nie eine Zeit gegeben, in der die Politik des Kleineren Übels weniger Sinn machte als heute. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir auf das Jahr 1968 blicken.
Fußnoten:
[1] Edmund G. »Pat« Brown (Demokrat): Staatsanwalt Kaliforniens 1951-59, danach Gouverneur, 1959-67.
[2] Lyndon B. Johnson: Der Demokratische Vize-Präsident wurde nach der Ermordung von John F. Kennedy im Jahr 1963 als Präsident vereidigt. Im darauf folgenden Jahr gewann er haushoch die Präsidentschaftswahl gegen den Kandidaten der Republikaner, Barry Goldwater. Zur Zeit der Verfassung dieses Artikels plante Johnson, sich noch einmal aufzustellen, verkündete aber später, dass er nicht eine weitere Amtszeit anstreben würde, nachdem die Tet-Offensive des Vietcong die Unfähigkeit der USA, den Krieg zu gewinnen, offenbarte und Johnsons Zustimmungswerte in den Keller rutschten.
[3] George W. Romney: diente dreimal hintereinander als Gouverneur von Michigan, von 1962 bis 1968. Er war 1954-62 Vorstandschef der American Motors Corp. und bewarb sich 1968 für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner.
[4] Zu dieser Zeit war Ronald Reagan Republikanischer Gouverneur von Kalifornien. Er wurde 1980 Präsident und diente zwei Amtszeiten. Seine Präsidentschaft verkörpert den neuen Rechtstrend in der US-amerikanischen Politik – als Reaktion gegen die politischen und sozialen Bewegungen der 1960er und frühen 1970er Jahre. Wie der gegenwärtige Präsident machte auch er sich einen Namen für seine geistlosen Äußerungen wie: »Bäume belasten die Umwelt mehr als Automobile.«
[5] Hier wird Bezug genommen auf eine hypothetische Präsidentschaftskandidatur der Senatoren Robert F. Kennedy mit J. William Fulbright als Vize. Kennedy hatte als Generalstaatsanwalt unter der Regierung seines Bruders John F. Kennedy gedient, wurde dann im Jahr 1964 Senator. Er wurde am 5. Juni 1968 ermordet. Fulbright, Senator für Arkansas von 1942 bis 1974 und Vorsitzender dessen Auswärtigen Ausschusses ab 1959, hatte einst Bill Clinton als Praktikant angestellt. Anfänglich ein glühender Anhänger des Vietnamkriegs, wurde er später zu einem prominenten Gegner.
[6] Bekannter liberaler Leitartikler jener Zeit.
[7] Barry Goldwater war der Republikanische Präsidentschaftskandidat, der im Jahr 1964 gegen Johnson ins Rennen geschickt wurde. Er trat für den Einsatz von Atombomben ein, um Vietnam zu entlauben.
[8] Als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 1964 versprach Johnson, die amerikanische Intervention in Vietnam zurückzufahren. Nach seinem Wahlsieg tat er das Gegenteil und schickte weitere hunderttausende Truppen in den Krieg.
[9] Hubert Humphrey: Wurde im Jahr 1964 als Vize-Präsident, mit Johnson als Präsident, auf dem Demokratischen Ticket gewählt. Im Jahr 1968 war er deren glücklose Präsidentschaftskandidat.
[10] Das Bracero-Programm ist ein nach dem Zweiten Weltkrieg von der Regierung aufgelegte Program, dessen Ziel der Import von niedrig bezahlten mexikanischen Arbeitern und Arbeiterinnen war. Ihre Aufenthaltserlaubnisse erloschen mit Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse.
[11] Präsident der University of California zur Zeit der berühmten studentischen Kämpfe um Redefreiheit im Jahr 1964.
[12] (Originalanmerkung des Autors:) Siehe die Oktober 1966-Ausgabe des Magazins Ramparts. Sie enthält eine brilliante und sehr detaillierte Darstellung dieses Vorgangs und analysiert, wie das alles von einem Mann bewerkstelligt wurde, der tatsächlich ein Liberaler ist. Ramparts leistet dies anhand konkreter Fakten, während ich an dieser Stelle bloß verallgemeinere. * Die John Birch Society, gegründet im Jahr 1958, ist eine rabiat antikommunistische Organisation.
[13] Dabei lohnt es sich festzuhalten, dass obwohl der Trend zu Staatsintervention gegen Ende der 1970er Jahre zunehmend einem der »Globalisierung«, d.h. einer neoliberaleren kapitalistischen Politik, Platz machte, sich das gleiche politische Muster dennoch fortsetzte: Nicht nur die Republikaner Reagan und Bush, auch der Demokrat Clinton setzten diese neoliberalen Maßnahmen durch. Drapers Argument, dass der Liberalismus und der Konservatismus dazu tendieren, um bestimmte historische Belange der herrschenden Klasse übereinzustimmen, gilt daher heute noch.
[14] Taft-Hartley Act: Eine im Jahr 1947 eingeführte Gesetzgebung, die die gewerkschaftlichen Rechte stark einschränkte. Sie ermächtigte die Regierung, für 80 Tage alle Streiks zu verbieten, die in ihren Augen eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellten. Solidaritätsstreiks oder auch Boykotts (gegen ein Unternehmen, das in Geschäftsbeziehungen mit einem anderen Unternehmen steht, in dem die Gewerkschaft Fuß zu fassen versucht) waren verboten, Beteiligten an wilden Streiks wurden ihre Rechte aberkannt und die Zwangsmitgliedschaft in einer Gewerkschaft verboten.
[15] Adlai Stevenson: US-Diplomat, Demokrat, Gouverneur von Illinois 1949-53, Präsidentschaftskandidat für die Demokraten in den Jahren 1952 und 1956, US-Botschafter an der UNO 1961-65. Bekannt für seine Präsentation vor der UNO im Jahr 1962, in der er die Präsenz von russischen Atomraketen auf Kuba enthüllte. Seine Darstellung unterschlug allerdings wichtige Tatsachen, beispielsweis den CIA-Überfall auf Kuba (die Landung bewaffneter Truppen in der Schweinebucht im April 1961). Stevenson stritt hier jede Beteiligung der USA ab. Auch ließ er die Stationierung von amerikanischen, auf die Sowjetunion gerichtete Atomraketen in der Türkei unerwähnt.
Zum Text: Zuerst veröffentlicht in Independent Socialist, Jan-Feb 1967. Diese Fassung erschien in Michael Friedman (Hrsg.) The New Left of the Sixties, Berkeley 1972, S. 55-61. Nachgedruckt in International Socialist Review, Nr. 34, April-May 2004. (Die Fußnoten stammen aus dieser Fassung). Nachgedruckt ebenfalls in Socialist Worker (GB), Nr. 1913, 7. August 2004. © Center for Socialist History (CSH), Berkeley. Wir danken den Rechteinhabern für die Genehmigung, den Text auf deutsch herauszubringen. Danke ebenfalls an Einde O’Callaghan für die Einstellung ins Marxists’ Internet Archive. Übersetzung aus dem Englischen von David Paenson.
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